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Die öffentliche Schule im Wandel: Was sind die Alternativen?

Politik

Die öffentliche Schule im Wandel: Was sind die Alternativen?

Zwischen Aufbruch und Stagnation, individuellem Lernen und starren Vorschriften: Die öffentliche Schule steckt mitten im Wandel. Nur: Zu was? Wir waren zu Besuch bei einer Homeschooling-Familie, einer International School und einem «unkonventionellen Lebens- und Bildungsraum».

Ein paar Neuntklässler wollen einen Kraftraum im Schulhaus bauen. Sie haben sich bereits für eine Lehre im Handwerk entschieden – «warum da nicht schon mal die Praxis in die Schule holen?», fragte sich ihr Lehrer. Und liess sie machen. Statt im Französischunterricht zu sitzen, rechnen seine Schützlinge nun mit Begeisterung. Wie viel Material zum Bodenverlegen bestellt werden muss zum Beispiel. Dabei erleben sie hautnah: Es kann viel falsch laufen, wenn eine Kommastelle verrutscht!

Ihre Gspänli hingegen, die wissen, dass sie Französisch für ihre kaufmännische Ausbildung brauchen, üben währenddessen lieber das «passé composé». Genau so sollte Schule sein: Unterricht, der auf individuelle Interessen abzielt, echte Kompetenzen vermittelt – und nicht nur vorgeschriebenes Wissen in Kinderköpfe stopft. So will es auch der Lehrplan 21. In der Praxis allerdings ist die Umsetzung nicht immer so einfach.

Alte Strukturen versus Lehrplan 21

Tatsächlich stecken öffentliche Schulen mitten im Wandel. An sich sind sie sehr autonom und haben viel Spielraum. «Steht ein engagiertes Team dahinter, kann es viel erreichen», sagt der Freiburger Lerncoach und Bildungsexperte Fabian Grolimund. Gleichzeitig jedoch haben staatliche Bildungsinstitutionen mit vielen Hürden zu kämpfen – allen voran dem eklatanten Fachkräftemangel.

Allein im Kanton Zürich fehlen zu Beginn des neuen Schuljahrs 650 Lehrpersonen, im Kanton Bern sind es 500. Hinzu kommt: Die bestehenden Strukturen passen oft nicht zu den neuen Entwicklungen, die der Lehrplan vorsieht. Inklusion und Individualität durchzusetzen beziehungsweise jedes Kind nach seinen Fähigkeiten zu fördern, lässt sich mit zu wenig Personal nur schwer umsetzen. Auch das aktuelle Prüfungssystem, das alle Kinder über einen Kamm schert, läuft diesen Ansätzen zuwider. Oder wie Grolimund es beschreibt: Am Montag versucht die Lehrperson, das Kind persönlich abzuholen, und zeigt ihm: «Dort, wo du gerade stehst, ist es okay. Lernen lohnt sich!»

Am Donnerstag aber muss das Kind eine für alle geltende Prüfung schreiben und erfährt dabei doch nur wieder: «Es klappt nicht! Lernen lohnt sich für mich nicht!» Dies ist auch für Lehrpersonen unbefriedigend. Die zum Teil starren Vorgaben erschweren es zudem, spontan zu reagieren und etwa auf aktuelle Entwicklungen einzugehen. Den Ukraine-Krieg im Geschichtsunterricht thematisieren? «Würde ich gern machen», sagt eine Lehrerin, die an einer Sekundarschule unterrichtet und nicht namentlich erwähnt werden möchte. «Aber ich schaffe es neben den vom Lehrplan vorgeschriebenen Themen einfach nicht.»

Ein Korsett an Vorschriften

Privat finanzierte Schulen haben es hier oft einfacher – weil sie nicht in einem engen Korsett aus Vorschriften stecken. Heute besuchen zehn Prozent der Schüler:innen der obligatorischen Schulen (Primarschule bis Sekundarstufe I) eine private Bildungsinstitution. Vor zehn Jahren waren es laut Bundesamt für Statistik noch halb so viele. Mit Corona ist die Nachfrage zusätzlich gestiegen – weil Privatschulen schneller auf pandemiebedingte Veränderungen reagieren können, vermutet die Agentur für Privatschulen.

