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Ich bin immer noch katholisch – warum eigentlich?

Ich bin immer noch katholisch – warum eigentlich?

Unsere Autorin ist katholisch – obwohl sie weder an Gott noch an die Institution der Kirche glaubt. Was zur Hölle hält sie davon ab, auszutreten? Ein Essay zur Gretchenfrage.

Jeden Tag gehe ich an der katholischen Kirche vorbei, auf dem Weg von meiner Wohnung zur Tramhaltestelle. Sie steht da wie ein Mahnmal. Dabei wohne ich in Zürich, einer Stadt, die für ihren Protestantismus berühmt ist. Jedes Mal frage ich mich: Warum bin ich eigentlich nie ausgetreten?

Ich glaube nicht an Gott. Ich gehe nie in die Kirche. Und ich dürfte eine potenzielle Partnerin nicht einmal kirchlich heiraten.

Jährlich überweise ich mit der Kirchensteuer Geld an eine Institution, die Frauen von wichtigen Ämtern systematisch ausschliesst, die jahrzehntelang sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen vertuschte und überdies meine Art zu lieben und zu begehren ablehnt. Und das, obwohl ich andere Leute bereits moralisch verurteile, wenn sie Rammstein hören.

Ich bin immer noch Mitglied der katholischen Kirche, und wenn jemand mich fragt, warum, sage ich etwas wie "Die Kirche macht auch gute Sachen, unterstützt soziale Projekte". Das stimmt, aber ich weiss auch: Das ist nicht der eigentliche Grund.

Der Grund ist: Ich bin eine Katholikin aus Sentimentalität. Ich verbinde Katholischsein mit Weihrauch, bunten Glasfenstern, tiefblauen Sternenhimmelkuppeln und dem Essen, das es bei meiner katholischen Grossmutter gab, als ich ein Kind war: Pfannkuchen mit Apfelmus, Butterzopf mit Honig, Filet im Teig (an Heiligabend).

Mein Vater ist reformiert und meine Mutter katholisch. Wir gingen nie in die Kirche, aber ich bin katholisch getauft, habe die Kommunion empfangen, wurde gefirmt. Meine Eltern handhabten das Thema Religion ein bisschen wie das Thema Skifahren: Ihre Kinder sollten es mal gelernt haben, aber dann selbst entscheiden, was sie damit anfangen.

Ich konnte viel damit anfangen, als ich ein Mädchen war. Gott war für mich ein Kummerkasten: Ich sprach vor dem Einschlafen mit ihm, vor allem, wenn ich Sorgen hatte, jemand im Krankenhaus war, etwas Schlimmes passiert war. Gott war zuständig für alles, was mir traurig und unerklärlich erschien. Für die Erstkommunion bearbeitete meine Schwester mir die Haare mit dem Kreppeisen und wir assen in der Pizzeria, Kennzeichen für einen besonderen Tag.

Was ich am meisten liebte, war Rorate, ein frühmorgendlicher Gottesdienst in der Adventszeit. Der Pfarrer erzählte eine Weihnachtsgeschichte, draussen war es finster. Danach frühstückten alle gemeinsam in einem Mehrzweckraum mit Parkettboden. Es gab Kakao und knuspriges Brot, das wir dick mit Butter bestrichen und anschliessend mit Schoggipulver bestreuten. "Rorate" kommt von rorare, tauen lassen: "Rorate caeli desuper", tauet von oben, ihr Himmel. Das bläuliche Morgenlicht trat durch die Fenster ein.

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"Kaum ein Thema löst bei mir derart gemischte Gefühle aus wie das Katholischsein"

2023 veröffentlichte die Universität Zürich eine Pilotstudie, die potenzielle Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche der Schweiz seit den 1950er-Jahren gesammelt und untersucht hatte. Die Forschenden fanden Belege für gut Tausend Fälle, drei Viertel davon betrafen Minderjährige. Sie gehen zudem davon aus, dass die belegten Fälle ein Bruchteil der tatsächlich geschehenen sind.

