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Feministischer Streik 2023: Warum wir von annabelle auf die Strasse gehen

Politik

Feministischer Streik 2023: Warum wir von annabelle auf die Strasse gehen

Am 14. Juni wird wieder gestreikt und demonstriert – auch wir von annabelle gehen auf die Strasse. Hier erzählen wir, was uns gerade ganz besonders stinkt.

Chefredaktorin Barbara Loop: «Ich gehe auf die Strasse, damit der Druck nachlässt»

Ich möchte meinen Kindern ein Vorbild sein, indem ich genauso leidenschaftlich arbeite wie faulenze, mir Zeit für meinen behinderten Bruder nehme und für mich selbst, indem ich genauso ausdauernd mit ihnen spiele, wie ich mit meinen Freund:innen durch die Nächte tanze. Nur hat der Tag jedoch gerade mal 24 Stunden – und das ist immer zu wenig. Das geht nicht nur mir so.

Ich gehe am feministischen Streiktag auf die Strasse, damit all diese Dinge besser zusammengehen, damit für Erwerbsarbeit und für Care-Arbeit die nötige Zeit bleibt, damit meine und eure Tage prall gefüllt sind, der Druck aber nachlässt. Für Frauen mit und ohne Kinder, für Menschen aller Geschlechter, und ganz besonders für die jungen Menschen, die heute schon angeben, lieber keine Führungsverantwortung mehr übernehmen zu wollen, weil der Zeitdruck sie abschreckt. Das kann nicht die Lösung sein, denn genau diese Menschen brauchen wir, um unsere Arbeitswelt besser zu gestalten.

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«Das Leben fühlt sich für viele Familien wie ein einziger Überlebenskampf an»

Marie Hettich

Reportage-Chefin Paula Scheidt: «Die Erinnerung an den Frauenstreik 2019 macht mir noch immer Hühnerhaut»

Ich gehe am 14. Juni auf die Strasse, weil die Erinnerung an den Frauenstreik von 2019 mir noch immer Hühnerhaut macht: so viele unterschiedliche Frauen mit ähnlichen Erfahrungen, Zielen und Visionen zusammen an einem Ort! So eine friedliche, verbindende und konstruktive Energie.

Wer weiss, ob ohne diese tiefe kollektive Erfahrung der Frauenanteil im National- und Ständerat gestiegen, der Vaterschaftsurlaub eingeführt und die Revision des Sexualstrafrechts à la «Ja heisst Ja» im Nationalrat durchgesetzt worden wäre. Die weibliche Perspektive in der Politik ist so jung – und sie ist so wichtig. Ich gehe am 14. Juni auf die Strasse, weil ich an das Zusammen glaube. Und weil es nach den pandemischen Jahren der Vereinzelung das Zusammen – auch physisch – unbedingt braucht.

Praktikantin Isabel Gajardo: «Unsere Gesellschaft hat offenbar immer noch nicht verstanden, worum es geht»

«Weil Frauen schwanger werden und mir als Arbeitgeber Kosten verursachen, ist es auch völlig in Ordnung, wenn sie dafür weniger verdienen»: Dieser Satz wurde mir von einem Mann ins Gesicht gesagt. Ohne mit der Wimper zu zucken und im Brustton der Überzeugung. Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, wie wütend mich das macht. Und auf wie vielen Ebenen ich mich in diesem Moment abgewertet gefühlt habe.

Trotzdem trifft diese Aussage den Kern des Problems ganz gut. Solange solche Sätze völlig selbstverständlich fallen, so lange werde ich auch am feministischen Streiktag auf die Strasse gehen. Weil unsere Gesellschaft offenbar noch immer nicht verstanden hat, worum es hier eigentlich geht: dass ein Grossteil der unbezahlten Care-Arbeit immer noch von Frauen geleistet wird, dass in sogenannten «Frauenberufen» die Löhne signifikant tiefer sind als in den angeblichen «Männerberufen», dass auch nach den x-ten Missbrauchsvorwürfen gegen berühmte und mächtige Männer nicht an den Strukturen gezweifelt wird, die dahinterstecken. Und weil ich, ehrlich gesagt, die Nase voll davon habe, dass wir darüber immer noch diskutieren müssen.

Co-Leiterin Digital a.i. Marie Hettich: «Männer wollen allen Ernstes immer noch glauben, das Thema gehe sie nichts an»

Ich gehe am 14. Juni auf die Strasse, weil der Fall rund um Rammstein-Frontmann Till Lindemann zeigt: alles beim Alten im Patriarchat. Und gleichzeitig wollen die allermeisten Männer in ihrer Ignoranz und Faulheit allen Ernstes immer noch glauben, das Thema Sexismus gehe sie nichts an, weil sie ja «zu den Guten gehören». Problem nicht verstanden!

Weiter: weil sich das Leben für viele Familien wie ein einziger Überlebenskampf anfühlt, da, sobald das erste Kind da ist, Geld und Zeit plötzlich so knapp werden. Es braucht ein Vermögen und/oder die engagierten Grosseltern ums Eck, damit man nicht ständig an die eigenen Grenzen kommt. Diese Dauererschöpfung und Überforderung von Eltern liegt nicht an den Kindern – sie liegt am System. Es darf kein Privileg sein, Kinder zu bekommen! Vom Nachwuchs profitieren schliesslich alle.

