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Private Flüchtlingshilfe: Das Schiff der Hoffnung

Leben

Private Flüchtlingshilfe: Das Schiff der Hoffnung

  • Text: Marc Zollinger; Fotos: Annette Schreyer

Sie retten Migranten aus dem Mittelmeer. Dafür werden die Catrambones bewundert, aber auch kritisiert. «Wir können etwas tun», sagen sie, «also tun wir es. Basta!»

Der Blick geht immer wieder aufs Mittelmeer. Aber nicht wie einst. Sehnsüchtig die Sommerferien erwartend. Endlich abschalten!

Heute schauen wir ratlos hin angesichts der Dramen um die Flüchtlinge. Zusammengepfercht auf Schlauchbooten sitzend. Aus sinkenden Kähnen ins offene Meer und in den Tod springend. Stets gibt es neue Gruselgeschichten. Andere Wahnsinnsbilder. Seit 2000 sind mehr als 25 000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Eine Tragödie mit epischen Dimensionen nennt es die Uno. Derweil die europäische Politik verzweifelt nach Rezepten sucht. Allzu human darf es nicht sein. Das vergrault die rechten Wähler. Aber auch nicht allzu hartherzig. Später wird man sich möglicherweise dafür verantworten müssen. Keine Diskussionen gibt es nur um die Identifizierung des Bösen. Das sind die Schlepper, die aus schierer Not viel Geld machen. Und, das Allerletzte: In Italien gibt es bereits Leute, die keinen Fisch aus dem Mittelmeer mehr essen. Wer weiss schon, wovon sich der ernährt hat.

Das Mittelmeer: ein Thema zum Abschalten.

Und mittendrin schwimmen frisch-fröhlich Regina (38) und Christopher (34) Catrambone mit Tochter Maria Luisa (18). Die Millionäre aus Malta haben international für viele Schlagzeilen gesorgt. Bieten sie doch endlich eine positive Geschichte: Das eigene Vermögen verprassen, um damit Flüchtlingen zu helfen. «Bis jetzt 6921 Leben gerettet» steht gross auf ihrer Homepage. Der Ticker wird stets aktualisiert. Mit jedem Tag draussen auf hoher See kommen durchschnittlich hundert Seelen dazu.

Auf der Phoenix

Wir haben die Familie kurz vor dem Start in die zweite Saison getroffen. Es ist Anfang Mai. Die Wintermonate mit den Wetterturbulenzen sind vorbei. Das Meer hat sich zu beruhigen begonnen. In diesen Zeiten ist das allerdings ein Grund zur Beunruhigung: Schönes Wetter, wenig Wind und Wellen bedeuten, dass die Schlepper ihre Boote aufs offene Meer schicken.

Die «Phoenix», so heisst das vierzig Meter lange Rettungsschiff, wird gerade auf Vordermann gebracht. Die Arbeiter streichen Aussenwände, bringen medizinisches Material an Bord, stapeln Rettungswesten. Der Kameramann von Sky TV sucht nach einem geeigneten Standort für die heutige Livesendung. Auf einem Sofa im Innenraum sitzt der Internetjournalist. Normalerweise berichtet er aus dem Irak oder aus Syrien. Für einmal schiebt er eine ruhige Kugel, was dem jungen Mann fast peinlich zu sein scheint. Und draussen an der Reling telefoniert der Pressebeauftragte der Catrambones. Die US-«Vogue» will Regina interviewen.

Christopher, der Ehemann, fährt schliesslich als Erster mit seinem SUV in der Werft vor. Wir begegnen uns am Seiteneingang des Schiffs.

«Hi, I am Chris Catrambone», sagt der Grossgewachsene in breitem Amerikanisch und streckt die Hand aus. Das Lächeln, das den kräftigen Händedruck begleitet, lässt einen selbstbewussten Menschen erkennen. Einen, der weiss, wie man Punkte anbringt: «Wir befinden uns zufälligerweise am wichtigsten Ort des ganzen Schiffs.»

Ohne Pause und Floskeln legt er los: Hier, über diesen seitlichen Einstieg, gelangen die Flüchtlinge an Bord. Stehen also nach Stunden des Horrors vor dieser schmalen Lücke, die nur eine Person aufs Mal durchlässt. Es ist der Moment. Der zutiefst ersehnte Moment, wenn die Füsse endlich wieder sicheren Boden betreten. Ist das einmal geschehen, beginnen die Gesichter zu fliessen. Die Qualen, Nöte, Todesängste perlen ab. Übrig bleiben Erleichterung, Freude, Dankbarkeit. Nicht selten werden diese Gefühle von neuen Ängsten verdrängt: Bin ich hier wirklich sicher? Oder fahren die mich wieder zurück?

