
Abtreiben oder nicht? Protokoll einer schwierigen Entscheidung
Unsere Autorin will ein Kind. Aber nicht jetzt. Dann wird sie schwanger. Soll sie abtreiben? Ein Gefühlsprotokoll.
- Von: Lea Dora Illmer
- Bild: Stocksy
Es ist Anfang Juli und ich sitze im Kirschbaum. Mit vollem Bauch und leerem Korb realisiere ich: Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich wohl in meinem Körper. So gross wie ein Kirschkern war die Zukunft, gegen die ich mich vor einem halben Jahr entschieden habe. Hätte ich einen anderen Entschluss gefasst, könnte ich jetzt längst nicht mehr auf Bäume klettern.
Im Winter vor diesem Sommer, kurz vor Weihnachten, schrieb ich einen Artikel über die dänische Autorin Tove Ditlevsen: Eine Liebeserklärung an sie und einen ihrer Texte. Im Rahmen eines Auftrags als Literaturredaktorin habe ich Toves autofiktionale Kurzgeschichte «Für dich summ ich ein Wiegenlied» aus einer Anthologie mit 101 Texten von 101 Autorinnen ausgewählt.
Es geht in dieser Kurzgeschichte um eine junge Frau, die kurz vor Heiligabend, am 22. Dezember, in Kopenhagen in einem Tram sitzt – auf dem Weg zu einer Abtreibung. Es sind die 1950er-Jahre. Der Schwangerschaftsabbruch ist in Dänemark verboten.
Die Protagonistin bringt ihre ambivalenten Gefühle radikal ehrlich zum Ausdruck: Sie ist erleichtert, dennoch trauert sie. Ditlevsens Wahrhaftigkeit berührte mich, kein anderer Text der Anthologie berührte mich so wie ihrer. Sie stellt fest: «Vielleicht haben schon viele Frauen erlebt, was ich jetzt erlebe, aber man spricht nicht darüber.»
Körperwissen
Heute weiss ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger war. Zog mich mein Körperwissen zu Ditlevsen?
Menschen neigen dazu, Dingen im Nachhinein einen Sinn zu geben. Rückblickend denke ich, hatte ich es zu diesem Zeitpunkt bereits geahnt. Etwas stimmte nicht mit mir. Spätestens, als die Tränen kamen. Ich heulte auf offener Strasse, auf Rolltreppen in Bahnhöfen, bei der Arbeit, auf dem Klo, auf dem Fahrrad im Wind, hinter den Gläsern meiner Sonnenbrille, in der Sauna, ja, vor allem in der Sauna. Noch nie zuvor habe ich in so kurzer Zeit so viel geweint.
Zwei Tage nach Heiligabend esse ich mit meinem Partner Fenchelwurstpasta und trinke Rotwein. Nach ein paar Gabeln mag ich nicht mehr. «Hast du immer noch diese Bauchschmerzen?», fragt er mich. Und dann aus dem Nichts: «Bist du schwanger?» Ich erstarre. «Deine Brüste sind so gross geworden», fügt er an. «Lass uns einen Test machen.»
«Jetzt?»
«Jetzt.»
Wir fahren zur Notfallapotheke. Ich frage mich, ob wir aussehen wie ein Paar, das Hoffnung hat.
Zurück zuhause ext mein Partner den Rotwein, beide Gläser. Ich pinkle über den Test und flüchte aus dem Bad. Ich sage, dass er als Erster nach dem Ergebnis gucken muss. Er guckt.
"Ich merke, wie in diesem Moment die denkbaren Zukünfte schwinden"
Darauf ist kein schwacher Streifen zu sehen, kein subtiler Strich. Sondern ein dunkler, fetter Balken. Die Eindeutigkeit springt uns ins Gesicht. Ich heule, mein Partner schweigt. Wir legen uns auf die Tatami-Matte in seinem Schlafzimmer. «Denkst du, es hilft, wenn wir laut denken?», fragt er irgendwann.