Die Bischofskonferenz, die Römischkatholische Zentralkonferenz und die Ordensgesellschaften kündigten daraufhin umfassende Massnahmen an: Ein kirchenrechtliches Strafgericht, besseres Überprüfen von Priestern, eine unabhängige Meldestelle für Betroffene. In der Hauptstudie, die Anfang 2024 startete, untersuchen die Forschenden die Strukturen der katholischen Kirche, die diesen Missbrauch möglich machten. Sie soll bis Ende 2026 dauern.

2023 traten in der Folge so viele Katholik: innen aus der Kirche aus wie noch nie zuvor, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Warum nicht ich? Heute sind noch etwa 20 Prozent der Schweizer:innen reformiert, 30 Prozent katholisch, gut 35 Prozent sind ohne Religionszugehörigkeit.

Meine Mutter ist in den 1960ern aufgewachsen. Sie erzählte mir oft von der Scham, die sie quälte, wenn sie in der Fastenzeit heimlich ein Bonbon ass, das aus den Fasnachtswochen übriggeblieben war.

Als ich mit Anfang zwanzig eine Therapie begann, fragte mich die Psychologin, als ich ihr von den Schuldgefühlen erzählte, die mich häufig plagten: "Ist jemand in Ihrer Familie katholisch?"

Katholischsein, erzählt mir meine Mutter, hatte ihr ganzes Leben strukturiert. Die Religion war nicht ein Faktor ihrer Kindheit oder Jugend, sondern eher die Kulisse, vor der sich alles abspielte; ein bisschen wie das Wetter, Atmen oder Schlafen. Katholischsein bestimmte, was gegessen, getragen und wann gefeiert wurde. Feiertage, und davon gibt es viele, bedeuteten weisse Strümpfe, etwas, worauf man sich freuen konnte.

Kaum ein Thema löst bei mir derart gemischte Gefühle aus wie das Katholischsein: die Missbrauchsfälle, die Vertuschung, das Grauen. Die Erinnerungen meiner Mutter an die Strenge ihrer Kindheit, die Rigidität. Und die Geborgenheit, die der spirituelle Rahmen mir als Kind gab, der wenig mit Dogma und Verboten zu tun hatte. Die Wärme der Erinnerung. Darf das alles zur selben Zeit existieren? Und noch wichtiger: Darf ich einer solchen Institution aus reiner Nostalgie treu bleiben?

Als ich ein Teenager war, schenkte mir meine Mutter eine Leuchtmaria, eine winzige Figur der Jungfrau Maria, so gross wie ein kleiner Finger, die im Dunkeln leuchtete. Sie habe ihre Leuchtmaria als Kind geliebt, erzählte sie mir. Ich stellte sie auf meinen Schrank. Am nächsten Tag fiel sie herunter. Ihr Kopf brach ab und rollte über den Boden. Ich stellte Maria auf meinen Schrank zurück, von da an stand sie da ohne Kopf.

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"Protestantismus ist ein Gesundheitsschuh, Katholizismus ein Stiletto"

Im Firmunterricht sprachen wir über den Heiligen Geist. Als wir einmal alle auf ein Post-it schreiben mussten, was er "für uns bedeute", stellte sich heraus, dass niemand genau wusste, um wen oder was es sich dabei handelt. Eine Kraft? Eine Metapher? Ein echter Geist? Wir lernten überdies, dass die Jungfrau Maria nicht nur bei Jesu Geburt Jungfrau war, sondern es auch während ihres gesamten restlichen Lebens blieb. Ein wichtiges Distinktionsmerkmal, das uns von den Reformierten unterscheidet, die es mit der immerwährenden Jungfräulichkeit nicht so genau nehmen.

Ich mochte diese Prise Absurdität, die uns von den anderen abhob. Um sie zu überwinden, brauchte man als Katholik:in Fantasie, während der protestantische Glaube mir mit seiner Nur-die-Bibel-zählt-Regel eher vernunftbasiert erschien. Protestantismus ist ein Gesundheitsschuh, Katholizismus ein Stiletto. Die Fingernägel des Protestantismus sind blank und sauber abgefeilt; die des Katholizismus lang, glitzrig und unpraktisch.

Katholik:innen glauben an Magie. Katholizismus ist voller Metaphern und verweigert sich ihnen zugleich. Beim Gottesdienst wird Brot und Wein nicht symbolisch in Leib und Blut Christi verwandelt, sondern tatsächlich. Unser Leben hängt von guten Geschichten ab, und Katholik:innen nehmen ihre Geschichten ernst.