Auch Wissenslücken aufgrund geschlossener Schulen oder Krankheitsausfälle liessen sich hier besser stopfen. Gleichzeitig hat die Zahl der Eltern, die ihre Kinder zuhause unterrichten wollen, zugenommen. Im Kanton Bern etwa, wo die Homeschooling-Vorschriften im Vergleich zu anderen Kantonen besonders liberal sind, hat sich die Zahl der Homeschooling-Gesuche laut Bildungsdirektion in den letzten Jahren versechsfacht – von 166 zuhause geschulten Kindern auf 934 im Schuljahr 2021/22.

In der gestiegenen Nachfrage nach Alternativen zur öffentlichen Schule spiegeln sich auch die Ansprüche der Eltern – die heute viel diverser sind als noch vor ein paar Jahren. «Egal, was Sie tun – als Schule, als Lehrperson: Sie können es nicht allen recht machen», ist Grolimunds Erfahrung. «Setzen Sie auf Frontalunterricht, finden das die einen zu einseitig, zu wenig dynamisch. Fördern Sie viel selbstständiges Lernen, ist das den anderen zu wenig geführt.» Ausserdem sei die breite Bevölkerung in Sachen Schule sehr konservativ und halte lieber an Altem fest. Dies zeige sich am Beispiel Hausaufgaben: Schulen, die Hausaufgaben abschaffen möchten, müssen dies oft gegen viel Widerstand der Eltern durchsetzen.

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«Allein im Kanton Zürich fehlen zu Beginn des neuen Schuljahrs 650 Lehrpersonen, im Kanton Bern sind es 500.»

Das Kind im Zentrum

Denn was heisst schon eine Fünf in Mathe? «Dies ist nur eine Zahl und sagt nichts darüber aus, ob das Kind nun den Dreisatz kann oder in der Lage ist, Brüche zu multiplizieren», so Jaberg. Ein aufgeschlüsseltes Kompetenzraster hingegen, das die individuellen Leistungen präziser und ausführlicher auflistet als herkömmliche Ziffernzeugnisse es vermögen, wäre viel aussagekräftiger. Auch Ausbildungsbetriebe könnten Kandidat:innen damit besser einschätzen. Lerncoach Grolimund sieht noch einen weiteren Vorteil in der konstruktiven Beurteilung: So würden Kinder nicht so schnell die Lust am Lernen verlieren – was mit den herkömmlichen Noten bei den leistungsschwächeren Schüler:innen heute leider oft geschehe.

Soll das Kind im Zentrum stehen und nicht die reine Wissensvermittlung, müssen jedoch auch Lehrpersonen ihre Prioritäten anpassen, findet Schulleiter Grossen. Bei ihm an der Schule gilt des- halb das Motto: lieber weniger vorbereiten und korrigieren, dafür den Kopf für Schüler:innen frei haben. Denn: «Habe ich als Lehrer nur meinen Stoff im Kopf, kann ich nicht wirklich präsent sein», so Grossen. Konkret bedeutet dies etwa, dass Lehrpersonen bereits eine Viertelstunde vor Unterrichts- beginn im Klassenzimmer sind – um sich vom verletzten Büsi erzählen zu lassen oder vom Streit mit dem Bruder.

Generell gelte jedoch: «Die öffentliche Schule als wichtiger Pfeiler im Schweizer Bildungssystem ist auf einem guten Weg», findet Bildungsexperte Grolimund. Um den Wandel, in dem sie derzeit steckt, aber wirklich vollziehen zu können, müssten alle an einem Strang ziehen: Politiker:innen, die Bildung ins Zentrum stellen und den Sparkurs sein lassen. Lehrpersonen, die ihren Spielraum nutzen und mit Schüler:innen tatsächlich in Beziehung treten, statt nur Wissen zu vermitteln. Und Eltern, die auch mal lobende Worte finden, wenn sie mit der Arbeit von Lehrer:innen zufrieden sind.

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«Lieber weniger vorbereiten und korrigieren, dafür den Kopf für Schüler:innen frei haben.»

Schulleiter Grossen

Das Konzept Homeschooling

Zuhause lernen statt in der Schule: Sandra Bolliger hat in den letzten zwölf Jahren ihre vier Kinder zuhause unterrichtet. Weshalb hier Begeisterung herrscht statt Pflicht – und was öffentliche Schulen davon lernen können.

