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Campi Flegrei: Wie lebt es sich auf dem unberechenbaren Supervulkan bei Neapel?

Campi Flegrei: Wie lebt es sich auf dem unberechenbaren Supervulkan bei Neapel?

Die süditalienische Stadt Pozzuoli bei Neapel liegt auf dem einzigen Supervulkan Europas. Wie leben die Menschen mit einem Monster unter den Füssen? Die Reportage.

Unsere Teller wackeln zwei Sekunden lang auf dem Restauranttisch. Die Erde bebt! Wir schauen uns um, die anderen Gäste im Lokal in der Altstadt von Pozzuoli blicken nicht einmal auf. Am Vortag im Strassencafé auf der Piazza dasselbe: Als die Handys alle gleichzeitig klingeln – ein Übungsalarm der hiesigen Zivilschutzbehörde –, schrecken nur wir und die Tourist:innen hoch. Die Einheimischen unterhalten sich weiter, heben bloss die Stimme, um den Alarm der Handys zu übertönen.

Pozzuoli liegt in Süditalien, idyllisch am tiefblauen Mittelmeer, gleich oberhalb von Neapel. Aber unter den Häusern dieser Stadt und auf dem Land rundherum brodelt es; denn hier schlummert der einzige Supervulkan Europas. Gemeint ist nicht etwa der Vesuv, das braune, kegelförmige Wahrzeichen Neapels. Die weit grössere Gefahr – nicht nur für die Menschen vor Ort, sondern für ganz Europa – lauert wie ein schlafendes Monster unter Pozzuoli: die Phlegräischen Felder, auf Italienisch Campi Flegrei.

Der kesselförmige Krater dieses Vulkans, Caldera genannt, misst 15 Kilometer im Durchmesser und reicht bis ins Meer hinein. Anders als beim Vesuv könnte hier das Magma überall auf einem 200 Quadratkilometer grossen Gebiet ausbrechen – auf einer Fläche etwa so gross wie der Kanton Zug. Entsprechend hoch wäre seine Zerstörungskraft. Hundertausende Menschen könnten bei einem solchen Ausbruch sterben, die entstehende Aschewolke dazu führen, dass sich das globale Klima abkühlt, was unter anderem die Ernteerträge stark verringern und eine Hungersnot zur Folge haben könnte.

In der Nacht vom 13. März dieses Jahres suchte eines der bisher stärksten Beben der letzten vierzig Jahre die Region heim. Fassadenteile stürzten auf die Strasse, Häusermauern rissen, Zwischendecken stürzten ein. Diese Intensivierung der Erdbeben und auch die Häufung in den vergangenen Jahren könnten die Vorboten eines Vulkanausbruchs sein.

Wir waren im Oktober 2024 in Pozzuoli, nachdem dort im letzten Frühling und Sommer sehr oft die Erde gebebt hatte. Wir haben Fischer, Taxifahrer und Bewohner:innen in ihren Wohnungen und diverse Fachleute gefragt: Wie leben sie mit diesem schlafenden Monster unter ihren Füssen? Und wie wahrscheinlich ist ein baldiger Ausbruch?

Eine stinkende Mondlandschaft

Enrica Marotta steigt aus dem Auto und schiebt eine verrostetete Absperrung zur Seite. Sie ist Vulkanologin beim Nationalen Institut für Geologie und Vulkanologie (INGV). Eine nachdenkliche blonde Frau mit leiser Stimme. Sie begleitet uns in die Absperrzone der Solfatara, einem Teilgebiet der Phlegräischen Felder, wo besonders viele vulkanische Gase an die Oberfläche treten.

Die genaue Zusammensetzung der hier austretenden Gase ist einer der Parameter, die das INGV überwacht; zusammen mit Veränderungen in Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Erschütterungen, können sie Wissenschaftler:innen frühe Anzeichen für einen Vulkanausbruch geben.

Als wir aus dem Auto steigen, schlägt uns Schwefelgestank entgegen. Die Luft ist deutlich wärmer als in der restlichen Stadt. Vor uns liegt eine graue Mondlandschaft, die nach faulen Eiern riecht. In einer Vertiefung brodelt graubraunes Schlammwasser wie ein zäher Pfannkuchenteig. Weisse Dampfwolken steigen auf und wehen über die Ränder des Kraters.

