
Hot Boys Cry: Wie unsexy sind Männer, die nicht weinen?
Der moderne Mann – wie soll er sein? Er darf Frauen verstehen und Gefühle zulassen. Was aber, wenn man(n) ums Verrecken nicht weinen kann? Von weichen Schalen und harten Kernen.
- Von: Linda Leitner
- Bild: Maximilian Baier
Als wir uns zum zweiten Mal sahen, wusste ich noch nicht viel über ihn – aber ich wusste bereits, dass ihm das Weinen schwerfällt. Er könne das nicht. An einem heissen Sommertag lungerten wir müde und leer-endorphiniert vom Wochenende in meiner Wohnung herum und jammerten ein bisschen.
Mit Luca aus Italien – Mitte zwanzig, Student in den letzten Zügen, der gern raved, auf Profilbildern Blumen hält, viel nachfragt und beim Sex relativ konsequent Consent einholt – schien ich den popkulturellen Stereotyp der Generation Z vor mir zu haben: Emotional authentisch und reflektiert, ein sogenannter Softboy, der Gefühle nur so rausballert.
Ist es ungesund, nie zu weinen?
Er versuche oft, zu weinen, sagte er. Manche seiner Freunde würden täglich heulen, um alles rauszuspülen. Er sei oft kurz davor. Es fühle sich an wie mit Verdauungsproblemen – man würde sich so gern entleeren, aber könne einfach nicht. Emotionale Verstopfung quasi. Aber wie ist das als moderner junger Mann so ganz ohne Tränen? Nimmt man ihm die Zartheit ab? Ist es problematisch – ja gar ungesund –, nie zu weinen?
Luca ist in bester Gesellschaft. Auch Goethes Werther hatte da seinerzeit Probleme: «Ich weinte nicht; mein Herz war voll, und ich hätte weinen mögen wie ein Kind, aber ich konnte nicht.» Das mit der Blockade ist so eine Sache, weiss Anousha Hadinia, Psychotherapeutin am Institute of Modern Psychology in Basel. Wer nicht weint, hat es eher verlernt: «Wenn wir auf die Welt kommen, weinen wir alle. Es ist ein wichtiges Tool, um Grundbedürfnisse zu stillen. Würden Babys nicht weinen, wüssten wir nicht, dass sie etwas brauchen», so Hadinia.
Hysterisch, labil – und schwach
Und dann treffen uns Sozialisierung, Erziehung und der eigene Charakter mit voller Wucht. Ab dem Teeniealter gilt Weinen oft als hysterisch, labil und unkontrolliert – bei Männern vor allem als schwach. Nun sind es aber gar nicht unbedingt die Fesseln des Patriarchats, die Männer davon abhalten, sich expressiv im Leid zu suhlen. Wie cool wir männliche Tränen finden, ist eher Zeitgeist-Sache: Bei antiken Völkern brachen in der Öffentlichkeit des Öfteren die Dämme, bei politischen Verhandlungen diente es als Druckmittel.
In der Romantik Ende des 18. Jahrhunderts lag die Stilisierung übertriebener Schwärmerei richtiggehend im Trend – und so auch, sich von Kunst und Literatur zu Tränen rühren zu lassen. Die immer noch vorherrschende Norm der maskulinen Gefühlskontrolle ist kulturelles Überbleibsel der Weltkriege, wo man wohl am liebsten gar nichts gefühlt hätte. Die bittersüsse Reaktion: das Konzept einer neuen, weichen, gründlich austherapierten Männlichkeit. Wer weint, sich verletzlich zeigt und an sich arbeitet, ist attraktiv und fuckable.
"Wer seine eigenen Emotionen nicht spürt, kann auch die Gefühle anderer schlechter nachempfinden"
Alexander Nicolaus aus Berlin druckt exakt dieses Versprechen mit seinem «emotional streetwear brand» Hot Boys Cry auf T-Shirts und Caps und hatte kürzlich noch eine Hot Sauce im Angebot, die besonderen Härtefällen mit ihrer Schärfe 100-prozentige Tränengarantie zusicherte.
Der Founder & Chief Crying Officer von Hot Boys Cry weiss: «Humor ist für Männer wichtig, um sich dem Thema anzunähern. Denn der einzige Moment, in dem es gesellschaftlich akzeptiert ist, zu weinen, ist, wenn beim Fussball der Lieblingsverein verliert – oder um drei Uhr morgens nach zwanzig Bier.»