Amani und Nisha, beide 14, hatten noch nie Unterricht in einer Schule. Die Zwillinge sitzen zuhause auf der schattigen Terrasse in Aarau und brüten über Englischtexten. Sie sind in der siebten Klasse, nehmen aber bereits Maturastoff durch. «Englisch interessiert beide, deshalb kommen sie schnell voran», sagt Sandra Bolliger, während sie den Sonnenschirm zurechtrückt. Die 53-Jährige ist Flight Attendant bei der Swiss. Seit zwölf Jahren verbringt sie jedoch die meiste Zeit zuhause – um ihre Kinder zu beschulen.

Deckenhoch stapeln sich Lehrbücher sämtlicher Fächer im heimischen Schulzimmer. Dazwischen hängen die Stundenpläne der Mädchen – jeden Tag behandeln sie ein anderes Fach. Daneben stehen kistenweise bearbeitete Materialien. Diese müssen sie regelmässig dem Schulamt zur Inspektion vorlegen. Auch die Schreibtische von Amani und Nisha haben hier ihren Platz. Die beiden älteren Geschwister – Malin und Noé (17), ebenfalls Zwillinge – büffelten bis vor zwei Jahren ebenfalls dort.

Zum Homeschooling kam Familie Bolliger durch Zufall. Als die Grossen mit vier Jahren in den Kindergarten sollten, waren die Kleinen gerade ein Jahr alt. «Ich wusste nicht, wie ich mit vier Kleinkindern jeden Tag kurz vor acht das Haus verlassen sollte», erzählt Sandra Bolliger. Ausserdem wollte sie die beiden nicht in fremde Hände geben. So liess sie die Grossen zuhause. Als der Übertritt in die erste Klasse anstand, beschloss sie mit ihrem Mann, die beiden weiter zuhause zu unterrichten. «Für ein bis zwei Jahre», lautete der Plan. Letztendlich wurden neun daraus.

«Viele finden es cool, dass wir keine Prüfungen ablegen müssen, oder glauben, wir würden erst um zehn Uhr aufstehen»

Amani, wird von Zuhause aus unterrichtet

Die Voraussetzungen für Heimunterricht unterscheiden sich je nach Kanton stark. In der Westschweiz etwa ist es ohne Weiteres möglich; liberal sind auch die Deutschschweizer Kantone Aargau, Bern und Appenzell Ausserrhoden. In manchen ist Homeschooling nur mit Lehrer:innenpatent der Eltern erlaubt (AI, GL, GR, LU, SG, SZ, ZH), in anderen sind die Vorschriften so streng, dass es praktisch unmöglich ist (BS, ZG), und in einigen ist Heimunterricht ganz verboten (TI, UR, NW, OW, TG). Die Bolligers wohnen im Kanton Aargau. Für Homeschooling muss man hier kein Gesuch stellen, eine Mitteilung ans Schulamt genügt. Ausserdem gilt es einen Stundenplan einzureichen, einen Jahresplan sowie diverse Zwischenberichte. Einmal im Jahr erscheint ausserdem eine Person des Schulamts zur Kontrolle.

Der Wunsch, sich ein Schulzimmer in den eigenen vier Wänden einzurichten, hat in den letzten Jahren zugenommen. Gründe dafür gibt es viele: Einige haben mit ihren Kindern in den öffentlichen Schulen schlechte Erfahrungen gemacht. Andere, wie die Bolligers, wollen schlicht mehr Freiheiten. Anfangs stiess der Entscheid derFamilie auf viel Unverständnis. Nachbarskinder riefen: «Ihr werdet Kübelmänner, wenn ihr nicht zur Schule geht! » Heute beneiden Gleichaltrige die 14-jährigen Zwillinge eher.

«Viele finden es cool, dass wir keine Prüfungen ablegen müssen, oder glauben, wir würden erst um zehn Uhr aufstehen», erzählt Amani lachend. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. An fünf Tagen die Woche sitzen die Mädchen bereits um sieben Uhr an ihren Pulten. Auch nachmittags arbeiten sie oft – weil es ihnen Spass macht.«Wir nehmen nichts durch, nur weil es im Lehrplan steht», sagt ihre Mutter. Wollen die Kinder wissen, weshalb auf der Südhalbkugel Winter ist, gehen sie dieser Frage nach.

Als sie sich für den Zweiten Weltkrieg interessierten, beschäftigten sie sich mehrere Wochen intensiv damit – obwohl beide erst in der zweiten Klasse waren. «Würden alle nach ihren Interessen und Stärken lernen, hätten wir vielmehr richtig gute Leute», ist Sandra Bolliger überzeugt. «So aber verschenken wir viel Potenzial.»