«Ich will jetzt kein Kind», flüstere ich.
«Ich will jetzt auch kein Kind», sagt er.
Ich merke, wie in diesem Moment die denkbaren Zukünfte schwinden. War es wirklich das, was ich sagen wollte: «Ich will jetzt kein Kind»? Wollte ich wirklich wissen, was er nicht will? Habe ich meine Aussage zu unbedacht getroffen? Es gibt keine zweite Chance für die erste Reaktion.
Jetzt würde ich rauchen, denke ich, wenn ich noch rauchen würde.
Ich fühle mich schuldig. Weil es mein Körper ist, der schwanger wurde. Der nicht das gemacht hat, was er machen sollte. Oder vielleicht genau das?
Wir verhüteten zunächst mit Kondomen. Und dann mit Kondomen und Diaphragma. Hormonelle Verhütungsmittel kommen für mich nicht mehr infrage, seit ich sie mit Anfang zwanzig ausprobiert habe: Meine Psyche litt und meine Libido schwand. Wir fühlten uns mit dem Diaphragma und Kondomen sicher. Vielleicht zu sicher.
So viel Scham
Die Scham, die mich in jenem Moment beschleicht, als ich den Balken auf dem Test sehe, sie bleibt. Ich schäme mich dafür, mit 32 ungewollt schwanger geworden zu sein. Ich schäme mich dafür, nicht ausreichend verhütet zu haben. Ich fühle mich dumm und naiv, und ich schäme mich dafür, mich so zu fühlen.
Ich schäme mich, weil die Menschen denken werden, dass ich nicht ausreichend verhütet habe, und dass ich dumm und naiv bin. Ich schäme mich, weil ich mich von aussen betrachte: «Du bist bisexuell, du lebst unkonventionell und du führst eine nichtmonogame Beziehung – kein Wunder, wirst du ungewollt schwanger! Selbst schuld!», höre ich die Leute sagen.
Eine ungewollte Schwangerschaft ist nichts, was mir passiert, dachte ich die letzten Jahre. Anderen vielleicht – aber mir doch nicht!
Meine Jugend war geprägt von der Panik, versehentlich und sofort schwanger zu werden. Der sogenannte Aufklärungsunterricht war einzig darauf ausgelegt, eine Schwangerschaft zu vermeiden.
Beinahe ein Wunder
Es fühlte sich beinahe wie ein Wunder an, nie schwanger geworden zu sein. Ein Wunder und zwei, drei Mal die Pille danach. Wie frei fühlte ich mich während einer kurzen Zeitspanne meines Erwachsenenlebens, als ich nur Sex mit Frauen hatte.
Über die Jahre hat sich die Angst in meinem Umfeld jedoch verschoben: hin zu der Sorge, womöglich ungewollt nicht schwanger zu werden. Es häufen sich die Geschichten von Menschen, die nicht schwanger werden, obwohl sie es wollen. Druck, Verzweif lung, Hormontherapien. Deswegen halte ich es beinahe für ein Wunder, jetzt schwanger zu sein. Kann man ein Wunder wirklich nicht wollen?
Ich google die Chancen eines falschpositiven Schwangerschaftstests. Sie sind gleich null. Einzige Ausnahme: Wenn jemand Krebs hat.
Wir stellen es uns zusammen vor
Am nächsten Morgen schreibe ich meiner engsten Freundin. Sie ist dreissig Minuten später bei mir. Wir gehen spazieren. «Ich schaffe es nicht mal, mir vorzustellen, das Kind zu behalten», sage ich. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, ich weine. «Wir setzen uns jetzt auf diese Bank», sagt meine Freundin, «und dann stellen wir es uns zusammen vor.»
Sie hatte bloss dreissig Minuten Zeit, sich Gedanken zu machen. Aber es liegt kein Zögern in ihrer Stimme, als sie sagt: «Ich bekomme das Kind mit dir. Der Zeitpunkt ist nicht perfekt, aber wir werden es lieben. Dein Partner kann sich auch anders dazu verhalten, als die Blutsbande es vorsieht. Wir können das Kind auch bekommen, ohne dass er Vater wird.»