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Auf dem abgesperrten Areal ist auch die Ruine eines ehemaligen Tennisclubs. In seinen Räumen wuchern vom Boden gelbgrüne Verkrustungen empor wie in einer Tropfsteinhöhle. Die Schwefelverbindungen in der Luft sind hier so konzentriert, dass sie sich innerhalb weniger Jahre als Kristalle an Wänden und Gestein ablagern.

«Kommt lieber wieder raus, diese Gase sollte man nicht lange einatmen», sagt einer der Wissenschaftler:innen des INGV, die uns begleiten. Bei den Messungen sind sie immer mindestens zu dritt, falls sich die Zusammensetzung der Gase plötzlich intensiviert und jemand von ihnen ohnmächtig werden sollte.

Dass diese Vorsicht nötig ist, hat ein tragisches Ereignis vor einigen Jahren bewiesen. Früher besichtigten noch Tourist:innen und Schulklassen die dampfenden Schlunde der Solfatara. 2017 geschah die Tragödie: Ein Kind fiel in ein nur zwei Meter tiefes Loch. An sich nicht lebensgefährlich, aber durch die angesammelten Gase im Loch wurde es sofort bewusstlos. Die Mutter sprang hinterher und wurde ebenfalls ohnmächtig. Der Vater stieg hinab und versuchte, beiden zu helfen. Alle drei erstickten binnen weniger Minuten. Das Gerichtsverfahren gegen die Besitzer des Areals läuft noch.

Der Meeresspiegel sinkt?

Welch starke Kräfte unter der Erdkruste brodeln, zeigt sich auch darin, dass sich der Boden der Campi Flegrei seit Jahrtausenden zyklisch anhebt und senkt – als atme ein unterirdisches Ungetüm ein und aus. Die unterirdische Magmakammer füllt sich oder heisse Gase sammeln sich an – dann kühlt das Magma ab oder die Gase entweichen und der Boden sinkt wieder.

Seit etwa 2005 steigt der Boden in der Caldera wieder. Allein in den letzten zehn Jahren wuchs Pozzuoli einen Meter in die Höhe. Die Folgen: Weltweit steigt der Meeresspiegel – hier wächst hingegen das Festland empor. Auch in den 1970er- und den 1980er-Jahren kam es zu solchen Erhebungen, die sich nach Erdbeben wieder senken. Aktuell liegt der Boden jedoch auf dem höchsten je gemessenen Stand.

Pozzuolis Fischer ziehen ihre Boote durch knietiefes Wasser ins offene Meer. Einer von ihnen, Mario Lucignani, 52 Jahre alt, wettergegerbtes Gesicht, sitzt in seinem Boot und flickt die Netze. Er kommt aus einer lokalen Fischerfamilie, fährt selbst schon seit seiner Jugend aufs Meer und kann sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu wohnen. Auf unsere Frage, wie er mit diesem unsicheren Leben auf einem Supervulkan umgehe, sagt er: «Wir Pozzuolani sorgen uns eher um unser tägliches Überleben und die Erdbeben. Der Vulkan war Jahrtausende lang ruhig, warum sollte er gerade jetzt ausbrechen?»

Dass der Supervulkan der Campi Flegrei irgendwann wieder explodiert, ist sicher. Die Frage ist nur: wann und wie stark? Eindeutig beantworten lässt sich das nicht, die Fachmeinungen dazu gehen auseinander. Denn: jeder Vulkan ist anders. Jeder ist ein komplexes System mit unzähligen Variablen. Die Daten der bisherigen weltweiten Vulkanausbrüche sind nicht universell genug, um aus den gemessenen Parametern eindeutige Vorhersagen zu treffen.

Studien des University College London und des INGV von 2023 zeigen beispielsweise: das Magma in der Caldera ist seit 2007 näher an die Oberfläche gerückt. Und die Steinschicht, die man sich als Deckel über der Magmakammer vorstellen kann, wird über die Jahrtausende mit jedem «Atemzug» brüchiger. Aber was das genau heisst, ob das die Vorboten eines Ausbruchs sind oder nur quasi das Tagesgeschäft eines Vulkans, darüber sind sich die Vulkanolog:innen nicht einig.

