Werbung

"Das gute Mädchen": Wie ich in einem Workshop lernte, mich zuzumuten

Autorin Karin Zweidler hat wie viele Frauen früh gelernt, viel zu lächeln und zu nicken. In einem Gruppen-Workshop will sie üben, authentisch statt perfekt zu sein. Und kommt an ihre Grenzen.

Ich kann mir Schöneres vorstellen, als mein Wochenende in einem Zoom-Call zu verbringen. Trotzdem klappe ich am Freitag zur Feierabendzeit meinen Laptop auf statt zu und schalte mich zu elf fremden Frauen und zwei Workshopleiterinnen, mit denen ich die nächsten drei Tage verbringen werde – freiwillig.

Eine der Leiterinnen ist die Autorin Sophia Fritz. In ihrem 2024 erschienenen Buch «Toxische Weiblichkeit» identifiziert sie problematische Strategien, die sich Frauen über die Jahrhunderte angeeignet haben, um im Patriarchat besser – oder vielleicht auch einfach irgendwie – klarzukommen.

Fritz teilt die Strategien in fünf Prototypen ein: «Das gute Mädchen», «Die Powerfrau», «Die Mutti», «Das Opfer», «Die Bitch». Ich habe das Buch gelesen, dabei immer wieder genickt, leer geschluckt – und mich ertappt gefühlt. Selten hat mich ein Buch so fasziniert und aufgewühlt. Immer wieder stellte ich mir die Frage: Wie komme ich – wie kommen wir hier alle wieder raus?

Veränderung passiert im Körper

Fritz, die mit 28 Jahren nicht nur Autorin, sondern auch Sterbebegleiterin und Tantramasseurin ist und aktuell noch eine Ausbildung in traumasensitiver Körperarbeit obendrauf legt, ist sich sicher: Veränderung passiert, wenn nicht nur intellektuell verstanden, sondern auch gefühlt und erlebt wird.

Zusammen mit Gestalttherapeutin Stina Lehr hat sie im Anschluss ans Buch darum Workshops, oder, wie es die beiden nennen, «Erforschungsräume», ins Leben gerufen, in denen es darum geht, Wissen und körperorientierte Arbeit zu verbinden. Heisst: Gemeinsam soll die Logik hinter unseren tiefsitzenden Prägungen erforscht und erlebt werden, anstatt diese einfach nur zu verstehen und dringend loswerden zu wollen. Klar, dass ich das ausprobieren will.

Die Entscheidung, für welchen der Workshops, die unter anderem auf den Prototypen aus dem Buch basieren, ich mich anmelde, fällt mir leicht. Fritz’ Kapitel über das «gute Mädchen» hat mich beim Lesen kalt erwischt. Gute Mädchen sind empathisch, sanft und machen keine Umstände. Gute Mädchen sind zur Stelle, wenn sie gebraucht werden, lächeln sich durch die Welt und haben so. viel. Verständnis.

Fritz schreibt: «Das gute Mädchen verfügt über viel intuitives Wissen, es bewegt sich leichtfüssig und selbstverständlich durch soziale Räume, aber gewinnen wird es im patriarchalen System nicht. Denn es geht gar nicht erst an den Start, sondern feuert nur begeistert von der Aussenlinie an.» Volltreffer.

Ich kenne das Bedürfnis, keine Umstände zu machen und niemanden vor den Kopf zu stossen. Besonders für Frauen will ich die perfekte Freundin, Zuhörerin oder Gesprächspartnerin und am liebsten konstant verfügbar sein. Ich verliere mich zwischen vermeintlichen Ansprüchen, die an mich gestellt werden. Ich will Erwartungen erfüllen, ich will meinem Gegenüber ein gutes Gefühl geben. Ich will gemocht werden.

Diese Strategie funktioniert auf den ersten Blick richtig gut – nicht umsonst wurde sie mir und so vielen anderen «guten Mädchen» antrainiert und über Generationen hinweg weitergegeben. Sie fordert auf den zweiten aber neben wahnsinnig viel Energie auch einen anderen, hohen Preis: Unsere Grenzenlosigkeit bezahlen wir mit Sichtbarkeit und Authentizität. Und das habe ich schon lange satt. In der Theorie.

Ich logge mich am Freitagabend also in den «Erforschungsraum zum Guten Mädchen» ein, um auch noch meinem Körper klarzumachen, dass ich das nicht mehr nötig habe. Im Online-Raum angekommen, bekomme ich den Tipp, die Selbstansicht für diesen Workshop auszublenden. Ein scheinbar banaler Hinweis, der aber gerade an diesem speziellen Ort viel Sinn ergibt: Statt wie in anderen Calls ständig davon abgelenkt zu sein, ob man gerade gut aussieht, soll man sich so authentischer auf die Erfahrung einlassen können. Ich blende aus – und entspanne mich merklich.