Meine Wangen trocknen. Und doch: So einfach ist es nicht. «My Body, My Choice», schreit die feministische Bewegung seit den 1970er-Jahren. Das Recht auf Abtreibung wurde hart erkämpft. Und es ist hierzulande relativ jung: Die Fristenregelung trat erst 2002 in Kraft. Seither darf eine schwangere Person in den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft frei entscheiden, ob sie diese fortsetzen oder abbrechen möchte.
Keine unabhängige Entscheidung
Über den eigenen Körper entscheiden zu dürfen – selbstbestimmt und autonom –, war eine wichtige Forderung der Neuen Frauenbewegung der 1970er- und 80er-Jahre. Sie bringt jedoch eine gewisse Idealisierung mit sich: Die eher männlich geprägte Vorstellung eines unabhängigen, freien Subjekts.
So unabhängig nämlich, dass es alles und alle anderen ausblenden kann. Diese Vorstellung deckt sich nicht mit dem, was ich erlebe.
"'Es ist allein deine Entscheidung', scheint die ganze Welt mir zu sagen. Aber meine Entscheidung ist doch nicht unabhängig von anderen"
«Es ist allein deine Entscheidung», scheint die ganze Welt mir zu sagen. Aber meine Entscheidung ist doch nicht unabhängig von anderen. Sie ist doch nicht unabhängig von meinem Partner, mit dem ich erst ein halbes Jahr zusammen bin, der jetzt kein Kind will und dessen Leben ich vielleicht zerstören würde.
Sie ist doch nicht unabhängig von meiner Freundin, die das Kind zwar mit mir bekommen würde, aber den Zeitpunkt nicht perfekt findet.
Sie ist doch nicht unabhängig von meinem inneren Stimmenchor, der sagt: «Ein Kind? Du hast nicht mal ein Wohnzimmer! Geschweige denn eine Festanstellung oder eine Aussicht darauf! Du weisst nicht, was du willst im Leben! Deine Dusche ist in der Küche und das Klo auf dem Gang! Du schaffst es nicht einmal, für dich selbst zu kochen! Dein Alltag überfordert dich!»
Aber was ich habe, ist ein Kinderwunsch. Schon lange.
Eine zähe Woche
«Ein Kinderwunsch ist noch lange kein Grund, dieses Kind zu bekommen», sagt die Ärztin zu mir. Ich habe fast eine Woche gewartet auf diesen Termin. Bis dahin wusste ich noch nicht einmal, in welcher Schwangerschaftswoche ich mich befinde.
Natürlich sucht man sich nicht aus, wann man ungewollt schwanger wird, aber in der Zeit zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr rate ich besonders dringend davon ab.
Die erste offizielle Anlaufstelle in Basel-Stadt ist die Schwangerschaftsberatungsstelle der Frauenklinik des Universitätsspitals. Dort werde ich am Telefon gefragt, wann ich zuletzt meine Periode hatte. Ich weiss es nicht genau. Ich äussere aber meine Vermutung, dass meine letzte Periode bloss eine Zwischenblutung war.
«Sie müssen doch wissen, wann Ihre letzte Periode war», sagt die Person am Telefon hörbar genervt. Schliesslich bietet sie mir einen Termin an: in zwei Wochen. Viel zu lange für mich. Zwei Wochen, das sind in meinem Kopf gerade eher zwei Jahre.
Panisch rufe ich daraufhin sämtliche gynäkologischen Praxen an, die Schwangerschaftsabbrüche und -beratungen durchführen. Alle Praxen sind hoffnungslos ausgebucht. Einen Tag lang weiss ich nicht weiter.
