
Eine Liebeserklärung ans Glattzentrum: So war meine Kindheit im Konsumtempel
Shoppingcenter gelten als Unorte. Doch für unsere Autorin ist das Glattzentrum in Wallisellen ein Stück Heimat.
- Von: Vanja Kadic
- Bild: ZVG; Collage: annabelle
Laut und viel ist es hier, eigentlich immer. Das Licht ist grell und mir ist tendenziell zu warm. Die Rolltreppen scheinen mir, seit ich vor ein paar Jahren spontan eine Höhenangst entwickelt habe, zu steil. Hier spielt stets mein persönliches Medley der Reizüberflutung und bringt mich im grossen Samstags-Getümmel auch mal an den Rand einer Panikattacke. Nüchtern betrachtet spricht darum wenig dafür, Zeit im Glattzentrum zu verbringen. Und trotzdem fahre ich immer wieder hin. Denn es ist einer meiner liebsten Orte in der Schweiz.
1975 im zürcherischen Wallisellen nach dem Vorbild der Shoppingmalls in den USA eröffnet, war das Glatt eines der ersten Einkaufszentren der Schweiz. Heute ist es das umsatzstärkste des Landes. Auf 42 000 Quadratmetern Verkaufsfläche laden vierzehn Restaurants und neunzig Ladengeschäfte zum Verweilen, Bummeln und Konsumieren ein. Rund neun Millionen Menschen besuchen das Glatt jährlich. Schweizer Shoppingcenter erleben aktuell ein postpandemisches Revival: Laut des Swiss-Council-Marktreports 2024 konnten 63 Prozent der 27 befragten Shoppingcenter 2023 ihren Umsatz und die Anzahl Besucher:innen gegenüber dem Vorjahr steigern.
Postkarten mit Glatt-Sujet ins Heimatdorf
Ich bummle in meinem Alltag äusserst selten ziellos durch Geschäfte. Doch manchmal setze ich mich ins Tram, fahre nach Wallisellen und gehe für ein paar Stunden ins Glatt. Es amüsiert mich, welche tiefe Bedeutung dieser Ort in meiner Biografie hat: Ich bin hier gross geworden. Hätte ich ein Familienwappen, das Glattzentrum wäre Teil davon. Meine Mutter legte als Vierzehnjährige mit ihrem ersten Besuch im Glatt den Grundstein für meine Leidenschaft. Da war es gerade mal seit zwei Jahren geöffnet und ich noch lange nicht auf der Welt.
Aus dem damaligen kommunistischen Jugoslawien kam sie für Ferien in die Schweiz. Sie erzählt noch heute, wie sie als Teenie fasziniert die vorweihnachtliche Deko im Glatt bestaunte und Familienmitgliedern Postkarten mit Glatt-Sujet ins Heimatdorf schickte. Zurück zuhause erklärte sie es zu ihrem Ziel, in die Schweiz auszuwandern. Es ist also nicht übertrieben, wenn ich sage, dass das Glatt – oder das, was es damals repräsentierte – mit ein Grund ist, warum die Schweiz mein Zuhause ist.
Meine Müsliburg
Im Glatt weckt bei mir jede Ecke, fast jedes Geschäft Erinnerungen. Bereits als Kleinkind turnte ich an den grossen Zahlenskulpturen in der Tiefgarage und spielte in der "Müsliburg", dem hauseigenen Kinderhütedienst, während meine Mama shoppen ging oder eine Freundin zum Kafi traf. Im Glatt bekam ich erst mein Znünitäschli, dann meinen Schulthek. Während meine Klassengspänli am Wochenende mit ihren Eltern in Grindelwald wandern gehen mussten oder im Tessin Federball spielten, sass ich samstagnachmittags mit den Frauen meiner Familie im Glatt-Starbucks und durfte vom Caramel Macchiato meiner Mama probieren, während ich den Geschichten der Erwachsenen lauschte. Ich liebte es.
Mit sieben schlich ich um die Acryl-Nagelräder diverser Kosmetik-Counter bei Douglas und Globus und hielt mir rote Plastikkrallen an meine Kindernägel, um mir vorzustellen, wie meine Hände als Erwachsene wohl mal aussehen würden. Mit neun oder zehn verweilte ich Stunden bei Orell Füssli und gab mein ganzes Sackgeld für die "Fear Street"-Bücher von R. L. Stine aus. Den Geruch der druckfrischen Bücher habe ich noch heute in der Nase. Fast jeden Samstag kaufte ich ein neues.
Einmal bekam ich ein Autogramm von Marlies Möller, die im Glatt ihre Produkte präsentierte. Warum ein Kind unbedingt ein Autogramm von einer deutschen Star-Coiffeuse will, ist mir heute ein Rätsel. Ein anderes Mal staunte ich ob der Menschenmasse, die sich um die deutsche Band Echt bildete, die zum Fantreffen ins Glatt geladen hatte.
Ein Drama mitten im Shoppingparadies
Mit dem Glatt verbinde ich einige erste Male. Ich durfte mir hier zum ersten Mal meine eigenen Kleidungsstücke kaufen: Da waren die goldenen Ballerinas mit Mini-Kitten-Heel, die ich im Sale erwarb. Oder der Trenchcoat aus der H&M-Kollektion von Viktor & Rolf, den ich ergatterte und – von Lily Allen inspiriert – jahrelang in Kombination mit Sneakers und Billo-Goldschmuck trug. Ich erinnere mich an das zarte Gefühl, kein Kind mehr zu sein, aber auch noch kein Teenager.
