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Allein gegen Nestlé: Kampf gegen Grosskonzern

Leben

Allein gegen Nestlé: Kampf gegen Grosskonzern

  • Text: Barbara Achermann; Fotos: Sébastien Agnetti

Jahrelang war Yasmine Motarjemi bei Nestlé für die Lebensmittelsicherheit zuständig. Nun zieht sie gegen den Multi vor Gericht. Ihr Kampf begann mit einem Babybiskuit.

Yasmine Motarjemi liest die Reklamationen der Kunden und erschrickt. Eltern und Grosseltern berichten von Säuglingen, die sich an Babybiskuits von Nestlé verschluckt hatten. Es sind dramatische Schilderungen. Gemäss Dokumenten, die annabelle vorliegen, rangen die betroffenen Kinder nach Luft, manche Eltern mussten sie kopfüber drehen, um die harten Stücke aus dem Rachen zu schütteln. Eine Mutter schreibt, dass ihre achteinhalb Monate alte Tochter fast erstickt sei: «Sie wurde violett im Gesicht und hustete, ohne ihren Atem wiederzufinden.» Die Mutter steckte der Kleinen den Finger in den Hals, bis diese das verkeilte Biskuit erbrach.

Motarjemi war zu Ohren gekommen, dass es in Frankreich ein Problem mit den Babybiskuits gebe. Deshalb hatte sie von den französischen Kollegen eine Liste aller Reklamationen angefordert. Dass diese so zahlreich sein würden, hatte sie nicht erwartet. Sie addiert die Reklamationen, 44 in nur einem Jahr – und ist alarmiert. Nicht zuletzt deshalb, weil eine Faustregel der Nahrungsmittelindustrie besagt, dass sich hinter jedem Beschwerdeschreiber mindestens zehn weitere Betroffene verbergen, die den Aufwand scheuten. Was in aller Welt ist da los?, fragt sie sich und handelt sogleich. Sie informiert diverse Direktoren und schreibt, das Problem mit den Babybiskuits verdiene «höchste Aufmerksamkeit» – ohne zu ahnen, dass diese Geschichte sie noch Jahre später beschäftigen würde.

Das war 2003. Damals arbeitete Yasmine Motarjemi bei Nestlé als Global Food Safety Manager. In dieser Position war sie zuständig für die weltweite Lebensmittelsicherheit und weit oben in der Hierarchie des Konzerns. Sie pendelte von ihrer Wohnung in Nyon zum imposanten Hauptsitz in Vevey, vor sieben Uhr küsste sie ihren Sohn zum Abschied und kam häufig erst nach sieben wieder heim, flog manchmal für Konferenzen ins Ausland oder besuchte Fabriken. Sie versuchte ihr Wissen einzubringen, wenn in Italien die Babynahrung plötzlich Tinte enthielt, in Venezuela Hunde und Katzen an Tierfutter krepierten oder in den USA Menschen wegen des Nestlé-Guetsliteigs auf der Intensivstation lagen. Gleichzeitig baute sie ein System auf, das solche Skandale verhindern sollte, mit Checklisten, Datenbanken und Schulungen. In ihren Unterlagen ist nachzulesen, dass sie das Management regelmässig auf Missstände aufmerksam machte. Zehn Jahre arbeitete sie bei Nestlé – bis sie 2010 fristlos entlassen wurde. Was war geschehen?

«Man wollte mich einschüchtern», sagt sie heute und legt ihre manikürten Hände auf den polierten Holztisch. Yasmine Motarjemi ist sechzig Jahre alt, kleidet und bewegt sich wie eine vornehme Dame. Ihre Wohnung in Nyon liegt nah am See und spiegelt den Lebensstil einer wohlhabenden Intellektuellen: volle Bücherregale, Perserteppiche, ein Piano. Das Rätsel um die Babybiskuits habe sie damals schnell gelöst. «Es lag am französischen Mehl», sagt sie, «es verklebte im Mund und wurde hart, anstatt sich mit dem Speichel aufzulösen. In anderen Ländern, zum Beispiel Deutschland, hatten sich ebenfalls Kinder verschluckt, aber es waren einzelne harmlose Fälle.» Motarjemi ist überzeugt: «Die Biskuits aus Frankreich waren lebensgefährlich.» Diese Meinung teilt die Konzernspitze von Nestlé bis heute nicht. Obwohl die Kundenreklamationen bekannt waren, reagierte man über ein Jahr lang nicht und liess die Biskuits unverändert in den Regalen. Nestlé-Vizedirektor Anthony Huggett sagte noch 2012 gegenüber der «Handelszeitung»: «Es kommt hie und da vor, dass sich Babys verschlucken. Nur in sehr seltenen Fällen hat dies schwerwiegende Folgen.»