Selbst die Hartgesottensten im Rettungsteam hätten in solchen Momenten grösste Mühe, die Tränen zu verkneifen. Mit jedem einzelnen geretteten Leben fühle es sich nämlich so an, als ob die ganze Menschheit vor dem Untergang gerettet wäre. Und dann wird Christopher Catrambone laut: «Darum sollte jeder Politiker, der über das Schicksal der Flüchtlinge zu entscheiden hat, einmal an Bord kommen, sollte in diese Augen schauen.» Hat er einmal zu reden begonnen, ist der Advokat der Menschlichkeit nur schwer zu stoppen.

Regina Catrambone ist etwas zurückhaltender. Aber geht es um moralisch-ethische Standpunkte, wird auch sie resolut. «Kein Mensch darf im Meer ertrinken!», sagt sie mit scharfer Stimme. Ihre grossen Augen direkt in das Augenpaar ihres Gegenübers gerichtet, teilt sie mit, dass sie jetzt keinen Widerspruch duldet. Während die Politiker nach Lösungen suchen, wolle sie einfach nur Leben retten. Nothilfe auf See. Nicht mehr, nicht weniger. Basta!

Wir ziehen uns für das Gespräch in den Kommandoraum des Schiffs zurück. Das ist heute der ruhigste Ort an Bord. Es sagt aber auch etwas über die Aufgabenteilung aus: Er steht vorne, wo sich das Abenteuer abspielt. Sie koordiniert im Hintergrund. So halten sie es auch in ihrer gemeinsamen Firma, mit der sie schnell reich geworden sind. Die Tangiers Group bietet Dienstleistungen in Krisengebieten an. Etwa Versicherungen für freie Kriegsjournalisten. Der junge Mann auf dem Sofa ist ein Kunde.

Vor nur zehn Jahren haben sich die beiden kennen gelernt. Christopher Catrambone war damals selber so etwas wie ein Flüchtling: Der Hurrikan Katrina hatte ihn obdachlos gemacht. Auf der Suche nach seinen Wurzeln verliess er New Orleans und reiste nach Italien, an die kalabrische Küste. Sein Urgrossvater war von dort nach Amerika gezogen. Ein Wirtschaftsflüchtling also, wie man heute sagen würde.

Zufälligerweise befindet sich die Wohnung, die der junge Amerikaner gemietet hat, gleich neben Reginas Elternhaus. Sie besucht ihn öfter. Ist fasziniert von seinem Tatendrang. Ganz der Amerikaner, zeigt er wenig Hemmungen, setzt sich keine Grenzen. Carpe diem ist Christophers Leitspruch. Mach das Beste aus dem Tag! Schliesslich könnte es dein letzter sein. Der junge Mann zögert dann auch nicht, noch im gleichen Sommer bei Reginas Vater um ihre Hand anzuhalten. Und zeigt ihr auf diese Weise auch, dass er nicht nur unorthodox sein kann. Mit in die Ehe bringt sie Maria Luisa, die Tochter aus einer früheren Beziehung.

Zu dritt stehen sie nun vorne am Bug und posieren für die Fotografen. Kleider, Accessoires, Haare, Styling bis hin zu Christophers Hipster-Bart – alles, wie immer, sorgfältig ausgewählt und akkurat zurechtgemacht. Verantwortlich dafür ist Regina. Ganz Süditalienerin, legt sie viel Wert auf ein gepflegtes Äusseres. Im schrillen Kontrast dazu die Arbeitskluft beim Erste-Hilfe-Einsatz auf hoher See: weisser Overall, Kapuze über dem Kopf, Mundschutz. Das heute klassische Katastrophentenü.

Wer sich so ins Rampenlicht setzt, erntet natürlich nicht nur Bewunderung. Immer wieder werden die Catrambones kritisiert: Unnötige Einmischung, Gratis-Fährdienst und vieles andere mehr kommt jenen in den Sinn, die gewohnt sind, das sichere Boot, in dem sie selber sitzen, voll zu sehen statt mit ausreichend Fassungsvermögen ausgestattet. Die Antwort darauf ist stets die gleiche: «Da draussen sterben Menschen. Wir können etwas tun. Also tun wir es. Basta!»