Und ich erinnere mich an die Treffen mit meiner besten Freundin, von der mich nach meinem Umzug vom Thurgau in den Aargau rund hundert Kilometer trennten. Wir vermissten uns schrecklich und trafen uns, sofern unsere Eltern uns hinfuhren, auf halbem Weg: im Glatt. Grosse Freude beim Wiedersehen, schlimme Tränen bei der Verabschiedung – ein Drama mitten im Shoppingparadies.
"Im Shoppingcenter ist man anonym, aber trotzdem nicht allein"
Das war vor zwanzig Jahren. Eigentlich ist es erstaunlich, dass Shoppingcenter heute noch florieren – ganz im Gegensatz zu den Warenhäusern. Nach dem Aus von Manor an der Zürcher Bahnhofstrasse ist seit Ende Februar auch Jelmoli geschlossen. Der Trend, sich auf Nachhaltigkeit zu fokussieren und den eigenen Konsum zu hinterfragen, schwindelerregende Immobilienpreise und die allgemein bröckelnde finanzielle Sicherheit setzen dem Geschäftsmodell der Shoppingoasen zu. Auch durch E-Commerce, der den Konsum zwar nicht gemindert, aber ins stille Kämmerlein verlagert hat, erscheinen Häuser wie Manor, Jelmoli, aber auch das Glattzentrum heute so zeitgemäss wie Zigarettenqualm im Flugzeug.
Dass es zumindest die Einkaufszentren schaffen, sich zu halten, liegt wohl daran, dass sie zahlreiche eigenständige Geschäfte, Dienstleistungs- und Freizeiteinrichtungen wie Kinos unter einem Dach vereinen, während ein Warenhaus einfach ein grosses Einzelhandelsgeschäft ist. Warenhäuser stehen heute vermehrt für Luxus und auserlesene Produkte und sind nicht länger Orte, an denen man mehrere Stunden verweilt. Einkaufszentren hingegen bieten ein vielfältigeres Angebot für verschiedene Budgets und damit eine diversere Käuferschaft.
"Social Media ist unsere neue Mall geworden"
Und vor allem: Der Besuch im Einkaufszentrum ist mehr als ein Einkauf oder eine Shoppingtour. Hier wird gegessen, gespielt und rumgehangen – ein Aufenthalt erstreckt sich über längere Zeit. Auch wenn Shoppingcenter, je nach Bubble, als uncool und trashy gelten.
Die britische Autorin Florence Given schreibt in ihrem Buch "Women Living Deliciously" (2024), dass uns im öffentlichen Raum Orte zum Verweilen genommen werden, damit wir mehr konsumieren. Städtische Räume würden heute mit weniger Sitzbänken ausgestattet, um die Zeit zu optimieren, die wir brauchen, "um von einem Geldausgebebereich zum nächsten" zu gelangen. Diese "defensive Architektur" halte viele Menschen davon ab, den öffentlichen Raum überhaupt zu nutzen. Stattdessen verlagert sich dieser in die digitale Welt: "Social Media ist unsere neue Mall geworden, wo wir alle hingehen, um zusammen rumzuhängen", schreibt Given.
Als multifunktionale Begegnungszonen wurden Malls auch erfunden: Zumindest trieb dieser Gedanke den österreichischen Architekten und Sozialdemokraten Victor Gruen an, der als Erfinder der modernen Einkaufszentren gilt. Der Stadtplaner hatte für die von ihm entworfene und 1956 eröffnete erste Mall der Welt im amerikanischen Vorort Edina, Minnesota, mehr als nur eine Ballung von Shops vorgesehen: Er legte einen Fokus auf den kommunalen Aspekt.
Das Shoppingcenter etablierte sich als Treffpunkt
So sollten neben den Läden und dem Innenhof, in dem Kund:innen verweilen konnten, Schulen, Büros, Kinderbetreuungseinrichtungen, Bibliotheken, Sportanlagen und ein medizinisches Zentrum entstehen. Gebaut wurden nur die Läden – und Gruen klagte später, dass seine Idee "völlig verfälscht" worden sei. Dennoch etablierte sich das Shoppingcenter als Treffpunkt.
Ich bin überzeugt, dass Shoppingcenter genau deshalb bestehen bleiben und sich im Gegensatz zu den Warenhäusern halten können, weil wir in unserem hoch technologisierten Alltag an solch pulsierenden öffentlichen Verweilorten festhalten wollen. Hier ist man anonym, aber trotzdem nicht allein. Es ist ein Ort, an dem wir einander begegnen. Ein Raum, in dem Menschen aus verschiedenen Klassen und mit diversen Lebensrealitäten aufeinandertreffen.
Nostalgie und Geborgenheit im Glatt
Ich fahre schliesslich auch nicht ins Glatt, weil ich etwas brauche, sondern weil ich da sein will. Mir macht das Verweilen und das Streifen durch die Geschäfte mehr Spass als das tatsächliche Konsumieren, das sich bequem und schnell per Klick erledigen liesse. Auch wenn Shoppingcenter auf Konsum ausgerichtet sind, kann man sich über Stunden in ihnen aufhalten, ohne etwas kaufen zu müssen. Sie sind ein Raum, der warm, lebendig und vertraut ist.
So legt sich im Glatt jeweils eine Decke aus wohliger Nostalgie um mich, süss und klebrig wie der Caramel Macchiato von Starbucks, den meine Mutter dort immer trank. Ich wandelte schon gleichermassen missmutig wie überglücklich durch die Ladenpassagen, schaute mir dort in sämtlichen Lebens- und Gefühlslagen, in allen möglichen Versionen meiner Selbst Lippenstifte, Schuhe oder Zierkissen an. Und finde zwischen Hay-Regal im Globus und dem neongelb erleuchteten Buffet des Migi-Restis das, was andere beim Blick auf eine Bergkulisse empfinden: Geborgenheit, Trost und Heimat.