Für den weltweit grössten Lebensmittelkonzern war die interne Kontroverse um die Babybiskuits, so macht es zumindest den Anschein, ein Bagatellfall. Nestlé ist ein Gigant und verkauft täglich 1.2 Milliarden Produkte. In einer Woche gehen mehr Nestlé-Artikel über den Ladentisch, als Menschen auf der Welt leben. Dass da auch Fehler passieren, ist also nicht die Frage. Die Frage ist: Geht Nestlé professionell damit um?

Im Rückblick ist die Sache mit den Babybiskuits auch für Yasmine Motarjemi nur eines von vielen globalen Foodproblemen, mit denen sie sich damals beschäftigte. Aber der Fall steht ihrer Meinung nach exemplarisch dafür, wie das grösste Schweizer Industrieunternehmen mit seinen Schwächen umgeht: «Wenn die Chance besteht, dass ein Fehler nicht auffliegt, dann kehrt man ihn unter den Teppich.» Gleichzeitig bedeuteten die Babybiskuits für ihre Karriere den Anfang vom Ende. Der Kollege aus Frankreich, den sie für seine passive Haltung kritisiert hatte, wurde nicht etwa gerügt, sondern befördert. Einige Jahre später wurde er sogar Motarjemis direkter Vorgesetzter. Dieser Manager, der hier nur mit seinen Initialen R. S. genannt wird, ist auch der Grund, weshalb Yasmine Motarjemi gegen Nestlé vor Gericht zieht. Sie wirft ihm und der Konzernleitung vor, man behabe sie gemobbt. Motarjemi meint den Grund dafür zu kennen: «Ich war ihnen lästig, weil ich meinen Finger immer wieder von neuem auf die wunden Punkte in der Lebensmittelsicherheit legte.» In den Prozessunterlagen dokumentiert sie nebst den Babybiskuits weitere Versäumnisse, auf die sie aufmerksam gemacht hatte; unter anderem falsch dosiertes Vitamin A und D in Babymilchpulver. Obwohl Motarjemi schriftlich informiert hatte, dass man die gesetzliche Norm nicht einhalte, dauerte es erneut über ein Jahr, bis das Management reagierte.

Am 16. Dezember findet in Lausanne die Verhandlung statt. Diverse hohe Nestlé-Kader müssen vor Gericht erscheinen, selbst Konzernchef Paul Bulcke und Nespresso-CEO Jean-Marc Duvoisin. Nestlé hat mehrmals Rekurs eingelegt, ist aber abgeblitzt. Das gibt Yasmine Motarjemi Rückenwind. Trotzdem ist der Prozess ein klassischer Fall von David gegen Goliath. Die Wissenschafterin und ihr Anwalt kämpfen allein gegen den Giganten mit seiner Entourage von Juristen. Vermutlich wird kein Zeuge für Motarjemi aussagen. Sie hat zwar E-Mails von ehemaligen Kollegen bekommen, die sie moralisch unterstützen und gegen die Konzernleitung wettern, aber keiner hat sich bereit erklärt, vor Gericht auszusagen oder mit Journalisten darüber zu reden. Ihre Anklage stützt sich deshalb ausschliesslich auf Dokumente.

E-Mails und Berichte füllen mehrere Ordner in ihrem Studierzimmer, fast täglich bereitet sie sich auf den Rechtsstreit vor. Motarjemi trinkt Wasser mit Gurken- und Zitronenscheiben, nicht von Nestlé abgefüllt, sondern aus dem Wasserhahn. Sie sagt, sie vertraue dem Konzern nicht mehr: «Es sind nicht die Lebensmittelexperten, die letztlich entscheiden, ob ein Produkt in den Supermarkt kommt, sondern Businessleute. Sie wollen nur eins: Geld machen.»

Nestlé weist alle Vorwürfe zurück. «Nestlé toleriert keinerlei Belästigungen. Auch in Bezug auf die Qualität unserer Produkte sind die Behauptungen von Frau Motarjemi völlig unbegründet», so Sprecher Alexander Antonoff. Die Qualität und Sicherheit habe immer oberste Priorität. Antonoff betont, dass weltweit 5000 Mitarbeiter für den Bereich Food Safety zuständig seien. Nicht der Konzern, sondern Yasmine Motarjemi selber habe sich in der Lebensmittelsicherheit Fehler zuschulden kommen lassen. «Dies ist der Grund, weshalb wir uns 2010 von Yasmine Motarjemi trennen mussten», kommuniziert das Unternehmen. Auf die Frage, was das für Fehler gewesen seien, verweist Nestlé auf das laufende Verfahren. Man werde sich zu einzelnen Aspekten nicht öffentlich äussern.