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"Heute leben allein in der sogenannten Roten Zone rund eine halbe Million Menschen"

Auch das Ausmass eines Ausbruchs der Phlegräischen Felder ist nicht absehbar. Gesteinsproben belegen: Eine Eruption vor 39'000 Jahren löste durch die Aschewolke, die in die Stratosphäre stieg, einen europaweiten vulkanischen Winter aus – eine der Ursachen für das Aussterben der Neandertaler. Der jüngste Ausbruch der Campi Flegrei hatte hingegen nur lokale, aber doch imposante Folgen: Im Jahr 1538 entstand durch die ausgetretene Lava der heutige Monte Nuovo, ein hundert Meter hoher Berg in Pozzuoli. Historische Aufzeichnungen sprechen von dreissig Toten und einem völlig zerstörten Fischerdorf.

Doch heute leben allein in der sogenannten Roten Zone, also dem zentralsten und damit im Falle eines Ausbruchs risikoreichsten Gebiet der Caldera, nicht mehr nur wenige Fischer, sondern rund eine halbe Million Menschen. Aber auch die insgesamt rund drei Millionen Einwohner:innen in und um Neapel wären bei einem Ausbruch einem hohen Risiko ausgesetzt.

Das Hauptquartier des INGV befindet sich in einem Achtzigerjahrebau in Neapel. Auf den Etagen sind manche Bereiche mit Papierzetteln statt mit Schildern gekennzeichnet. Am Ende eines langen Ganges mit pastellgrünen Türen und beigen Bodenplatten liegt das Büro von Direktor Mauro Di Vito. Auf dem Schreibtisch ein kleiner Souvenirvulkan; statt einer Rauchschwade steigt aus dem Krater ein rotes Corno, ein Glückshorn aus Plastik, das aussieht wie eine gebogene Chilischote. Im neapolitanischen Aberglauben schützt das Corno vor Unglück.

Di Vito, 64 Jahre alt, kleine, gemütliche Statur, ist ebenfalls Vulkanologe. Wie Enrica Marotta und die anderen Wissenschaftler:innen trägt er den offiziellen Pullover mit INGV-Logo, Kragen und Bündchen sind mit der italienischen Tricolore verziert.

Stolz führt er uns in den Kontrollsaal des Instituts. An jeder Wand sind mehrere Monitore, darüber steht jeweils der genaue Ort der Messungen. Hier laufen die Daten der Messgeräte aus ganz Italien zusammen, auch die aus der Solfatara. Auf die Frage, welche Konsequenzen ein Ausbruch der Campi Flegrei haben könnte, antwortet Di Vito: «Die Magmakammer ist nicht voll. Darum wäre es, wenn überhaupt, eine kleine Eruption, ähnlich wie die von 1538.» Also bei jenem Ausbruch, bei dem immerhin ein neuer Berg von hundert Metern Höhe entstanden ist. Während er spricht, lehnt er gelassen an einem Tisch, überkreuzt die Arme und schiebt seine Hände in die Achselhöhlen.

Zwei Mitarbeiter schauen auf die Monitore, der Kontrollsaal ist rund um die Uhr besetzt. Auf einem der Tische steht ein rotes Telefon – im Ernstfall der direkte Draht zur Zivilschutzbehörde, die dann eine Kommission aus Expert:innen und Minister:innen einberufen und die Evakuierung einleiten würde.

«Falls der Vulkan erwacht, wissen wir nicht, wo das Magma an die Oberfläche kommt. Deshalb haben wir überall Messgeräte, auch in dem Teil der Caldera, die im Golf von Neapel unter Wasser liegt.» Während Di Vito spricht, schiesst auf einem Monitor ein lilafarbener Strahl vor blauem Hintergrund empor – das Bild einer Wärmebildkamera auf der Insel Stromboli. Di Vito stoppt mitten im Satz, beugt sich zur Seite, um besser zu sehen. Dann grinst er und sagt: «Ha! Haben Sie das gesehen? Das war gerade ein richtig schöner kleiner Ausbruch!»