Bei meiner Firmung trug ich ein kleines Schwarzes und Schuhe mit nicht ganz so hohem Absatz, wie ich es mir gewünscht hätte. Meine Eltern hatten mir verboten, die brandneuen Dosenbach-High-Heels, die ich mir im Shoppi Tivoli gekauft hatte, zu tragen.

"Ich schrieb einen Zettel an Gott: Wenn du mich nicht lieben kannst, werde ich nicht an dich glauben. Ich redete mit Gott wie mit einem Elternteil"

Im selben Jahr kam ich aufs Gymnasium und wählte das Freifach Religion. Ich lernte dort erstmals, die Bibel wirklich zu lesen. Durch die Lektüre wuchsen meine Zweifel: Die Rolle der Frau, die Verteufelung des Begehrens, der Fetisch der Heterosexualität – was ich bisher gut hatte ausblenden können, wurde mir jetzt bewusst. Je genauer ich mir die Bibel anschaute, desto weiter rückte Gott von mir weg.

Das hatte sicher auch damit zu tun, dass sich mein Umfeld am Gymnasium radikal veränderte: Meine neuen Freund:innen waren atheistisch. Ich lernte von ihnen, warum Atomkraft daneben und Vegetarismus wichtig ist. Ich ging auf meine erste Demo. Manchmal schaute ich Fotos von meiner Firmung an: die biederen Absatzschuhe, das billige Polyesterkleid, und dieser Moment schien unendlich lange her.

Im letzten Jahr des Gymnasiums, ich war achtzehn, machte unsere Religionsklasse eine Exkursion nach Israel. In meinen Gymi-Jahren war viel passiert: Ich hatte Unterschriften für linke Initiativen gesammelt, über die ich im ersten Jahr des Gymnasiums noch die Augen verdreht hatte. Ich hatte ein Coming-out hinter mir. Ich trug andere Klamotten und sprach anders.

An der Klagemauer in Jerusalem nahm ich einen Zettel, auf dem ich mit Kugelschreiber einen kurzen Brief verfasste, in dem ich mich von Gott verabschiedete. Eine bizarre Form kultureller Aneignung, wie mir inzwischen klar wurde: Die heilige Stätte einer anderen Religion benutzen, um sich von der eigenen zu verabschieden. Ich schrieb an Gott: Wenn du mich nicht lieben kannst, werde ich nicht an dich glauben. Ich redete mit Gott wie mit einem Elternteil. Ich war ein Teenager, ich war wütend. Ich packte meine Sachen und zog aus.

In jener Zeit meines Abfalls vom Glauben las ich die Memoiren von Patti Smith, "Just Kids". Die Musikerin schreibt darüber, wie sie mit zwanzig in New York Robert Mapplethorpe kennenlernte, der einer der bekanntesten Fotografen seiner Zeit werden sollte. Die beiden führten eine Liebesbeziehung und nach Mapplethorpes Coming-out eine enge Freundschaft, bis dieser 1989 an Aids starb.

Mapplethorpe war katholisch aufgewachsen und befasste sich mit dieser Prägung in seiner Kunst. In ihrer Wohnung in Brooklyn errichteten die beiden einen Altar mit auf der Strasse gesammelten Jesus- und Madonnenbildern. Bei ihrer ersten Begegnung fragte Robert Patti: "Bist du katholisch?" Sie antwortete: "Nein, ich mag nur katholische Sachen." Die Stelle habe ich damals mit Leuchtstift angestrichen.

Später las ich im "New Yorker" einmal die These, Patti Smith habe eine "katholische Sicht auf die Welt". Damit war gemeint, dass Smith andere Künstler:innen, Kunstobjekte, Bücher, Kleidungsstücke verehre wie Heilige und Reliquien. Sie glaubt an Genies und Magie. Eine altmodische, unmoderne Haltung, und vielleicht hat mich das damals so abgeholt, denn auch ich bin immer eine Gläubige geblieben. Ich glaubte in den Folgejahren wahlweise an den Sozialismus, die Band Placebo, die Autorin Judith Hermann, die Sängerin Chappell Roan. Ich brauchte immer etwas, was ich vergöttern konnte. Anbetung ist ein gutes Gefühl.