Dann werden wir aufgefordert, unseren Blick über den Bildschirm und die verschiedenen Kamera-Kästchen mit den Teilnehmerinnen drin schweifen zu lassen. Mit wem werden wir das Wochenende verbringen? Elf fremde Gesichter blicken mich an. Ich schaue zurück und fühle in meinem eigenen Kästchen und Wohnzimmer eine seltsame Mischung aus Distanz und Exponiertheit. Nach einer Vorstellungsrunde wiederholen wir die Übung – das fühlt sich schon vertrauter an. Ich merke: Hier sind alle wohlwollend und respektvoll, klassische good girls eben. Was hatte ich erwartet?

Gründe, sichtbar zu sein

Am Samstag geht es richtig los: Meditationen, Inputs, Übungen. In «Breakout-Rooms», in denen wir in jeweils zufälligen Duos landen, wird mir fünf Minuten lang immer wieder ein und dieselbe Frage gestellt («Nenne mir einen Grund, warum es gut ist, unsichtbar zu sein»). Ich lerne, dass ich scheinbar ganz schön viele Vorteile daraus ziehe, nicht anzuecken. Dann wird der Spiess umgedreht («Warum ist es gut, gesehen zu werden?»).

Zu meinem Erstaunen geht das alles – gerade durch die vielen Wiederholungen, die immer neue Antworten hervorbringen – ganz schön tief. Immer wieder ist nach den Übungen Platz für ein «Sharing» in der grossen Runde. Wir alle tauen auf und trauen uns, immer mehr zu teilen. In meinem Wohnzimmer entsteht ein seltsames Gefühl von Verbundenheit: Wir sitzen zwar in verschiedenen Räumen, aber auf jeden Fall im selben Boot.

Werbung

"Ich habe eine Version von mir vor Augen, die nicht zuhört, wenn sie nicht interessiert ist, absagt, wenn sie keine Lust hat, und isst, wann immer sie Hunger hat"

Schütteln, hüpfen, tanzen

In einer anderen Übung sollen wir uns überlegen, was wir tun würden, wenn wir alle Good-girl-Regeln über Bord werfen würden und nichts davon Konsequenzen hätte. Es fällt mir erstmal schwer, alles Angelernte loszulassen, und ich stosse in meinem Kopf auf eine Mauer aus «aber» und «geht nicht». Ich überwinde sie und mich, schreibe trotzdem auf und habe eine Version von mir vor Augen, die nicht zuhört, wenn sie nicht interessiert ist, absagt, wenn sie keine Lust hat, und isst, wann immer sie Hunger hat.

Anschliessend sollen wir unsere Listen nicht miteinander teilen, sondern unsere Überlegungen (und wohl auch die entstandene Anspannung) aus dem Körper schütteln. Elektronische Musik wird angespielt und wir schütteln, hüpfen, tanzen. Was jetzt passiert, ist fast schon magisch: Kurz fürchte ich, dass meine Nachbar:innen sich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe, vor allem steigt aber ein riesiges Gefühl von Befreiung und Verbundenheit in meinem Körper auf.

So viele Frauen, die sich einander zumuten und anvertrauen, so viele Frauen, die scheinbar Ähnliches fühlen, so viel Zusammenhalt. Ich muss immer wieder lachen und bin gleichzeitig gerührt. Wie schön ist das denn! Als wir uns um 17 Uhr verabschieden, freue ich mich darauf, am nächsten Tag noch mehr Zeit mit den Frauen zu verbringen.

Grün, orange oder rot?

Am Sonntagmorgen geht es zackig weiter. Mittlerweile ist die Gruppe eingespielt, immer mehr Teilnehmerinnen trauen sich, Raum einzunehmen und auch mal anzuecken. Als letzten Programmpunkt bekommen wir die Aufgabe, uns in Zweiergruppen gegenseitig zu Dingen aufzufordern, uns dann kurz Zeit zu nehmen, um zu beurteilen, ob wir das (grün) gerne machen, es (orange) für die andere Person machen würden oder (rot) absolut nicht machen wollen. Die Regel: Wann immer ein Rot – also ein Nein – fällt, soll das Gegenüber sich bedanken, dass sich die andere gezeigt hat, statt einfach das Bedürfnis der Übungspartnerin zu übernehmen.