Ironische Verzweiflung
Diese Verzweiflung fühlt sich ironisch an: Ich forsche als Philosophin und Geschlechterforscherin seit Jahren zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung und zum harten Kampf um das Recht auf Abtreibung. Aber hier und heute? Ich hätte niemals gedacht, dass es so schwierig ist, eine Untersuchung und ein Beratungsgespräch für einen Schwangerschaftsabbruch zu bekommen.
Am nächsten Tag ruft mich das Universitätsspital zurück. Man entschuldigt sich dafür, dass mir am Tag zuvor nicht besser geholfen wurde, und bietet mir einen Termin zur psychologischen Beratung an. Parallel bekomme ich von einer der ausgebuchten Praxen Bescheid, dass aufgrund von Krankheit am selben Tag ein Untersuchungstermin frei geworden sei.
Auch wenn es vorerst nur um einen Ultraschall und ein Beratungsgespräch geht, muss ich bereits 900 Franken in bar mitbringen. Das ist so viel, wie dort ein Schwangerschaftsabbruch kostet.
Ich erfahre von der Ärztin, dass die Kosten – im Falle eines Abbruchs – nach Abzug von Franchise und Selbstbehalt von der Grundversicherung übernommen würden. Trotzdem: Das Geld bar vorschiessen zu müssen, kann eine Hürde sein.
Endlich erfahre ich durch den Ultraschall, dass ich in der siebten Woche schwanger bin. Die Ärztin ist einfühlsam und nimmt sich Zeit. Das erste Gespräch ist bloss ein Gespräch. Sie will, dass auch ich mir Zeit lasse.
Was ist richtig?
Die nächste Woche vergeht zäh. Meine Brüste sind unterdessen doppelt so gross. Ich fühle mich unwohl, irgendwie vulgär. Ich laufe in Menschen und Türrahmen, ich weiss nicht mehr, bis wohin mein Körper reicht. Mein Nippelpiercing entzündet sich, weil die Brüste so prall sind.
Mein Partner ist die ganze Zeit über da, für mich und bei mir. Wir sprechen, wir lachen und wir weinen viel. Aber die Entscheidung kann er mir nicht abnehmen. Manchmal fühle ich mich einsam. Meine Entscheidung bedeutet auch meine Verantwortung. Und meine Schuld.
Wenn ich es bereue, ist es meine Schuld. Wenn ich meinem Partner für immer Vorwürfe mache, ebenfalls. Mein Partner sagt, das stimme nicht. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht unfair. Aber für mich fühlt es sich so an, als sei doch vorwiegend ich diejenige, die mit der Entscheidung und ihren Konsequenzen leben muss.
"Ich bin wütend, weil ich weiss, dass ich auf niemanden wütend sein kann"
Was ich fühle: Druck und Wut. Ich bin wütend auf mich, weil ich ambivalente Gefühle fühle. Ich habe Angst davor, vielleicht nie mehr schwanger zu werden. Und ich bin wütend darauf, als Frau Anfang dreissig diese Angst zu spüren – während mein Partner davon befreit ist.
Ich bin wütend, weil ich es ungerecht finde. Und ich bin wütend, weil ich weiss, dass ich auf niemanden wütend sein kann.
Was ich nicht fühle: was richtig ist. Was ich mir wünsche: Eindeutigkeit.
Aber eine Schwangerschaft ist immer mehrdeutig: Sie kann bleiben oder abgehen. Ich kann sie austragen oder beenden. Meine Lieblingsautorin Rebecca May Johnson beschreibt es ähnlich in einem Text über ihre Fehlgeburt, frei aus dem Englischen übersetzt: «Ich habe festgestellt, dass eine Schwangerschaft keine eindeutige Vorhersage für eine Geburt ist. Es kann zu einer Abtreibung kommen, einer Fehlgeburt, einer Totgeburt oder zu Komplikationen, und wenn ein Kind geboren wird, weiss man nicht, was abgesehen von der Notwendigkeit der Pflege noch auf einen zukommt.»
