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Wie ein neues Buch an vergessene Schriftstellerinnen der 1970er erinnert

Wie ein neues Buch an vergessene Schriftstellerinnen der 1970er erinnert

Warum haben die meisten von uns in der Schule Max Frisch gelesen – aber kaum jemand Verena Stefan? Nadia Brügger und Valerie-Katharina Meyer haben sich in ihrem Buch "Widerstand und Übermut. Schweizer Schriftstellerinnen der 1970er-Jahre" auf eine feministische Spurensuche gemacht.

annabelle: Valerie-Katharina Meyer und Nadia Brügger, Sie haben ein Buch über Schweizer Schriftstellerinnen der 1970er-Jahre geschrieben. Warum gerade die 70er?
Valerie-Katharina Meyer: Nadia und ich haben parallel unsere Doktorarbeiten geschrieben und uns währenddessen oft ausgetauscht. Wir befassten uns beide mit Autorinnen der 60er- und 70er-Jahre. Eine Doktorarbeit ist eine sehr einsame Erfahrung. Danach hatten wir Lust auf ein gemeinsames Projekt.
Nadia Brügger: Die 70er waren ein Jahrzehnt des feministischen Aufbruchs: In zahlreichen Ländern, auch der Schweiz, schlossen sich Frauen zusammen, erkämpften sich grundlegende Rechte und brachten neue Themen in die Gesellschaft ein. Die Literatur spielte dabei eine wichtige Rolle: Verena Stefans epochaler Roman "Häutungen" von 1975 zum Beispiel kam direkt aus der Frauenbewegung. Er machte sie über Nacht berühmt. Die Literatur hat den feministischen Aufbruch also begleitet und mitbegründet. Nur kennt man viele dieser Werke heute kaum mehr – obwohl sie nach wie vor aktuell sind.

Inwiefern?
Nadia Brügger: Die Grundfragen, die die Autorinnen der 70er-Jahre zum ersten Mal gestellt haben, beschäftigen uns heute noch: beispielsweise die Frage nach der Verteilung von Fürsorgearbeit oder die Alltäglichkeit der patriarchalen Gewalt. Da sind wir nicht so viel weiter als damals. Ausserdem machten sich Frauen in den 70ern wie auch heute wieder auf die Suche nach Vorbildern, fragten sich: Welche Frauenrechtlerinnen und Autorinnen gab es vor uns, an die sich heute kaum noch jemand erinnert?

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"Es ist eine politische Frage, an wen wir uns erinnern"

Warum kennen wir diese Autorinnen heute nicht mehr?
Valerie-Katharina Meyer: Für verschiedene männliche Autoren – Robert Walser, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt – gibt es Stiftungen, die kümmern sich um das Archiv, aber auch um die Erinnerungskultur; es gibt Jahrestage, Neuauflagen ihrer Werke. Um die Autorinnen kümmert man sich in der Schweiz weniger. Darum sind viele Bücher von Autorinnen aus den 70er-Jahren heute vergriffen, das heisst, sie sind nicht mehr im Handel erhältlich. Und das bedeutet, dass die Gesellschaft nicht mehr mit diesen Autorinnen und ihren Texten in Berührung kommt.
Nadia Brügger: Es ist eine politische Frage, an wen wir uns erinnern. Viele Autorinnen in der Schweiz haben über unbequeme Themen geschrieben. Elisabeth Gerter zum Beispiel hat über soziale Ungleichheit geschrieben und war Mitglied der Kommunistischen Partei. Nach ihrem Debüt wollte kein Publikumsverlag mehr ihre Bücher veröffentlichen; sie wurde damit aus der Öffentlichkeit verdrängt. Erst in den 1970er-Jahren wurden ihre Werke neu "entdeckt".

Hatten es Schweizer Autorinnen schwerer als Autorinnen aus Österreich oder Deutschland?
Nadia Brügger: Schreibende Frauen aus der Schweiz stehen doppelt am Rand: Einerseits als Autorinnen, andererseits als Schweizer:innen im deutschsprachigen Raum. Dazu kommt, dass Schweizerinnen erst 1971 das Stimm- und Wahlrecht erhielten.

Welchen Einfluss hatte das fehlende Stimm- und Wahlrecht auf die damalige Situation von Autorinnen?
Nadia Brügger: Für Frauen war es nicht selbstverständlich, dass sie über die Literatur ihren politischen Überzeugungen oder Gedanken Ausdruck verliehen. Viele Frauen, die in den 70er-Jahren zu schreiben begannen, hatten sich zuvor nicht als Autorinnen gesehen. Das hat mit der patriarchalen Atmosphäre dieser Zeit zu tun: Die 70er-Jahre waren geprägt vom Bild des Autors als öffentlichem Intellektuellen, der auch zu staatspolitischen und gesellschaftlichen Themen befragt wird. In der Schweiz war diese Rolle durch Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt besetzt. Frauen dagegen hatten bis 1971 politisch überhaupt gar nichts zu sagen. Diese politische Lage und die durch sie verinnerlichten Glaubenssätze wirkten sich stark auch auf ihr Selbstbewusstsein aus.