Er fährt fort. Es sei wichtig, die Bevölkerung mit Kommunikationskampagnen zu sensibilisieren und mit Evakuierungsübungen auf den Ernstfall vorzubereiten. «Ich bin ständig im Fernsehen, um aufzuklären. Mein kleines Enkelkind sagt schon: Schau Mama, das ist wieder Nonno am TV!» In den Schulen würden Comics verteilt, die über die Gefahr eines Vulkanausbruchs und das richtige Verhalten informieren.

Er zeigt uns ein Heft: Auf dem Cover bedroht eine haushohe Feuergestalt mit glühenden Augen eine Gruppe von Jugendlichen. Di Vito sagt abschliessend: «Wir überwachen die Phlegräischen Felder rund um die Uhr. Wir gehen davon aus, 72 Stunden Vorwarnung geben zu können.»

Fluchtwege, die nichts taugen

Eine Vorwarnung, damit die Menschen rechtzeitig ihr Zuhause verlassen. Doch kämen sie tatsächlich schnell genug aus der Gefahrenzone?

Architektin Anna Savarese bezweifelt es. Wir treffen sie bei einer der vielen Unterführungen unter der Bahnlinie, die Pozzuolis Wohnhäuser von der Strandpromenade trennt. Hier hindurch, in Richtung Meer, würden die Menschen fliehen, um zu den Sammelstellen des staatlichen Evakuierungsplans zu gelangen, wenn das Magma ausbricht. Seit Jahren warnt Savarese, dass die Fluchtwege der Stadt nichts taugen. Sie legt die flache Hand an die tiefe Decke der Unterführung. «Hier passt kein SUV durch, geschweige denn ein Krankenwagen.»

Während wir sprechen, stoppen zwei Autos vor der Unterführung. Ein Fahrer setzt fluchend zurück. Die abgewetzten Ränder der Zementwand zeigen bunte Autolackstreifen. Savarese nickt mit dem Kopf in Richtung der Autos. Dann fragt sie: «Was meinen Sie, was hier im Ernstfall los wäre, wenn tausende Menschen in Panik mit ihren Autos durch diese Unterführungen fliehen müssen?»

Es gibt in Pozzuoli mehrere dieser alten Unterführungen. Und auch die neuen Tunnel zur Schnellstrasse, die vor wenigen Jahren gebaut wurden, seien schlecht geplant. Bei starken Regenfällen liefen sie innerhalb weniger Stunden voll und wären nicht mehr befahrbar.

Der Vulkanologe Giuseppe Mastrolorenzo trifft uns in einem Stadtpark auf dem Monte Nuovo. Beim Gehen klimpert ein riesiger Schlüsselbund an seinem Hosenbund. Mit roter Mappe unterm Arm und in die Ferne schweifendem Blick wirkt Mastrolorenzo wie der zerstreute Professor aus einem Film. Auch er ist Wissenschaftler beim INGV, auch er hat wie Architektin Savarese Vorbehalte gegenüber dem staatlichen Evakuierungsplan.

Er zog erst kürzlich von Neapel nach Pozzuoli – in eine Wohnung mit direktem Blick auf die Solfatara. «Jeden Morgen prüfe ich mit dem Fernglas, ob sich die Rauchsäulen verändert haben.» Seine Nachbar:innen sagten zu ihm: «Wenn ein Vulkanologe herzieht, heisst das ja, dass wir hier sicher sind.» Dann antwortet Mastrolorenzo: «Ich wohne hier, weil ich schnell bin. Ein Koffer mit dem Nötigsten ist stets gepackt.»

Die drei Tage Vorwarnungszeit, von denen INGV-Direktor Di Vito sprach – die stellt Giuseppe Mastrolorenzo in Frage. Drei Tage sei lediglich die Zeit, die der Zivilschutz bräuchte, um die Evakuierung aller Menschen abzuwickeln. Errechnet wurde das von einer externen Beratungsfirma. Doch aus wissenschaftlicher Sicht könne man nicht sagen, ob der Vulkan in drei Tagen oder drei Stunden explodiert.

«Wissenschaftlich korrekt wäre nur die Aussage: Wir wissen nicht wann, nicht wo und nicht in welchem Ausmass.» Beim Ausbruch eines ähnlichen Supervulkans in Papua-Neuguinea 1994 etwa seien die Parameter erst zehn Stunden vorher kritisch geworden – und die vorausgehenden Beben seien nicht einmal besonders stark gewesen.