Klarheit gibt es nicht
Ich dachte immer, eine Abtreibung würde mir leichtfallen, da ich keine moralischen Skrupel habe. Aber ich habe nie miteinbezogen, wie ich mich in meinem Körper fühlen werde zu Beginn einer Schwangerschaft. In diesem Zustand eine solche Entscheidung zu treffen, ist in jeder Hinsicht überfordernd.
Ich habe eine Tendenz, aber ich bin mir nicht ansatzweise sicher. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass Klarheit eine Illusion ist. Und es ist die Entschlossenheit, die mir fehlt, die ich meinem Partner übelnehme: Wie kannst du dir bloss so sicher sein?
Heute weiss ich, dass auch er sich nicht immer sicher war. Aber es wirkte so auf mich.
Wenn ich diese Schwangerschaft wahrscheinlich nicht fortführe, darf ich dann Kaffee trinken? Alkohol? Sushi essen? Zum Glück sind diese Fragen bloss theoretisch, denn meine Speisekarte ist zusammengeschrumpft auf gedämpfte Rüebli mit Aromat. Die Spezialität meiner Grossmutter.
Ihre Rüebli waren weich, süsslich, keineswegs matschig. Meine eigenen sind noch nie an diese Rüebli rangekommen. Mein Partner macht mir Dreierlei-farbige-Rüebli-Kunstwerke wie Crèmeschnitten. Er stapelt symmetrisch Rüeblischeibe auf Rüeblischeibe, streut Schnittlauch darüber. Und Aromat.
Sprechen wir heute über Abtreibungen?
«Was sind das für Äpfel?», frage ich auf dem Markt. «Das sind Liebhaberäpfel», sagt der Marktmann. Glockenäpfel. Schöne Winteräpfel, eine alte Schweizer Sorte. Sie werden gepflückt und reifen nach, sodass sie jetzt rosa Bäckchen haben und vollkommen sind.
Ich kaufe ein Kilo. Und fühle mich wie ein Glockenapfel, rund und mit rosa Bäckchen. Nur vollkommen fühle ich mich nicht.
Eine Freundin schickt mir eine Folge von «Untenrum», dem Podcast der Schweizer Journalistin Naomi Gregoris. Darin geht es um einen Schwangerschaftsabbruch. Die Person erzählt ihre Geschichte, sie ist der meinen ähnlich.
Es tut gut, ihr zuzuhören. Doch irgendwann sagt sie: «Da wusste ich, ich kann immer noch jung Mutter werden. Ich bin ja erst 23.» Der Satz trifft mich unvorbereitet. Ich muss den Podcast sofort abstellen.
Die Rate der Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz ist im internationalen Vergleich niedrig. Im Jahr 2023 lag sie bei rund sieben Abbrüchen pro 1000 Frauen mit Wohnsitz in der Schweiz. Ich denke wieder an den Satz von Ditlevsen. Und an die Autorin Annie Ernaux, die schreibt: «Weder er noch ich hatten das Wort Abtreibung in den Mund genommen. Es war etwas, das keinen Platz in der Sprache hatte.»
Sprechen wir heute über Abtreibungen? Ja, vermehrt. Aber wieso verschweige ich bei der Arbeit, dass ich über eine Abtreibung nachdenke? Wieso halte ich meinen inneren Konflikt vor meiner Mutter geheim? Warum verschweige ich meine Not gegenüber meinen ältesten Freundinnen?
Warum fällt mir eine Abtreibung trotz Enttabuisierung so schwer? Vielleicht, weil ich nicht mehr so jung bin, dass ein Kind mein Leben zerstören würde. Weil ich eigentlich einen Kinderwunsch habe. Weil ich fürchte, dass meine Liebes- und Lebensweise verurteilt wird. Weil sie bleibt, die Scham.
Zwei Tabletten
Nachdem ich mich durch die Raunächte in das neue, frische Jahr hineingeheult habe, blute ich jetzt alles heraus. Ich habe mich in der ersten Januarwoche dazu entschieden, den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zu machen. Mein Partner fühlte im ersten Moment meiner Entscheidung nichts.