Was müsste sich verändern, um das Werk früherer Autorinnen mehr zu würdigen?
Valerie-Katharina Meyer: Bücher von Autorinnen müssen in erster Linie über den Buchhandel zugänglich bleiben und über die Schulen, Unis und andere Orte, die sich mit Literatur befassen – Theater, Lesungen, Ausstellungen –, in die Gesellschaft getragen werden. Auch sollten wir vermehrt ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass viele relevante Themen ausserhalb der kurzen Aufmerksamkeitszyklen unserer Zeit liegen. Damit verbunden gibt es noch eine andere Ebene.

Welche?
Valerie-Katharina Meyer: Ich wünsche mir einen gesellschaftlich anderen Umgang mit Erinnerung: Dass wir uns die Zeit und den Raum zu nehmen, zurückzuschauen und so ein historisches Bewusstsein zu schaffen. Literatur ist ein gutes Beispiel, weil Bücher etwas Konkretes sind. Aber gesamtgesellschaftlich wäre es eine gute Idee, den Blick zurück ernst zu nehmen. Manchmal haben wir das Gefühl, heute wird alles neu erfunden; aber die Errungenschaften von heute stehen in gesellschaftlichen – und literarischen – Traditionslinien. Um nachhaltige Veränderung zu bewirken, ist es wichtig, dass wir uns dieser Traditionslinien bewusst sind, wissen, was Frauen vor uns für uns bewirkt haben.

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"Die Autorinnen fragten sich: Wie können wir die Lebenswelt, in der viele Frauen sich bewegen, erzählen?"

Was macht die Literatur der 70er-Jahre so besonders?
Valerie-Katharina Meyer: Die Autorinnen suchten nach neuen Formen, also neuen Arten des Erzählens. Gertrud Wilker zum Beispiel hat Einkaufslisten in ihre Texte eingebaut. Die Einkaufsliste ist ein Versuch, Formen aus dem Alltag vieler damaliger Frauen in die Literatur zu bringen und die Literatur somit wiederum zugänglich für viele Frauen zu machen: eine Wechselwirkung. Vielen Autorinnen damals war es ein Anliegen, sich schreibend zu fragen: Wie können wir die Lebenswelt, in der viele Frauen sich bewegen, erzählen? Wie finden wir Formen, damit diese Lebenswelt in Erzählungen sichtbar wird?
Nadia Brügger: Ich hatte zu Beginn Verena Stefans Buch "Häutungen" erwähnt, das dieses Jahr übrigens sein fünfzigstes Jubiläum feiert. Stefan schreibt darin aus der Perspektive einer jungen Frau über Begehren und Sexualität. Das hat einen Nerv getroffen: Noch Jahre später erhielt die Autorin Briefe, in denen Frauen ihr schrieben, wie der Text ihr Leben veränderte. Die feministische Literaturwissenschaft der 70er- und 80er-Jahre hat diese neuen Arten des Erzählens theoretisiert, sie sprach von radikaler Subjektivität und der écriture féminine, also einem spezifisch weiblichen Schreiben.

Frauen lesen heute gemäss einer Statistik des Bundes mehr Bücher als Männer, Zora del Buono gewann 2024 den Schweizer Buchpreis, Jennifer Khakshouri und Laura de Weck moderieren den SRF-Literaturclub, und wenn man in Buchhandlungen die Neuerscheinungen anschaut, hat man das Gefühl: Die Autorinnen sind überall. Stimmt dieser Eindruck, dass heute alles anders ist?
Nadia Brügger: Eine Studie der Uni Basel hat genau das untersucht. Die Sichtbarkeit von Frauen und marginalisierten Personen ist heute im Literaturbetrieb tatsächlich viel höher. Was man aber auch gesehen hat, ist, dass Frauen nicht unbedingt an den lukrativen Positionen zu finden sind. Es hat sich verändert, wer sichtbar ist, aber es hat sich nicht unbedingt verändert, wer an den Schalthebeln sitzt und Profit macht.

Wer soll Ihr Buch unbedingt lesen?
Valerie-Katharina Meyer: Wir fänden es toll, wenn wir das Buch an Schulen und andere Bildungsinstitutionen bringen könnten, zum Beispiel im Rahmen von Workshops. Wir wollen den Leserinnen vermitteln, dass so viele Autorinnen geschrieben haben, die es zu entdecken gibt – und von denen wir viel mitnehmen können

Nadia Brügger (*1991), promovierte Literaturwissenschaftlerin, forscht zu Literatur und Geschlecht und engagiert sich für feministische Anliegen. Sie arbeitet als Autorin und Literaturvermittlerin in Zürich.

Valerie-Katharina Meyer (*1988), promovierte Literaturwissenschaftlerin, forscht zu deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie schreibt ausserdem Lyrik, Essays und Prosa. Sie arbeitet als Autorin, Lektorin und Literaturvermittlerin in Basel.

"Widerstand und Übermut. Schweizer Schriftstellerinnen der 1970er-Jahre" (ca. 36 Fr.) erschien Anfang März im Hier und Jetzt Verlag. Die Vernissage findet am 13.3.2025 im Karl der Grosse in Zürich statt (Moderation: Salomé Meier). Die Buchpräsentation in Basel findet am 3.4.2025 im Literaturhaus Basel statt (Moderation: Katrin Eckert).

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Thomas Gull

Sehr spannendes Interview zu einem tollen Buch, das hoffentlich dazu beiträgt, die grossartigen Schweizer Schriftstellerinnen wieder mehr ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.