Wie es dazu gekommen ist, diese Geschichte müssen die Catrambones an diesem Tag immer wieder erzählen. Schliesslich ist sie nicht nur filmreif. Sie lädt auch dazu ein, sich vorzustellen: Wie wäre es, wenn ich den ausgetretenen Pfad eines selbstbezogenen Lebens verlassen würde? Die Antwort der Catrambones: Es würde einen enormen Schub geben. Neuen Sinn. Und es würde sogar auch viel Spass machen.

Zwischen Nordafrika und Lampedusa

Die Geschichte allerdings beginnt dort, wo sich die Tragödien abspielen: auf dem offenen Meer zwischen Nordafrika und Lampedusa. Es ist das Frühjahr 2013. Regina und Christopher haben eine Jacht gemietet, um ihre ersten Millionen zu feiern. Als die beiden an einem Cocktail nippen, werden sie einer beigen Jacke gewahr, die im Meer treibt. Der Kapitän der geheuerten Jacht sagt, dass die wohl einem jener Menschen gehöre, die in Europa Zuflucht suchen. Einem jedoch, der es nicht geschafft habe. Dieses Erlebnis führt zu einem moralischen Dilemma: Wie kann jetzt noch der Reichtum genossen werden? Weitere Ereignisse folgen Schlag auf Schlag: das bis dahin grösste Drama mit 366 Toten im Oktober 2013, Hilferufe der italienischen Regierung und, vor allem, der eindringliche Appell von Papst Franziskus. Als erste Amtshandlung war er nach Lampedusa zu den Flüchtlingen gereist und warnte vor der «globalen Gleichgültigkeit».

Das ist schliesslich der entscheidende Aufruf ans Gewissen. Die Catrambones beginnen zu handeln. Sie lassen sich von Anwälten über die rechtliche Situation informieren. Sie gründen die Nichtregierungsorganisation Migrant Offshore Aid Station (Moas). Kaufen in Amerika ein vierzig Meter langes Schiff. Mieten zwei Drohnen, die selbst weit entfernte Gebiete überfliegen können und Informationen über Schiffe mit Migranten liefern. Sie heuern erfahrene Seeleute an, darunter auch den soeben in Pension gegangenen Verteidigungsminister von Malta. Sie denken schlicht an jedes Detail. Etwa an den alten Schiffskompass. Diesen zeigen sie jeweils den an Bord aufgenommenen Flüchtlingen, das Gerät in die Fahrtrichtung haltend. So weist die Nadel in Richtung Norden. Für ihre Mission gaben die Catrambones im ersten Jahr acht Millionen Euro aus. Doch die entscheidende Zahl stand auch schon damals auf dem Ticker: 2729. «Das war doch ziemlich gut investiertes Geld», sagt Christopher Catrambone.

Nicht einmal 24 Stunden nachdem die Phoenix den Hafen von Malta für ihre zweite Saison verlassen hat, nimmt sie 369 Flüchtlinge auf, die in Seenot geraten sind. Die meisten stammen aus Eritrea. Darunter Schwangere und über vierzig Kinder. In Absprache mit den Autoritäten werden sie in die Auffangstation nach Sizilien gebracht. Und dann beginnt eine andere Geschichte.

Spirale des Elends

Sie kommen aus Syrien, Eritrea, Afghanistan, Somalia oder Nigeria: Auf der Flucht vor Krieg, Folter und Armut verlassen Scharen von Flüchtlingen ihre Heimat, getrieben von der Hoffnung, in Europa überleben zu können. Gemäss der International Organization for Migration (IOM) haben von Januar bis Ende Juni dieses Jahres 132 711 Flüchtlinge über Mittelmeerrouten Spanien, Italien, Malta und Griechenland erreicht. In Italien und Griechenland landeten je rund 66 000 Flüchtlinge. 1875 Menschen starben bei der Überfahrt. Das sind mehr als zweieinhalbmal so viele wie in derselben Zeitspanne 2014. Angesichts der Dunkelziffern dürften die realen Zahlen generell höher liegen. Die EU will künftig mit einer Militärmission verhindern, dass Flüchtlinge übers Mittelmeer geschleust werden. Marineeinheiten sollen gegen Schlepperbanden vorgehen. Da die EU für einen Militäreinsatz ein Uno-Mandat braucht, werden Schiffe und Überwachungsflugzeuge vorerst nur Informationen über die Schleusernetze sammeln.

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