"Je näher ich der Kirche komme, desto weiter weg will ich von ihr"

Heute google ich "Kirchenaustritt" und sehe, dass ich theoretisch nur einen datierten Brief mit ein paar Angaben an meine Kirchgemeinde schicken muss, um auszutreten. Ich habe immer gedacht: Wenn du versuchst auszutreten, kommt der Pfarrer persönlich bei dir vorbei und fragt nach den Gründen.

Ich glaube seit über einem Jahrzehnt nicht mehr an Gott. Aber mein bester Freund schenkte mir 2020 zu Weihnachten, als ich covidbedingt allein in meinem Zimmer sass, eine rote Kerze in Form der Jungfrau Maria. Sie hat zwei Umzüge mit mir mitgemacht. Anzünden würde ich sie nie, dafür ist sie mir viel zu wichtig. Von jedem Italienurlaub bringe ich eine kleine Heiligenfigur mit, sie stehen nebeneinander auf der Kommode in meinem Schlafzimmer. (Die kopflose Leuchtmaria von meiner Mama habe ich leider verloren.)

Eine Kollegin erzählte mir neulich, dass sie sich im Flugzeug bei Turbulenzen bekreuzigt, in der Kirche in ihrem Quartier regelmässig Kerzen anzündet. Sie hat ein kleines Döschen Weihrauch und ein Agnus Dei zu Hause, das ihre Mutter ihr geschenkt hat.

Was ist ein Agnus Dei, frage ich. Sie zeigt mir das kleine Briefchen mit einem Heiligenbild und einem Wachstäfelchen drin, der Wachs sei gesegnet und aus dem Vatikan. Sie trägt es in ihrem Portemonnaie mit sich. Also bist du noch Mitglied der Kirche, frage ich sie hoffnungsvoll. Nein, ich bin vor vielen Jahren ausgetreten, antwortet sie. Ich habe mir einfach ein paar Dinge beibehalten.

Ich habe meinen Austrittsbrief inzwischen verfasst und ausgedruckt. Ich müsste ihn nur noch abschicken.

An einem Donnerstagabend besuche ich zum ersten Mal die Heilige Messe in der Kirche neben meiner Wohnung. Am Eingang bekreuzige ich mich, ich atme den vertrauten Geruch ein, lese die Inschriften, höre das Hallen meiner Schritte. Als der Gottesdienst beginnt – vier (männliche) Besucher, ein Priester, ein Messdiener und ich –, sehe ich, dass alle ausser mir ein Gesangsbuch in der Hand halten. Ein Herr in Funktionsjacke zeigt mit dem Kopf subtil in Richtung eines Bücherstapels auf einem Stuhl in den hinteren Sitzreihen. Ich nicke ihm dankbar zu.

Im Laufe des Gottesdiensts merke ich: Ich weiss nicht, an welcher Stelle die Gemeinde was antwortet; ich weiss nicht, wann ich mich hinknien, aufstehen, wieder hinsetzen muss. Die Choreographie erscheint mir kompliziert und undurchdringlich, und bei der Kommunion bin ich so nervös, dass ich das "Amen" vergesse, bevor ich die Hostie in meinen Mund lege. Auch wenn mir der Performance-Aspekt des Ganzen durchaus zusagt, kann ich nirgends einhaken, nichts mitnehmen.

Ich merke, dass ich mich für viel katholischer hielt, als ich es bin. Ich weiss nichts über all das; dieses spezifische liturgische Wissen ist in der Generation meiner Mutter geblieben, und sie hatte ihre Gründe, es nicht an mich weiterzugeben. Der unendlich grosse Raum trägt die Stimme des Pfarrers nur knapp bis zu mir. Mir ist kalt.

Als ich zu mir nach Hause spaziere, denke ich: Der Besuch eines einzigen Gottesdienstes hatte auf mich den gleichen Effekt wie die Bibel-Lektüre als Teenager. Je näher ich der Kirche komme, desto weiter weg will ich von ihr. Vielleicht will ich mit dem Katholischsein etwas bei mir behalten, das mich an meine Kindheit erinnert; vielleicht ist die Konfession dieses eine Puzzleteil meiner Herkunft, das ich nicht loslassen will.