Nicolaus will Jungs dazu ermutigen, sich zu öffnen. Auch nüchtern. Die damit verbundene Aussicht und erhöhte Chance auf Sex hilft da sicherlich. Die Dating-App Hinge bietet ebenfalls eine Steilvorlage: User:innen beantworten auf ihrem Profil individuell wählbare Fragen, um sich selbst möglichst schmissig zu präsentieren – eine davon lautet: «In meiner Therapie habe ich kürzlich gelernt …». Es empfiehlt sich dringlichst, mit Erleuchtung zu prahlen.
Antennen fürs Flennen
In der Popkultur lösten rot unterlaufene Augen schon 2017 spitze Schreie aus. Im Film «Call Me by Your Name» erfährt Timothée Chalamet aka Elio, dass die Liebe zu Oliver, die in einem Sommer voll saftiger Früchte so honigsüss herangewachsen war, keinen Sinn macht. Und während man mitschluchzte, war man ziemlich verknallt. In Timothée Chalamet, nicht in Armie Hammer, der den älteren souveränen Oliver spielte – mit machohaft offenem Hemd und Brusthaar. Der heulende Hering löste den harten Hollywood-Hunk als Crush ab.
Im letzten Jahr gingen «Hot Rodent Men» viral – ein Trend, der suggerierte, wir seien nun plötzlich alle hinter Celebrities mit Nagetier-Look her: schlaksig und harmlos, mit sanften, tiefliegenden und potentiell feuchten Augen. In der aktuellen Staffel der deutschen «Bachelors» erzählt Rosenmann Felix seinen Angebeteten bei jeder Gelegenheit, relativ ungefragt, er sei ein echt «softer Dad».
Der heulende Gym Bro
Bei «Germany’s Next Topmodel», wo auch dieses Jahr wieder männliche Kandidaten teilnahmen, wischten sich Heidi Klums Jungs im Wechsel den Schweiss vom hochgezüchteten Brustmuskel und die Tränen von den hohen Wangenknochen. Hach ja Mensch, der flennende Gym Bro – wenn das nicht irgendwie ein fleischgewordenes Wandtattoo ist: «Harte Schale, weicher Kern»
Ist ja auch super, Weinen ist heilendes Detox, körpereigene Selfcare. Es beruhigt und baut Stress ab. «Drücken wir schwierige Gefühle durch Tränen aus, sorgen wir für uns. Verlernen wir das, spüren wir unsere Bedürfnisse schlechter», so Anousha Hadinia. Und was passiert bei einer Blockade? «Wer seine eigenen Emotionen nicht spürt, kann auch die Gefühle anderer schlechter nachempfinden», so Hadinia. Auch das noch! Wer nicht weint, ist wirklich ein undatebarer Eisklotz? Eine wandelnde Red Flag?
Entwarnung: Tränen sind nicht der einzige Ausdruck von Emotionen und Empathie. Wer dennoch gern ganz dringend ein heulender Hot Boy wäre, kann dafür zahlen: Im Retreat «Boys don’t Cry» wohnen Männer beispielsweise in kleinen Kabinen in der Brandenburgischen Idylle, steigern die Fitness durch Workouts, Eisbaden und Yoga und widmen sich in Men's Circles meditierend, und achtsam atmend der inneren Reflexion.
Wie aber bringt man sie letztendlich zum Weinen? «Unser Ziel ist es nicht, jemanden zu brechen, sondern einen offenen, kraftvollen und wertfreien Raum zu schaffen», erklärt Co-Founder Benjamin Kühnemund. Geht das denn alles ohne Druck, wenn demonstrative Zartheit zum Anforderungsprofil eines modernen Mannes gehört? Emotionen sollten roh statt strategisch, weder kapitalisierbares noch gehyptes Selbstoptimierungstool sein. Das Schöne an Tränen ist ja eigentlich, dass sie nicht lügen.
Unser Proto-Softboy Werther löste vor 250 Jahren jedenfalls auch sämtliche Blockaden. Und sein Ghostwriter Goethe würde ihm heute vermutlich folgendes Zitat ins Dating-Profil tippen: «Ich weine viel. [...] Denn das ist mein einziges Glück.» Luca teilte auf seinem Hinge-Profil damals die Erkenntnis (auf die ich natürlich hereinfiel), Therapie sei teuer. Weinen konnte er meines Wissens bis heute nicht, hat aber inzwischen eine Freundin.
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