Werbung

"Eine Frage abzulehnen, die nur mit mir und meinen Grenzen zu tun hat, ist eine Sache. Einer Person, die mir sympathisch ist, eine direkte Absage zu erteilen, eine andere. Mir ist heiss und kalt und übel"

Ich werde gefragt, ob ich erzählen mag, wo ich wohne (grün), gebeten, mein Lieblingsbuch aus meinem Bücherregal zu holen (grün) und davon zu erzählen, warum es das ist (orange). Letzteres ist mir überraschenderweise zu persönlich. Klar könnte ich es erzählen, würde ich normalerweise auch, will ich aber anscheinend gar nicht.

Auch die Aufforderung, via Kamera meine Küche zu zeigen, lehne ich ab. Dann fragt mich mein Gegenüber, ob ich mir vorstellen kann, mit ihr in Kontakt zu bleiben, und mich durchfährt ein Blitz. Ich, oder eher: mein Körper merkt innerhalb von Sekunden, dass mir das zu viel ist: rot. Ich lehne also ab, weiss, dass das immer noch eine Übung ist, und fühle mich trotzdem: beschissen.

Eine Frage abzulehnen, die nur mit mir und meinen Grenzen zu tun hat, ist eine Sache. Einer Person, die mir sympathisch ist, eine direkte Absage zu erteilen, eine andere. Mir ist heiss und kalt und übel. Ich will meiner Übungspartnerin klar machen, dass mein Nein nichts mit ihr, sondern nur mit mir zu tun hat, ihr unbedingt ein gutes Gefühl geben. Nur müsste ich dafür mein eigenes ignorieren – und genau das soll und will ich ja dieses Mal explizit nicht tun. Ich bleibe also beim Nein und halte das Unbehagen aus.

Im Nachgespräch mit meiner Übungspartnerin wird klar, wie absurd meine starke körperliche Reaktion war. Ich habe ja einfach nur ihre Frage beantwortet. Kein Grund für den Aufstand. Ich atme durch. Das war wohl gerade ein Schlüsselmoment.

Was bleibt?

In den Tagen nach dem Workshop fällt mir auf, dass ich achtsamer mit mir und meinen Grenzen bin und gestärkt durch die Gemeinschaft, die sich so sicher und wohlwollend angefühlt hat. Ganz konkret merke ich zum Beispiel, wie ich in Gesprächen weniger die Verantwortung übernehme und öfter auch mal (drohendes?) Schweigen zulasse. Ich sage öfter nein und finde es statt unangenehm und beklemmend einfach normal. Vieles fühlt sich nach dem Wochenende tatsächlich ein kleines bisschen leichter an.

Natürlich geht mir auch mein Endgegner-Moment nicht aus dem Kopf. Mit etwas Abstand verstehe ich besser, warum mein System überhaupt erst Alarm geschlagen hat, obwohl die Kontaktfrage doch eigentlich ein Grund wäre, sich zu freuen. Wenn es – wie in meiner Good-girl-Welt – scheinbar nur eine richtige Antwort auf die Frage nach Kontakt gibt (ja, natürlich, gerne!), wird jeder noch so unverbindliche Annäherungsversuch zur Verpflichtung. Aus etwas grundsätzlich Schönem wird ein weiteres To-do – und genau die wollte ich mit dem Workshop eher abgeben als einsammeln.

Ich kenne diese Situation aus meinem Alltag. Nur fehlte mir dort bisher die Zeit, so genau hinzuspüren. Und ein Nein wäre mir ohne die Übung wohl auch nie über die Lippen gekommen.

Ein virtueller Workshop mit fremden Frauen hat es also geschafft, mich genau an den Ort zu führen, den ich in der Theorie schon so lange satt habe. Und es mir dann tatsächlich ermöglicht, ihn zu erforschen, zu erleben, ihn auszuhalten – und ein erstes Mal zu überwinden.

Abonniere
Benachrichtigung über
guest
2 Comments
Älteste
Neuste Meistgewählt
Inline Feedbacks
View all comments
Roger

Schöner Artikel. Nur sollte niemand glauben, dass das ein Frauending ist. Das gibt es bei Männern ganz genauso, hat was mit Biografie und Prägung zu tun. Und ja, vielleicht werden Frauen öfter so erzogen, aber ich kenne jede Menge, die nicht in die Beschreibung passen.

M. Stahel

mir etwas zumuten (nicht transitves verb)
ja, ich exponiere mich als manplainingmädchen, weil ich wert auf korrekte sprache lege und darum gerne mal anecke entgegen dem image nettes mädchen