Damit trotz Heimunterricht Sozialkontakte nicht zu kurz kommen, gehen die Mädchen viermal dieWoche ihren Hobbies nach: Karate,Tanzen und Pfadi. «Natürlich ist das anders, als wenn man jeden Tag zusammen in der Schule sitzt», sagt Bolliger. Andererseits sei eine Klasse auch kein Garantie für Freundschaften. Einmal im Jahr treffen sich Amani und Nisha zudem mit anderen Homeschoolern für Projektwochen: Sechs Wochen lang büffeln sie dann zum Beispiel mit Fachleuten Chemie und Physik – Fächer, die aufgrund der nötigen Experimente schwierig zuhause zu vermitteln sind.

Sandra Bolliger ist vom Heimunterricht überzeugt: «Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen den Weg weisen – wer könnte dies besser als die Eltern?» In den Schulstoff arbeite man sich auch ohne Patent ein. Wer jedoch mit seinem Nachwuchs schon wegen Hausaufgaben ständig aneinander gerät, kann sich Homeschooling schlecht vorstellen. «Das höre ich oft», lacht Bolliger. Sie findet: Stress gibt es, wenn sich die Welt der Schule und die Welt zuhause vermischen. Seien die getrennt, gebe es weniger Konflikte.

«Natürlich müssen nicht alle homeschoolen – aber wer will, sollte es tun dürfen.» Dies muss man sich allerdings auch leisten können: Der Job ist unbezahlt, es braucht finanzielle Rückendeckung.

Die grossen Zwillinge sind mit Heimunterricht gut gefahren: Der 17-jährige Noé, der sich schon mit zwölf für Finanzen interessierte, absolviert heute eine Bankenlehre. Seine Schwester Malin hat die Aufnahmeprüfung für die Kanti mit Bravour geschafft. Ihre Haupterkenntnis nach zwei Jahren Schule: «Zuhause habe ich gelernt, weil es mir Spass machte. In der Schule lerne ich für Prüfungen– das, was die Lehrer:innen wollen, und nicht das, was mich interessiert.»

Das Konzept International School

Die Zurich International School bedient viele Klischees einer elitären Bildungsinstitution. Doch was teuer ist, scheint hier auch gut zu sein. Wer danach sucht, findet an der Zurich International School (ZIS) in Adliswil ZH sofort das Bild einer Privatschule für Kinder aus reichem Hause bestätigt.

Vor dem modernen Glasbau am Rand der Zürcher Gemeinde sieht man Primarschulkids im Gucci-Pulli, im Eingangsbereich gibt es einen Lagerplatz für Golfsets, nach Schulende reihen sich vor der Schule die BMWs, Mercedes und Teslas aneinander. Neben solchen Klischees fällt einem aber auch was anderes auf: An der ZIS herrscht auffallend gute Stimmung, zumindest an diesem Tag.

Über Mittag spielt im obersten Stock die Schulband, durch das offene Fenster dringen guter Sound und das Echo eines begeisterten Publikums nach draussen. Später plaudern in den Gängen Teenager ungezwungen mit ihren Lehrer:innen. Und auch im Unterricht scheint keine Null-Bock-Stimmung zu herrschen. Vielmehr machen die Schüler:innen mit beim Programm, das ihnen «die Herausforderung und die Unterstützung bietet, damit sie ihr bestes Selbst werden und ihr ganzes Potenzial entfalten», wie eines der Versprechen auf der Website der Schule lautet.

Mit über 1200 Schüler:innen an drei Standorten ist die ZIS die grösste internationale Schule im Kanton. Als solche muss sie sich nicht an den hiesigen Lehrplan halten. Unterrichtet wird in Englisch und statt der Matura kann man das International Baccalaureate (IB) erwerben und ein Programm nach amerikanischem Vorbild machen, in dem bereits College-Stoff aufgegriffen wird. Damit sollen die Schüler:innen (noch) besser vorbereitet sein für das Studium an internationalen Universitäten.

Die Upper School für 14- bis 18-Jährige, die an diesem Tag ihre Türen öffnet, ist zwar nicht direkt mit einem Gymnasium vergleichbar – nur schon, weil es keine Aufnahmeprüfung gibt. Doch das Ziel der Stufe scheint klar: Nach ZIS-Angaben studieren 98 Prozent der Absolvent:innen später.