Nestlé fürchtet beim Prozess um die Sicherheit der Unternehmensleitung. Aktivisten könnten «Schwierigkeiten machen», zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg einen Nestlé-Anwalt. Die Sorge ist wohl nicht ganz unbegründet. Der Multi ist, gelinde gesagt, unbeliebt. «Weshalb gehört Nestlé zu den meistgehassten Unternehmen der Welt?», fragte kürzlich ein Wissenschaftsmagazin.

Das Unternehmen hat eine lange Geschichte von Skandalen. Die ersten Negativschlagzeilen gab es bereits in den Siebzigerjahren. «Nestlé tötet Babys», schrieb seinerzeit eine Schweizer Entwicklungshilfegruppe. Einer der Anwälte gegen Nestlé war der spätere Bundesrat Moritz Leuenberger. Er und verschiedene Organisationen weltweit kritisierten den Konzern für seine aggressive Milchpulverwerbung in der Dritten Welt. Nestlé-Angestellte hatten sich sogar als Krankenschwestern verkleidet, um Mütter zu überzeugen, ihre Babys mit Nestlé-Pulver zu füttern, anstatt sie zu stillen. Weil die Frauen das Pulver manchmal mit schmutzigem Wasser mischten oder zu stark verdünnten, starben zahlreiche Babys.

Heute konzentriert sich die Kritik mehr auf das Milliardengeschäft mit dem Trinkwasser, die Abholzung von Regenwald für Palmöl oder generell auf ungesunde Produkte. Im vergangenen Jahr wurde Nestlé von der Konsumentenorganisation Foodwatch für die «dreisteste Werbelüge» des Jahres ausgezeichnet. Der zuckrige Brei Alete wird als besonders gesunde Mahlzeit beworben, Kinderärzte hingegen warnen vor Überfütterung und Karies. In Indien fiel der Schweizer Konzern wegen seiner Maggi-Nudeln in Ungnade. Sie waren das beliebteste Fertiggericht der Inder, bis die Behörden im Juni einen Verkaufsstopp anordneten, wegen zu viel Blei und nicht deklarierter Geschmacksverstärker. Es folgte die grösste Rückrufaktion der Firmengeschichte, Nestlé musste 400 Millionen Nudelpäckchen in ganz Indien einsammeln und vernichten. Zwar hat ein Gericht in Mumbai das Verkaufsverbot unterdessen aufgehoben, aber der Rückruf schadete dem Umsatzwachstum – und der Reputation.

Den Ruf aufpolieren, das dürfte denn auch damals das Ansinnen der Nestlé-Führung gewesen sein, als man Yasmine Motarjemi ins Boot holte. Nestlé machte ihr zwei Jahre lang den Hof, um sie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) abzuwerben. Anscheinend lag damals einiges im Argen, denn Nestlé gab sich in einem Brief selbstkritisch: «Die Industrie muss die Lebensmittelsicherheit besser und schlüssiger vorantreiben. Dies zu erreichen, wäre Ihr Ziel.» Als Motarjemi den neuen Arbeitsvertrag unterschrieb, hatte sie bereits eine steile Karriere hinter sich. Im Iran geboren und aufgewachsen, konnte sie dank eines Stipendiums in Frankreich studieren. Später doktorierte sie in Schweden und arbeitete in verschiedenen Ländern als Beraterin. Motarjemi ist ein wissenschaftliches Schwergewicht, sie publizierte mehrere Bücher, darunter ein preisgekröntes Fachbuch und eine vierbändige Enzyklopädie zur Lebensmittelsicherheit.

Honeymoon Period, Flitterwochenzeit, so nennt man in grösseren Unternehmen die paar ersten Jahre nach der Anstellung. Die Chefs sind quasi frisch verliebt, sie mögen einen, weil man neu ist. Auch Motarjemi kam gut an, die alljährlichen Zeugnisse waren überschwänglich, es heisst darin, ihre Leistungen lagen «weit über den Erwartungen». Doch von einem Jahr auf das andere fiel die Qualifikation miserabel aus. Der neue Chef R. S., den Motarjemi einst für seinen passiven Umgang mit den Babybiskuits kritisiert hatte, schrieb das vernichtende Zeugnis. Motarjemi sagt, er habe ihr fortan das Leben schwer gemacht. Sie fragte ihn damals schriftlich, weshalb er Informationen an ihr vorbeischleuse und sie zu wichtigen Meetings nicht mehr einlade. Zudem habe er sie mit kleinen Seitenhieben erniedrigt. Er kündigte ihre drei Zeitungsabos mit der saloppen Begründung: «Du kannst deine Informationen googeln.» So steht es in einem der zahlreichen E-Mails, die Motarjemi gesammelt hat. In einem anderen gibt die Sekretärin von R. S. zu, sie habe Motarjemis private Nachrichten gelesen und dem Chef rapportiert. Zu viel für Yasmine Motarjemi: Sie teilt der Personalabteilung und später sogar der Konzernleitung mit, sie werde offensichtlich gemobbt.