Erst langsam, erzählt er mir später, stellte sich eine Traurigkeit ein. Eine Traurigkeit darüber, dass die Entscheidung gefällt war. Dass es nun keine Möglichkeiten mehr gab. Die Unsicherheit, die er bis dahin gefühlt hatte, erübrigte sich – es gab keine Grundlage mehr für Unsicherheit.
Wie wenig ich über den eigentlichen Vorgang eines medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs wusste, wird mir jetzt klar. «Wie eine starke Periode», so hatte es die Ärztin mir gegenüber angekündigt. Doch wie wenig wahr diese Ansage sein sollte, verstehe ich jetzt. Es tut weh.
Endgültige Entscheidung
Das erste Medikament heisst Mifegyne und stoppt die Weiterentwicklung der Schwangerschaft. Ich nehme es in der Arztpraxis ein. Davor noch einmal die Frage der Ärztin: «Wie sicher sind Sie sich in Prozenten?» Ich sage 80:20 und denke 60:40. Ich weiss, was sie hören will.
Mein Partner wartet in einem anderen Raum. Wir müssen danach noch eine halbe Stunde in der Praxis bleiben, um sicherzugehen, dass nichts Unvorhergesehenes passiert. Wir realisieren: Jetzt ist die Entscheidung endgültig. Als wir nachhause laufen, schneit es.
Das zweite Medikament, Cytotec, nehme ich zwei Tage später zuhause ein. Die Tablette hat die Form eines dicken Sechsecks. Sie verursacht ein Zusammenziehen der Gebärmutter, wodurch der Fötus ausgestossen wird. Man sollte nicht allein sein an diesem Tag und «bei zu starken Blutungen den Notfall aufsuchen».
Meine beste Freundin ist bei mir. Ich merke lange nichts. Dann beginnen die Schmerzen.
Abortion Doulas
Sie sind stark. Im Klo sehe ich viel Blut, Gewebefetzen und irgendwann auch einen kleinen, weisslichen Klumpen, der wie ein Schwamm aussieht. «Das war die Plazenta», erklärt mir viel später Nadia Scherer. Sie hat jahrelang als Fachfrau Frauengesundheit in der Paradies-Praxis in Binningen, Baselland, gearbeitet.
Dort hat sie dutzende Schwangerschaftsabbrüche begleitet und nachbetreut. Sie hat den Betroffenen stets möglichst viel Wissen mitgegeben und angeboten, ein kleines Ritual durchzuführen, etwa die Plazenta im Garten zu vergraben. «In den USA gibt es Abortion Doulas», sagt Nadia.
Sie leisten Fürsorge – einerseits emotional, aber auch, indem sie bilden und aufklären. Nadia wünscht sich Abortion Doulas für die Schweiz. Und nicht nur das: «Wir brauchen Räume, um Betroffene aufzufangen – etwa eine Art Wochenbett nach einer Abtreibung.»
Denn eine Abtreibung dauert auch über den eigentlichen Abgang des Fötus hinaus an – in vielerlei Hinsicht: Die Blutungen bleiben bis zu zwei Wochen, auch wenn sie schwächer werden. Die Schwangerschaftshormone lösen sich nicht einfach auf, sondern bauen sich langsam ab. Ich fühle mich traurig, dumpf und antriebslos. Die Ärztin sagt, das sei normal. «Rechnen Sie damit, sich noch ein paar Wochen so zu fühlen.»
Das Danach
Ich habe mich gegen dieses Kind entschieden, also gewissermassen für mein bisheriges Leben. Und doch kann ich nicht daran anknüpfen. Was bleibt: die Wut. Darüber, dass ich nicht einfach zu einem Vorher zurückkann. Dass ich so sehr mein Körper bin. Dass ich jetzt Brüste habe, die hängen, aber kein Kind, wofür sich der Formverlust gelohnt hätte. Dass mein Körper jetzt weich ist und ich mich unwohl fühle in ihm, nicht mehr muskulös und widerstandsfähig wie vorher.