Im Wirtschaftsunterricht einer Klasse im letzten Jahr stehen an diesem Nachmittag staatliche Marktinterventionen auf dem Programm. Anhand der Beispiele wird schnell klar, dass der Horizont an der ZIS mit Kindern und Jugendlichen aus über siebzig Nationen etwas weiter reicht als an einer gewöhnlichen Schule. Um die Folgen von zu hohen Preisen zu illustrieren, bringt der schwedische Lehrer ein Beispiel aus Indonesien, wo er einst selbst unterrichtet hat. Insulin, so meint er, sei dort so teuer, dass sich das niemand leisten könne:

«Und was passiert? Die Leute werden wütend und auf dem Schwarzmarkt werden Produkte gehandelt, die nicht wirken.» Und als es um mögliche Anreize für die Konsumation eines erwünschten Guts geht, erzählt eine Schülerin von ihrer Schwester, die auf Zypern Geld für ihre Covid-Impfung erhielt.

Auffallend ist nicht nur, wie locker und zugänglich der Lehrer wirkt, sondern auch wie kooperativ, anständig und gleichzeitig vertraut die Jugendlichen miteinander umgehen. Man fragt sich unweigerlich: Sind das wirklich Teenager? Von der überdurchschnittlichen Motivation der Jugendlichen und vom guten Unterrichtsklima spricht auch der Biologielehrer einer anderen Klasse, die an diesem Nachmittag Bioplastik herstellt.

Der Lehrer, der schon an einer öffentlichen Schule in einem schwierigen Viertel im englischen Sheffield unterrichtet hat, weist darauf hin, dass das gute Lernklima an der ZIS auch mit der Homogenität der Schüler:innen zu tun habe. So kommen die Jugendlichen zwar aus unterschiedlichsten Kulturen, aber vorwiegend aus akademischen Elternhäusern. Und womöglich, so meint er weiter, habe die Leistungsbereitschaft der Jugendlichen auch mit dem hohen Schulgeld zu tun hat, das ihre Eltern bezahlen müssten.

«Eine tolle Möglichkeit für Jugendliche, die den Knopf erst später aufmachen»

Maja Studer, Inhaberin Agentur für Privatschulen

Ein Jahr an der Up- per School etwa kostet 36 000 Franken, inklusive Laptops und Trips ins Ausland, zum Beispiel an Sportturniere. Das sei vergleichbar mit dem Schulgeld an anderen internationalen Schulen, die etwas teurer sind als andere Privatschulen, wie eine Beraterin für Privatschulen erklärt.

Ein Schüler aus Deutschland, der seine gesamte bisherige Schulzeit an internationalen Schulen verbracht hat, ist sich seines Privilegs offensichtlich bewusst: «Ich finde es fantastisch, dass ich von jung an die Möglichkeit erhielt, an einer International School zu sein», sagt er. Und er sei froh, könne er mit dem International Baccalaureate einen Abschluss machen, der an internationalen Unis und Unternehmen ein hohes Ansehen geniesse.

Eine Mitschülerin von ihm ist hier, weil sie später einmal in die USA gehen möchte, eine andere erklärt, dass sie die Gymi- Prüfung nicht bestanden habe und den Stress der Aufnahmeprüfung nicht noch einmal erleben möchte. Stimmt es also, dass man über eine Privatschule wie die ZIS leichter zur Matura respektive zum IB kommt? Diese Vorstellung sei falsch, sagt Maja Studer, Inhaberin der Agentur für Privatschulen, die Eltern seit dreissig Jahren bei der Wahl der Privatschule für ihre Kinder berät.

«Eine Schule wie die ZIS, wo die Jugendlichen nicht früh selektioniert werden, kann Jugendlichen, die erst später den Knopf aufmachen, jedoch eine tolle Möglichkeit bieten», so Studer. Dazu kommt, dass die Klassen an Privatschulen gewöhnlich kleiner sind, und Kinder deshalb gezielter gefördert werden können.

Nur: An der Upper School ist Englisch die Unterrichtssprache. Weil der Kanton Zürich nicht will, dass Kinder, die hier aufwachsen, in der Schule kein Deutsch lernen, hat er 2012 eine Sonderregelung eingeführt: So müssen die Eltern von schulpflichtigen Kindern im Kanton Zürich nachweisen, dass sie nur vorübergehend hier wohnen, oder ihr Kind bereits eine Ausbildung an einer internationalen Schule begonnen hat. Doch Adliswil liegt am Rand des Kantons Zürich, die Autos vor dem Eingang haben auch Kennzeichen aus umliegenden Kantonen.