Ein kleiner innerer Widerspruch, ein kleiner Riss in der glatten Oberfläche der Identität, die man sich im Laufe der Jahre zulegt. Ich trage mein Katholischsein mit mir herum wie eine liebgewonnene Neurose. Zuhause zünde ich eine Kerze an, staube meine kleine Marien-Sammlung ab. Ich unterschreibe das Austrittsformular, stecke es in einen Umschlag und frankiere ihn. Morgen, denke ich. Morgen schicke ich es ab.

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Michael Schröter

Hallo Darja, Dein Artikel spricht mich an, ich kann so vieles darin nachfühlen. Ich freue mich auf weitere gute Artikel von Dir!

Djinn

Werde dieses Jahr 57. Gehöre mein Leben lang zur RKK, war aber schon immer Agnostiker und seit mindestens 3 Jahren auf der atheistischen Seite. Der einzige Grund, warum ich nicht austrete, ist meine Mutter. Es würde ihr das Herz brechen, wenn sie davon erführe. Wenn sie glauben würde, dass sie mich im Jenseits nicht wiedersehen würde, weil ich als Ungläubiger wohl nicht in den Himmel komme…

Jakob Hauri

Darja Kellers ehrlicher Essay über ihr ambivalentes Verhältnis zum Katholizismus wirft wichtige Fragen auf. Neben den persönlichen und emotionalen Bindungen an die Herkunft braucht es aber auch Institutionen, die eine Gemeinschaft bilden trotz all ihrer Mängel. Als Protestant mit einer katholischen Ehefrau und einer jüdischen Grossmutter weiss ich, wie unterschiedlich Prägungen sein können und doch das Gemeinsame im Vordergrund steht: die Solidarität mit unseren Mitmenschen, denn im Grunde sind wir alle gleich. Frau Kellers Zerrissenheit zeigt, wie wichtig es ist, einen Weg zu finden, der sowohl die eigene Geschichte ehrt als auch den Blick für die Notwendigkeit des Zusammenhalts und der gegenseitigen Unterstützung in der Gesellschaft nicht verliert. Vielleicht liegt die Herausforderung darin, das Gute aus Traditionen zu bewahren und gleichzeitig kritisch und offen für Veränderungen zu bleiben, um so eine lebendige und solidarische Gemeinschaft zu gestalten. Jakob Hauri

Britta

Mir erging es ähnlich viele Jahre lang – ich habe durch den mir aufoktroyierten Katholizismus nichts Gutes erfahren. Ich war sogar auf einer Klosterschule, weil das das nächstgelegene Gymnasium war mit einem “guten” Ruf, und dort erfuhr ich schon sehr früh, wie heuchlerisch die Katholen waren, indem sie andere herabsetzten, ständig missbilligend, ständig boshaft waren, sich außerdem nicht wuschen und ekelhaft über andere Menschen sprachen … Wir waren zu Hause alle katholisch, aber nicht sehr religiös. Niemand zwang mich zu irgendetwas! So ist “Gott” mir im Laufe der Jahre abhanden gekommen, nicht, weil ich ein schlechter Mensch war, im Gegenteil: Ich habe mich immer ganz selbstverständlich an alle moralisch-ethisch-menschlichen Regeln gehalten, also nicht gelogen, niemanden verletzt (verbal vllt., aber nicht absichtlich) oder verraten, niemals jemanden übervorteilt oder betrogen – aber gebracht hat es mir nichts. Auch viele ehrliche, aufrichtige Gebete um Hilfe – in und außerhalb der Kirche – haben nichts gebracht! Weder echte Hilfe noch Erleichterung noch mehr Hoffnung …
Irgendwann war mir dann klar: Gott ist ein Fake – die Bibel Fakenews, die irgendwann mal Männer erfunden, überliefert und übersetzt haben … niemals Frauen! Was soll das also? Gäbe es einen Gott, wäre der doch für alle da. Inklusiv für die Tiere. Doch Tiere werden in dieser Gesellschaft gequält, verklavt und ganz empathielos gegessen – Christen tun das andauernd, ganz selbstverständlich und vor allem zu den “christlichen” Festen.
So war das von Gott oder Jesus sicher nicht gemeint!
Da kam mir die Idee auszutreten – ich war aber zu faul, weil man persönlich zum Standesamt gehen musste, dorthin fahren, warten und so weiter. Nach einem Umzug in einen kleinen Ort meldete ich mich beim Ordnungsamt um, nebenan war eine Tür “Standesamt”, da war gerade niemand und ich ergriff die Chance. In nur wenigen Minuten war ich ENDLCH ausgetreten aus einer Institution, die Menschen wie Tiere verachtet, Frauen missachtet und herabsetzt … trotz des immensen Reichtums nicht den Hunder in der Welt bekämpft … Ich war endlich frei!
Hat es mir was genützt? Außer, dass ich keine Kirchensteuer mehr zahle, dass ich Kirchgänger, Katholiken wie Protestanten, nun belächle – die sind alle so naiv! – und dass ich nun keine Angst vor göttlicher Bestrafung mehr habe … hat es keine große Veränderung gebracht. Ich bin jedoch im Frieden, weil ich nicht heuchlerisch bin, sondern klar zu meiner Überzeugung stehe und entsprechend gehandelt habe. Vllt. gibt es einen Gott – eine neutrale, wertfreie schöpferische Kraft, aber bestimmt kein “er” – das wäre dann okay.
Ich kann nur empfehlen, das Austrittsformular endlich abzuschicken (immerhin geht das per Post, hier in Deutschland muss man persönlich erscheinen, samt Geburtsurkunde etc. ) – denn das befreit ungemein. Es ist eine klare Botschaft, dass man seiner inneren Stimme folgt und sich nicht mehr von bunten Kirchenfenstern und Weihrauch die Sinne vernebeln lässt.

