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Darum darf Trauer kein Tabu sein

Leben

Darum darf Trauer kein Tabu sein

  • Text: Jana Avanzini; Bild: GettyImages

Menschen sterben. Sich damit auseinanderzusetzen und zu trauern – dafür scheint oft kein Platz in unserer Gesellschaft. Autorin Jana Avanzini wünscht sich einen tabulosen Umgang mit dem Tod.

Ich blieb an der Schlagzeile hängen: «Italienerin zwei Tage mit der Leiche ihres Mannes eingesperrt.» Ein schöner Corona-Aufreger sollte es wohl sein. Eine dramatische Situation, eine Zumutung. Mir war nicht danach, die Story zu klicken. Es war mir viel mehr danach, mich zu ärgern. Aber ganz bestimmt nicht darüber, dass eine Frau zwei Tage lang mit der Leiche ihres Mannes verbracht hatte. Sondern darüber, dass dies als «Skandal-Schlagzeile» taugt.

Es scheint, als würden in unserer Gesellschaft Menschen nach ihrem letzten Atemzug sofort zu einer unfassbaren Zumutung. Zu einer Leiche. Es kann gar nicht schnell genug gehen, die Hülle loszuwerden. Sie sofort in sterile Leichenkammern, Totenhäuser oder ins Krematorium zu schieben.

Wie heulten, allein oder zu fünft

Doch weshalb stossen wir tote Menschen von uns? Geht es um Kontrollverlust? Fürchten wir uns davor, zu heulen und zu schreien und – Gott bewahre – in Anwesenheit eines Toten auch mal in Gelächter auszubrechen? Oder geht es um den eigenen Verfall, an den wir bitte nicht erinnert werden möchten?

Als mein Vater vor sechs Jahren starb, blieb er noch drei Tage zuhause. Gewaschen und chic angezogen lag er da, Freunde und Familie kamen, um Abschied zu nehmen. Manche nur kurz, manche mehrfach und stundenlang. Wir sassen in der Küche, assen Kuchen, tranken Tee und manchmal auch Schnäpse. Wir setzten uns zu ihm und heulten, allein oder zu fünft um das Bett herum. Dann, wieder in der Küche, amüsierten wir uns über die unsäglich schlechten Witze, die er stets zum Besten gegeben hatte.

Steril und unpersönlich

Es reisten Menschen an, dich ich vorher nie getroffen hatte. Sie erzählten von einem anderen Mann, dem jungen, den ich nicht gekannt hatte. Eine Kerze brannte im Zimmer, Blumen vermehrten sich auf dem Tisch. Meine Mutter und ich schliefen im Zimmer nebenan und am Morgen gingen meine ersten Schritte zu ihm. Um zu begreifen, zu trauern und zu erinnern.

Bestatterin zu werden wurde damals zu einer immer konkreteren Idee. Ich bin es nicht geworden. Es würde mich mit meiner Einstellung wohl auch kaum jemand anstellen. Denn es gibt Gründe dafür, wie sich Bestattungsfirmen präsentieren: steril, unpersönlich, Grau in Grau. So passt es in unsere Welt – kontrolliert und zivilisiert. Da hat Trauer keinen Platz.

Gefühle verschwinden nicht

Selbst an Beerdigungen traut man sich kaum noch, etwas zu sagen, könnte es doch das Falsche sein. Doch die richtigen Worte gibt es nicht. Und das Sprechen über verstorbene Menschen und über den Verlust ist wichtig. Schreien, Schluchzen, Zusammenbrechen – all das ist wichtig. Es ist heilsam. Trauer darf überfordern, darf laut sein.

Denn der Tod eines nahen Menschen ist der persönliche Katastrophenfall. Und auch wenn diese Gefühle schwer auszuhalten sind, sie verschwinden nicht, auch wenn man sich penibel an diese befremdliche Entsorgungsmentalität hält. Sie warten darauf, auszubrechen. Sie bohren und drücken – manchmal ein Leben lang, können zu Depressionen und Angststörungen führen.

Der Mensch muss trauern – da sind sich Expertinnen einig. Damit der Schmerz an Intensität verliert. Ich hoffe deshalb, dass wir uns trauen, den Abschied und den Schmerz wieder zu erleben. Gerade jetzt, wo uns dieses Virus täglich an unsere Sterblichkeit erinnert – und die Alten, die Sterbenden, die Toten noch mehr von uns entfernt.