Evakuieren will die Zivilschutzbehörde die 500'000 Bewohner:innen der Roten Zone mit Bussen, die von verschiedenen Sammelstellen in Pozzuoli starten. Diese würden dann quer durch die Caldera fahren – also mitten durch das grösste Gefahrengebiet – nach Neapel an den Hauptbahnhof. Von dort sollen Hochgeschwindigkeitszüge die Evakuierten in Richtung Mailand bringen.

"Viele der Demonstrierenden tragen Kopfkissen mit sich, als Symbol für ihre schlaflosen Nächte"

Neapel ist bekannt für sein alltägliches Verkehrschaos. Es gehört zum wuseligen Charme dieser Stadt, dass rote Ampeln, Einbahnstrassen und separate Busspuren nicht immer beachtet werden. Wie sollen die Evakuierungsbusse durchkommen, wenn Panik ausbricht und die ganze Stadt auf der Flucht ist?

Bei der Evakuierungsübung im Oktober 2024 fragen wir eine Freiwillige vom Zivilschutz, was sie vom Evakuierungsplan hält. Sie schüttelt den Kopf und sagt: «Die meisten von uns sind ehrenamtliche Helfer:innen. Wir sind keine Soldatinnen und Soldaten. Falls der Vulkan ausbricht, will ich sehen, wer an seinen Posten fährt, statt sein Kind im Kindergarten zu holen und zu fliehen.» Also ein zum Scheitern verurteilter Evakuierungsplan?

Unsere wiederholten Interviewanfragen, um dessen mögliche Schwachstellen zu besprechen, lehnte Annamaria Criscuolo, Leiterin des Zivilschutzes der Stadt Pozzuoli, ab. Vor einem Jahr habe ein Schweizer Dokumentarfilm ihre Aussagen völlig aus dem Kontext gerissen wiedergegeben. Das habe eine grosse politische Unruhe losgetreten.

Der Film, der in Italien online nicht mehr abrufbar ist, zeigte mittels Computergrafik das Szenario einer grossen Eruption der Campi Flegrei und auch die Folgen. Bürgermeister und Hoteliers in Neapel und Umgebung gingen auf die Barrikaden. Die Gegend lebt von Tourismus und Tourist:innen kommen nicht, wenn sie befürchten, der Boden unter ihren Füssen sei nicht sicher.

«Wenn es ernst wird, kommen wir hier nicht weg»

Ein schlummerndes Monster unter den Füssen und ein Notfallplan, der höchstwahrscheinlich nicht funktioniert: Wie gehen die Menschen in der Gefahrenzone damit um?

Am Rande der Solfatara wohnt Familie Vitale in einer grossen Wohnung mit Blick auf den Golf von Neapel. Andrea Vitale, 68, ist pensionierter Grundschullehrer. Er hat viele soziale Projekte für Jugendliche betreut. An der Wand seines Arbeitszimmers hängt ein gerahmtes Porträt von Karl Marx.

Seit einem Erdbeben im Mai 2024 hat die Wohnung der Vitales einen langen senkrechten Riss in der Wohnzimmerwand, aber da das Gebäude in den 1980er Jahren erdbebensicher gebaut worden ist, machen sie sich keine Sorgen, fühlen sich sicher. Vertrauen in das staatliche Management des Risikogebiets jedoch haben sie weniger.

Am Tag bevor wir sie besuchen, haben Andrea Vitale und seine Frau Elisa Baiano beim Abendessen mit Freund:innen kollektiv beschlossen: Sie werden nicht zur Evakuierungsübung am nächsten Tag gehen. «Das können wir uns sparen.» Bei einem stärkeren Beben im Mai 2024 sei innerhalb von zehn Minuten ein solcher Stau auf den Strassen gewesen, dass sie nicht mehr vom Fleck gekommen seien.

«Wenn es ernst wird, kommen wir hier nicht weg», sagt Elisa Baiano. Sie sagt es wie eine Tatsache. Beängstigt wirkt sie dabei nicht. Auf die Frage, wie sie mit der permanent lauernden Gefahr umgeht, sagt sie lächelnd: «Ich habe mit den Enkelkindern so viel zu tun, ich komme gar nicht dazu, Angst zu haben.»