Ausserdem streike ich, weil ich die Schlagzeilen über Kitas und das Gesundheitswesen am Limit nicht mehr sehen kann. Es braucht bessere Löhne und Arbeitsbedingungen für diese Menschen, auf die wir alle angewiesen sind. Zu guter Letzt gehe ich für all diejenigen Personen auf die Strasse, die aufgrund von Mehrfachdiskriminierung besonders stark unter dem Patriarchat leiden. Und natürlich für diejenigen, die gar nicht erst zur Demo kommen können – weil es zum Beispiel niemanden gibt, der die Kids betreut, oder weil sie ihren Job riskieren würden.

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«Die Frauen machen die Hälfte der Schweizer Bevölkerung aus; es wäre vermessen zu glauben, dass wir alle gleich denken»

Stephanie Hess

Redaktorin Stephanie Hess: «Die Streik-Demos lassen mich spüren, dass wir viele sind»

Ich streike, weil ich privilegiert bin und keine Folgen fürchten muss. Ich hätte sicherlich die Kraft nicht dazu, müsste ich in einem Tieflohnjob arbeiten und fürchten, dass mich mein:e Arbeitgeber:in deswegen drangsaliert. Darum gehe ich für diejenigen Frauen auf die Strasse, die es nicht selbst tun können. Ich fordere faire Bezahlung, rigoroses Vorgehen gegen Sexismus, Aufstiegsmöglichkeiten und sichere Arbeitsplätze im Detailhandel, in der Gastronomie, der Kinderbetreuung und der Reinigungsbranche.

Ich streike auch, weil mich die Streik-Demos spüren lassen, dass wir viele sind, die diese Gesellschaft verändern wollen. Welches Problem zuerst angepackt werden muss oder wie der beste Weg zur Gleichberechtigung aussieht, darin hingegen sind wir uns nicht einig. Das ist ok. Schliesslich machen die Frauen die Hälfte der Schweizer Bevölkerung aus; es wäre vermessen zu glauben, dass wir alle gleich denken. In diesem Sinne verstehe ich auch diesen Tag: Er zeigt, dass die feministische Idee in all ihrer Vielfalt lebt, dass sie die Städte zum Pulsieren bringt und so viele Menschen anschieben kann.

Co-Leiterin Digital a.i. Vanja Kadic: «Wenn ich solche Zahlen sehe, könnte ich kotzen»

Die Zahl sorgt gerade für Schlagzeilen: 33 Prozent, also jeder dritte (!) der befragten 18- bis 35-jährigen Männer, finden es akzeptabel, wenn Männern im Streit bei der Partnerin «gelegentlich die Hand ausrutscht». 34 Prozent der befragten Männer gaben an, dass sie gegenüber Frauen schon mal handgreiflich werden, um ihnen «Respekt einzuflössen». Das zeigt die neue Studie «Spannungsfeld Männlichkeit» des Kinderhilfwerks «Plan International Deutschland».

Wenn ich solche Zahlen sehe, könnte ich kotzen. In mir zieht sich alles zusammen – ich finde es das Schlimmste, dass Frauen geschlechtsspezifische Gewalt erleben müssen. Diese fängt mit täglichen «Kleinigkeiten» wie verfestigten toxischen Rollenbildern, sexistischen Witzen oder frauenfeindlicher Sprache an, geht über Slutshaming oder sexuelle Belästigung – und reicht bis zum Femizid.

Auch in der Schweiz: Frauen werden etwa deutlich häufiger als Geschädigte häuslicher Gewalt registriert als Männer, der Frauenanteil liegt aktuell bei 70,2 Prozent (2022). Ich gehe am 14. Juni also auf die Strasse, um für das gewaltfreie Leben von Frauen und all jenen zu demonstrieren, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden. Denn so abgelöscht, hoffnungslos und wütend ich oft bin, dass wir immer noch dafür kämpfen müssen, einfach nur in Ruhe existieren zu wollen, so kraftvoll ist es zu spüren, dass man damit nicht allein ist.

«Ist die Sicherheit bedroht, sind sogenannte ‹Frauenanliegen› das Erste, das geopfert wird»

Helene Aecherli

Reporterin und Redaktorin Helene Aecherli: «Warum regt sich kein nennenswerter Widerstand gegen die steigende atomare Bedrohung?!»

Wenn ich am Tag des Streiks auf die Strasse gehe, dann für den Weltfrieden. Oder konkreter: gegen die steigende atomare Bedrohung. Ich weiss, das hört sich jetzt schrecklich vermieft nach 1970 an, aber gemäss des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri haben die neun Nuklearmächte im vergangenen Jahr rund 83 Milliarden Dollar für die atomare Aufrüstung ausgegeben, 3 Prozent mehr als 2021. Derzeit dürfte das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen so hoch sein wie nie zuvor seit dem Kalten Krieg. Dass sich dagegen kein nennenswerter Widerstand vonseiten der Zivilgesellschaften regt, macht mich fassungslos.