Gemäss Michaela Seeger, Kommunikationsbeauftragte der ZIS, gibt es an der Schule nicht nur Kinder aus hochmobilen Familien, die nur kurz hier sind, sondern auch sogenannte longterm expats. Auf Wunsch der Eltern will die Schule die Schüler:innen über gemeinsame Projekte mit öffentlichen Schulen oder über die Angleichung der Ferienzeiten künftig besser integrieren. Oder in Seegers Worten: «Die Schule will von ihrem Inseldasein wegkommen.»

Tatsächlich fühlt man sich ein wenig so in den Gängen, wo primär Englisch gesprochen wird und Plakate für Charityprojekte in Nepal hängen – neben Fotos der Abschlussklassen in ihren «graduation gowns» mit den viereckigen Hüten: weit weg vom hiesigen Alltag. Doch für die Schüler:innen scheint es eine schöne Insel zu sein.

Das Konzept Monterana-Schule

In der Monterana-Schule ist das Leben die Lehrmeisterin. Das kommt bei immer mehr Elterngut an und beschert der Gemeinde Degersheim einen schönen Bevölkerungszuwachs.

Das «Bullerbü»-Gefühl stellt sich am Bahnhof Degersheim SG noch nicht ein, sondern erst dann, wenn man an einer Jurte vorbei auf das Monterana- Schulgelände mit dem bunten Baumhaus gelangt. Es ist Schnuppertag, im Pavillon haben sich Eltern und Lehrpersonen im Kreis versammelt.

«Mein zwölfjähriger Sohn besuchte bis jetzt eine Waldschule. Ich möchte nun einen anderen Ort finden, an dem er sich entwickeln kann», meint eine Frau in Leggins und Gesundheitsschuhen. Die Mutter neben ihr ist auch «auf der Suche nach Alternativen zur Regelschule»; nach einer Schule, an der man ohne Druck lernen könne. Eine ältere Frau mit akkurat geschnittenem Bob gibt zu, dass sie anfangs dachte, ihre Töchter «spinnen», als diese ihre Enkelkinder hier angemeldet hätten. Doch mittlerweile sei sie hell begeistert.

Die Monterana-Schule bezeichnet sich selbst als unkonventionellen Lebens- und Bildungsraum für Kinder ab einem Jahr bis zum Ende der Volksschulzeit und darüber hinaus. Schulleiterin Susanne Tobler hat die Institution vor 28 Jahren mit zwei weiteren Pädagoginnen gegründet.

Monterana ist keine klassische Montessori-Schule, doch inspiriert von deren Lehre sowie den Publikationen der beiden chilenischen Biologen, Neurowissenschaftern und Philosophen Humberto Maturana und Francisco Varela. Es gibt hier weder Prüfungen, Noten, noch einen fixen Lehrplan. Die Kinder sollen in ihrem Tempo lernen – was und wann sie wollen: «Sie spielen bei uns den ganzen Tag und machen ihre Projekte. Dabei eignen sie sich an, was sie für ihr Leben brauchen», erklärt Tobler.

Aber was, wenns dann doch nicht klappt mit dem Lesen und Rechnen? «Mathematik ist grundsätzlich kein Problem, denn das ist nichts anderes als den Raum erfahren und darin zu handeln – Mengen, Distanzen, Längen. Lesen lernen sie in der Regel von selbst.» Dennoch sei es schon vorgekommen, dass einzelne Kinder beim Übertritt in die Oberstufe noch nicht richtig lesen oder schreiben konnten.

Einen Anhaltspunkt über das Niveau der Schüler:innen gibt der Stellwerktest des Kantons St. Gallen, der schulische Kernkompetenzen vergleichbar macht. Tobler ist kein Fan davon, doch er ist Vorschrift – selbst für die rund dreissig bewilligten Privatschulen im Kanton. Also auch für ihre Acht- und Neuntklässler.

Schlecht schneiden diese dabei nicht ab: «Einige sind auf Kanti-, die meisten auf Sek- und einige auf Real-Niveau.» Der Test sei ein Teil der Realität, die «da draussen» auf die Kinder warte. Doch vorerst seien nicht nur die Lehrer:innen zentral, sondern auch die Eltern: «Ihr werdet in unseren Schulalltag stark mit eingebunden, dessen müsst ihr euch bewusst sein», mahnt Tobler die anwesenden Eltern.