Ihr Sohn, Giovanni Vitale, ist 38, wir sprechen mit ihm in der Wohnung seiner Eltern. Er hat eine Ausbildung zum touristischen Vulkan-Guide gemacht. Früher führte er Tourist:innen durch die Mondlandschaft der Solfatara. Beim Unfall 2017, bei dem Mutter, Vater und Kind umkamen, war er der Erste vor Ort. Da das Gerichtsverfahren noch läuft, möchte er keine Details veröffentlicht sehen. «Es ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Ich denke noch heute jeden Tag an diesen Moment.»

Wir fragen auch ihn, ob er Angst vor dem Vulkan hat, warum er als junger Mensch nicht woanders neu anfängt. «Die Wurzeln sind stärker als die Angst. Mein Leben, meine Familie, meine Freunde sind hier.» Dann tritt er auf die Terrasse und präsentiert mit offenen Armen die Bucht von Neapel. Das Meer glitzert, es riecht nach Salzwasser, eine Brise weht durch die üppigen subtropischen Pflanzen. «Wie kann man hier wegziehen?»

«Ich habe keine Angst»

In einem dunklen Raum hat Claudio Correale Dokumente und Fotos ausgebreitet: das Foto einer Frau, die beim Erdbeben von 1983 mit einer Matratze durch die flüchtenden Bewohner:innen in den Strassen von Pozzuoli rennt. Damals wurden zahlreiche Menschen evakuiert. Auch Claudio Correale war unter ihnen, er war ein junger Mann. Hier liegt auch der Ausweis, den man ihm und vielen anderen damals als Vertriebene ausgestellt hatte, weil sie durch die starken Erdbeben von 1983 aus ihren Häusern in der Altstadt von Pozzuoli fliehen mussten und obdachlos wurden.

Correale ist Vorsitzender des Vereins Lux in Fabula, der ein Fotoarchiv der Campi Flegrei pflegt und kulturelle Angebote für die Bewohner:innen von Pozzuoli organisiert. Etwa Bastelrunden für Kinder: Correale zeigt uns lächelnd eine Kreation aus Pappe. Wenn man schnell an den daran befestigten Schnüren zieht, spuckt der aufgemalte Vulkan – wie bei einem Daumenkino – immer wieder eine orange Feuerwolke aus. Correale wohnt heute in Neapel. Er sagt: «Ich habe keine Angst. Wir wissen alle, dass wir auf einem Vulkan leben. Aber warum sollte er gerade jetzt ausbrechen?»

Als wir eine Gruppe Jugendlicher auf der Strasse die Comichefte mit dem Feuermonster zeigen, die der Zivilschutz in den Schulen verteilt, sagen sie: «Nie gesehen.» Ob sie am Tag drauf zur Evakuierungsübung gehen? «Heute ist Freitag, da gehen wir tanzen! Und morgen schlafen wir aus.» Später im Taxi hören wir von unserem Fahrer Gennaro nochmal den Satz, der das Mantra der Pozzuolani zu sein scheint: «Ich habe keine Angst. Der Vulkan war Jahrtausende ruhig. Warum sollte er gerade jetzt ausbrechen?»

Im März 2025, fünf Monate und mehrere Erdbeben nach unserem Besuch, skandieren Demonstrant:innen auf Pozzuolis Strassen rhythmisch: «Non vogliamo contare i morti!», zu Deutsch: Wir wollen nicht die Toten zählen. Sie zünden Rauchbomben, Eier platzen an den Schutzschildern der Polizeibeamt:innen. So zeigt es ein Video des Fernsehsenders RAI Mitte März dieses Jahres in Bagnoli, einem Ort in der Roten Zone. Viele der Demonstrierenden tragen Kopfkissen mit sich, als Symbol für ihre schlaflosen Nächte. Sie fordern von der Regierung ein klares Konzept für den Umgang mit ihrem Hochrisikogebiet.

Vielleicht erwachen die Bewohner:innen der Campi Flegrei gerade, um sich einem Thema zu stellen, das sie lange verdrängt haben. Bevor der Vulkan selbst erwacht.

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