Dass ich seit der Abtreibung durch alles hindurchblute, was ich während der Menstruation trage (ich blute so stark, dass ich regelmässig aus Versehen zwei Tampons reinstopfe). Dass mein PMS sich verschlimmert hat (was – wie Nadia Scherer mir erklärt – psychosomatische Gründe haben kann).
"Was wäre, wenn? Was wäre gewesen? Wer wäre ich jetzt? Wer hätte ich sein können? Werde ich es bereuen?"
Und darüber, dass ich jeden Monat erneut Angst habe, schwanger zu werden. Weil ich mich wieder so hilf los und meinem Körper ausgeliefert fühle. So nah am damaligen Zustand der ungewollten Schwangerschaft, so durchlässig und (zer-)f liessend. Und es fliesst ja seither auch zu dieser Zeit des Monats besonders: das Blut, die Tränen, der Gedankenstrom.
Was wäre, wenn? Was wäre gewesen? Wer wäre ich jetzt? Wer hätte ich sein können? Werde ich es bereuen? Bereue ich es schon jetzt? Ich bin vorsichtig, auch im Sprechen darüber. «Ich bereue es nicht, aber …», habe ich einstudiert. Aber wie immer ist es für mich nicht so eindeutig.
Ich sehe auf Instagram, dass die Autorin Rebecca May Johnson nach ihrer Fehlgeburt eine Tochter bekommen hat: Ursula. Ich weiss, ich sollte mich freuen. Aber stattdessen fühle ich mich verraten. Und zwar von allen, die Kinder kriegen. Warum ist es bei ihnen so einfach? Warum ist bei ihnen so klar, dass eine Schwangerschaft, ein Kind, etwas Schönes ist?
Die Kinderfrage nicht stellen
Was ich gelernt habe durch meine Abtreibung: Frag Menschen nicht danach, ob sie Kinder wollen. Du weisst nicht, was sie erlebt haben. Darüber hinaus: Wenn dir eine Person erzählt, dass sie schwanger ist, reagiere vorsichtig. Eine Schwangerschaft ist immer mehrdeutig.
Als im März auf dem Blumenfeld die Tulpen blühen, erzähle ich meiner Mutter von der Abtreibung. Sie sagt: Wie schön, dass du schwanger werden kannst.
Im Mai trage ich während der Periode immer noch prophylaktisch Rot. Eine Freundin und ich schicken uns Fotos von vollgebluteten Kleidungsstücken hin und her. Ich beginne, mich leichter zu fühlen.
Im Juni warte ich, bis die Kirschen reif sind.
Im Juli spucke ich Kirschkerne.
Ein Ritual für das Nie-Geborene
Im August fahre ich allein ans Meer.
Die Abtreibung liegt jetzt sieben Monate zurück. Hätte ich mich damals für die Kirschkernzukunft entschieden, würde ich dieser Tage wahrscheinlich ein Kind bekommen. Stattdessen lebe ich mein wildes Meeresleben: Ich esse so viele Schalentiere, bis ich mich selbst wie eine Auster fühle. Ich trinke Schaumwein, wann immer ich Lust dazu habe. Ich springe in die Wellen, auch dort, wo es gefährlich ist.
Ich schlucke Meerwasser und Unmengen an Kaffee bis spät in die Nacht. Ich lese, ich schreibe, ich schlafe – allein. Ich fühle mich wieder wohnhaft in meinem Körper.
Ein bisschen Haut ist noch übrig am Bauch und an den Hüften, die verrät, dass ich kurz dicker und dann wieder dünner war. Wenn ich lache, wackelt sie. Die Muskeln sind zurück, auch wenn ich immer noch im Armdrücken verliere.
Ich lege Meerfenchel ein, ich mache ein kleines Ritual für das Nie-Geborene und die Nicht-Zukunft, aus den Kirschkernen ein Kissen. Und dann warte ich auf den Herbst.