«Die Kinder sollen in ihrem Tempo lernen – was und wann sie wollen»

Susanne Tobler, Gründerin Monterana-Schule

Nach dem Austausch in der Runde dürfen sich die Gäste in der Schule umsehen. Gestartet wird in der Basisstufe, also bei den Kindern zwischen vier und acht Jahren. Ein Paar aus dem Tirol begutachtet den Bewegungsraum, in dem Kinder herumtoben. Es plant, demnächst nach Degersheim zu ziehen. Auch, damit die Kinder hier zur Schule gehen können. Die Primarstufe für Kinder zwischen 7 und 13 Jahren befindet sich wenige Meter entfernt im Haus mit der rotbraunen Holzverkleidung. In der Leseecke wird dort Schach gespielt, während im Nähatelier ein Stockwerk weiter unten drei Mädchen beschliessen, draussen «Pferde zu spielen».

Die Monterana-Schule war und ist der Grund für den Zuzug vieler Menschen, mittlerweile sind 115 Kinder dort angemeldet. Vor fünf Jahren waren es noch 75. Wie reagierten die alteingesessenen Degersheimer, als sich plötzlich eine ideologisch geprägte Schule im beschaulichen Dorf breit machte? «Zu Beginn verzeichneten wir wohlwollend distanziertes Interesse», erzählt Tobler lachend.

Mit der Schulgemeinde gibt es hin und wieder Reibungen aufgrund der unterschiedlichen Ausrichtungen. Auf die Frage, ob an der Monterana denn auch «Quereinsteiger:innen» willkommen sind oder ob man sich quasi ab Geburt der Kinder den Werten der Schule verpflichten müsse, meint die Schulleiterin: «Es gab einige idealistische Eltern, die fanden, man müsse sich von Anfang an für unser Konzept einsetzen.» Ein Konzept, das vorsieht, den Kindern ihren eigenen Entwicklungsweg zu überlassen.

Auszutreten aus dem alten Paradigma, dass die Erwachsenen wissen, was gut und richtig ist für die Kinder. Doch Tobler relativiert: «Aber von denen, die diese Haltung wirklich ganz so leben, gibt es wenige.» Ein Ideal sei immer eine Kopfgeschichte, perfekte Kinder oder eine ideale Elternschaft sei nicht möglich. Und doch ist diese Haltung bis heute der Hauptgrund für die Eltern, ihre Kinder an der Monterana anzumelden.

Und neu spielt auch der wachsende Druck an den öffentlichen Schulen eine Rolle: «Seit dieser immer mehr zunimmt, beginnen auch Eltern, die sich zuvor nicht mit alternativen Schulmodellen auseinandergesetzt haben, sich Gedanken dazu zu machen.» Die 11- bis 16-jährigen Oberstufen – schüler:innen sowie die Schüler:innen der Stufe fünf (15 bis 21 Jahre) sind einige Gehminuten entfernt in einem alten Fabrikgebäude untergebracht. Während dort in einem Raum voller Sofas Teenager rumhängen, sitzen andere gemeinsam mit ihren Lehrpersonen am Computer und schreiben Bewerbungen für Schnupperlehren.

Nicht viele der Monterana-Schüler:innen schaffen es ans Gymnasium. Sich hier auf eine Aufnahmeprüfung vorzubereiten, ist eine grosse Herausforderung. Und doch: Diesen Frühling hat die zweite Monterana-Schülerin ohne Umwege die Gymi-Prüfung bestanden. Und wie finden sich die Kinder später ausserhalb der Monterana-Welt zurecht? «Sie sind zu Beginn meist unsicher, weil ihnen nicht bewusst ist, was sie für Stärken haben und im Vergleich mit anderen eher sehen, was sie nicht können», so Tobler.

In der Regel seien sie aber motiviert und leistungsfreudig. Manche müssten an den Berufsschulen gewisse Sachen nacharbeiten, anderen bereite das hohe Tempo Probleme. Doch nach drei bis sechs Monaten seien die Monterana-Abgänger:innen meist voll integriert und schulisch im oberen Drittel der Klasse: «Weil sie handeln und vernetzt denken können», so Tobler. Auch sozial seien sie stark und würden den Lehrer:innen auf Augenhöhe begegnen – und irgendwann sei ihr Hintergrund dann kein Thema mehr.

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