Dass es meines Wissens selbst innerhalb der feministischen Bubble kein Thema ist, ebenso. Denn jegliche Bemühungen um Gleichstellung gedeihen nur auf der Basis einer kollektiven physischen Sicherheit. Ist sie bedroht, sind sogenannte «Frauenanliegen» das Erste, das geopfert wird. Zudem widerspiegelt eine derartige generelle globale Gewaltbereitschaft auch die Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen. Ein trauriges Beispiel hierfür ist Afghanistan. Schlagzeilen generieren die Schicksale der afghanischen Mädchen und Frauen jedoch längst nicht mehr. Grund genug, sich am 14. Juni das grössere Bild vom Zusammenhang zwischen Frieden und Frauenrechten in Erinnerung zu rufen.

Sorgen macht mir zudem die Segmentierung der Gesellschaft und die damit verbundene wachsende Intoleranz. Menschen werden nach Zugehörigkeiten kategorisiert und schubladisiert – etwas, das wir doch eigentlich längst überwunden glaubten. Wir haben verlernt, einander unvoreingenommen zu begegnen, mehr noch: Wir haben verlernt, einander zuzuhören. Argumentiert wird zunehmend mit ideologisch gefärbtem Halbwissen, immer öfter mit Angst, im schlimmsten Fall gar nicht mehr. Aus diesem Grund plädiere ich für eine neue Debattenkultur; eine humanistische Debattenkultur, die den Balanceakt über die Schubladen hinweg schafft und in der Ambivalenzen verhandelt und ausgehalten werden können.

Editor-at-large Jacqueline Krause-Blouin: «Ich wiederhole mich so lange, wie es nötig ist»

Wir wiederholen uns? Ja! Und zwar solange, bis endlich Lohngerechtigkeit herrscht. Und ihr könnt mir glauben, ich kann es selbst nicht mehr hören: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Nulltoleranz für Sexismus am Arbeitsplatz und Luft zum Atmen für Familien. Dafür werde ich immer und immer wieder auf die Strasse gehen. Besonders am Herzen liegt mir die Individualbesteuerung, meiner Meinung nach einer der wichtigsten Hebel für echte Gleichstellung.

So ein physischer Streik hat eine ganz andere Kraft als jede Debatte, die wir hinter unseren Bildschirmen führen. Ich freue mich auf diese Welle der Frauensolidarität – auch von Männern.

«Mich verstört, in welcher Häufigkeit erwiesene Sachverhalte wie der Gender Pay Gap als Quatsch diffamiert werden»

Sarah Lau

Redaktorin Sarah Lau: «Ich will nicht in einem resignierten Seufzer enden»

Ich gehe auf die Strasse, weil ich bei mir selbst Ermüdungserscheinungen bemerke und nicht in einem resignierten Seufzer enden will. Manchmal erscheint alles so mühsam: Denn mal ehrlich, diskutieren wir immer noch über Lohngleichheit? Müssen sich arbeitende Mütter nach wie vor anhören, die Karriere auszuschlagen, weil sie lieber daheim Chef spielen wollen? Statt in der reinen Deklaration der Missstände zu verharren, erhoffe ich mir Austausch statt Frontenbildung und konstruktive Lösungsansätze. Ach ja und, verrückt: Spass. Freude am gemeinsamen Nenner und an neuen Perspektiven.

Ich bin immer wieder darüber erschrocken, welcher Wut und Ignoranz Menschen ausgesetzt werden, die etwa für Gleichstellung und Frauenrechte eintreten. Ich bin verstört, in welcher Häufigkeit erwiesene Sachverhalte wie der Gender Pay Gap als Quatsch diffamiert werden. Aber auch darüber, wie vorschnell und hasserfüllt Menschen ständig mit Labeln versehen werden und die Gesellschaft sich selbst zerlegt.

Den Blick für Grauzonen schärfen bedeutet auch, ein Mehr an Möglichkeiten zu erkennen. Eine Haltung entwickeln zu dürfen, sich seine Meinung zu bilden, erfordert einen Austausch im geschützten Raum. Ich etwa bin zwiegespalten, was die Umbenennung des Frauenstreiks in «feministischer Streik» anbelangt und bin erpicht, mit einem andersdenkenden Gegenüber ins Denken zu kommen.

Auch wenn ich Wut als Katalysator anerkenne, um etwas in Gang zu bringen und sich aufzulehnen, würde ich mir wünschen, dass am 14. Juni nicht Zorn dominiert, sondern kühle Köpfe und ein offener Geist.

 

Komm am 14. Juni bei uns vorbei!

Zum feministischen Streiktag am 14. Juni fragen wir: Wie können wir Arbeit neu denken? Am annabelle-Podium im Hof des Landesmuseums Zürich diskutieren wir um 20 Uhr Ideen und Visionen bei Gelati, Drinks – und Dolly Parton. Join us! Der Eintritt ist frei. Hier gibts alle Infos.

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