Als alleinerziehende Mutter und Frau über fünfzig kündigt man nicht von einem Tag auf den anderen den Job. Trotzdem ist schwer nachzuvollziehen, weshalb Motarjemi nicht von sich aus gegangen ist. Sie selbst sagt, sie habe durch die ständigen Anschuldigungen ihr ganzes Selbstvertrauen verloren. «Mir fehlte der Mut, mich anderswo zu bewerben. Gleichzeitig wusste ich, ich hatte nichts Falsches getan, also wollte ich bleiben und weiterhin auf die Missstände bei Nestlé aufmerksam machen.»

Während ihrer letzten Monate bei Nestlé sammelte Yasmine Motarjemi belastendes Material. Unter anderem ein Video. Sie holt ihr Notebook aus dem Studierzimmer und klickt einen Film an, mit dem Nestlé 2008 seine Mitarbeiter schulte. Ihr ehemaliger Vorgesetzter R. S. doziert in helvetischem Englisch über Lebensmittelsicherheit: «Kontrollen haben gezeigt, dass wir eine Menge Schwächen in unseren Fabriken aufweisen und in der Forschung und Entwicklung.» Wie man diese Schwächen konkret beheben könnte, darauf geht der Manager nicht ein. Vielmehr mokiert er sich über das System, das sie ans Licht brachte. Es hat den unsäglichen Namen Hazard Analysis and Critical Control Points, abgekürzt HACCP. In der Schweiz und der EU ist es für Lebensmittelbehörden obligatorisch. Während ihrer Zeit bei der WHO hatte Motarjemi mitgeholfen, HACCP aufzubauen und weiterzuentwickeln. Der Nestlé-Direktor sagt im Video, das System sei nicht anwendbar, und nennt es wörtlich «WHO-Blabla». Motarjemi kichert verlegen, als schäme sie sich für ihren einstigen Vorgesetzten.

Dann macht dieser eine Aussage, die man zweimal zurückspulen muss, um sicherzugehen, dass man sich nicht verhört hat: «Wenn Sie Risiken identifizieren, lassen Sie sich nicht ablenken von kontaminierten Rohmaterialien und Rückständen (…) Diese stellen kein bedeutsames Risiko in unseren Fabriken dar.»

Bloss: Bei den Lebensmittelskandalen der vergangenen Jahre ging es meist just um unsauberes Rohmaterial: Das in Europa als Rindfleisch deklarierte Pferdefleisch, das zu Nestlé-Lasagne verarbeitet wurde. Die melaminverseuchte Milch in China, aus der Nestlé Babypulver machte. Das mit Mineralöl gestreckte Sonnenblumenöl in der Ukraine. Das vergiftete Korn in Venezuela. Und so weiter.

Yasmine Motarjemi klappt das Notebook zu und atmet tief ein. «Ich muss mich ständig selber mahnen, ruhig zu bleiben.» Seit ihrer Entlassung vor fünf Jahren sei sie psychisch angeschlagen und arbeitsunfähig. Für ihre verlorenen Gehälter und psychiatrischen Behandlungen verlangt sie von Nestlé zwei Millionen Franken. «Ich bin müde und verbittert. Wenn ich an meine frühere Arbeit denke, wird mir schlecht.» Tatsächlich wirkt sie dünnhäutig, mitunter versagt ihre Stimme. Dennoch freut sich Motarjemi auf die Verhandlung: «Endlich muss sich die Unternehmensleitung meinen Fragen stellen.» Motarjemis Chancen, den Prozess zu gewinnen, sind klein, denn Mobbing ist grundsätzlich schwierig zu beweisen. Experten wie etwa Claudia Stam-Wassmer von der Mobbing-Beratungsstelle Zürich und Bern raten ihren Klienten deshalb meistens ab, vor Gericht zu gehen. Aber selbst wenn Motarjemi verliert, gewinnt Nestlé nicht unbedingt. Denn der Prozess wird international für Schlagzeilen sorgen, Bloomberg und «Le Monde» haben bereits Vorschauen publiziert. Es wird einmal mehr der Verdacht aufkommen, dass Nestlé den Profit höher gewichtet als die Sicherheit seiner Kunden.

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Selbst wenn sie den Prozess verliert, gewinnt Nestlé nicht unbedingt: Yasmine Motarjemi mit Unterlagen zum Fall