Ursel 15

„Priester:innen“ bei einem Artikel über die katholische Kirche?!

Lena

Wunderbarer Artikel, spricht mir aus der Seele, vielen Dank! Es geht mir haargenau gleich, ausser dass ich nicht homosexuell bin und den Austrittsbrief erst geschrieben, aber noch nicht ausgedruckt habe. Und dass ich noch haargenau weiss, was im Gottesdienst wann zu sagen und tun ist – wie mir bei der Beerdigung meiner Grossmutter vor einem Jahr bewusst wurde. Ich fühle mich als Komplizin, dass ich dieser Organisation mit den ganzen schrecklichen Missbrauchsgeschichten noch Geld (Kirchensteuern) gebe, als würde ich damit dafür sorgen, dass diese Geschichten weitergehen. Und gleichwohl habe ich es noch nicht geschafft, auszutreten. Grund ist wohl auch bei mir Nostalgie: Rorate, Fastenzeit, Mitternachtsmesse, ich war sogar Ministrantin! Dazu kommt noch das fatalistische Gefühl, dass man seinen Katholizismus ohnehin nicht ablegen kann, auch nicht mit einem Austritt. Zudem finde ich irgendwie, dass man doch irgendwo dabei sein muss. Wo sonst? Beim Gesundheitsschuh? Wäre die vernünftige Entscheidung, aber eben auch nicht sexy. Ich habe sogar schon erwogen, christkatholisch zu werden: auch katholisch, aber ohne Homo- und Frauenfeindlichkeit und den ganzen Mist. Und dazu noch so selten, das wäre dann der Louboutin 😉 Es bleibt spannend…

Daniel

Guten Morgen.

Lieben Dank für deinen spannenden und interessanten Artikel.
Ich denke, Traditionen (und auch Überlieferungen/Erinnerungen) sind Teil des katholischen Glaubens. Das muss man also nicht geringschätzen und darf das “nur” für die Gründe des Katholischseins gerne weglassen.
Und der Glaube ist nur ein Teil des Aspektes. Ein ebenso großer ist die Gemeinschaft. Und da muss man die richtige Kirchengemeinde für sich finden. Noch vor ein paar Jahren bin ich jeden Sonntag eine halbe Stunde mit dem Rad in die am weitesten entfernte Kirche gefahren, weil eben dort eine Gemeinde und ein Priester waren, wo ich mich “abgeholt” und heimisch gefüht habe.
Ich bin überzeugt, auch in Zürich findest du so eine. Und da wird dann nicht “altbacken” Messe gefeiert, sondern mit Chor und Band vielleicht. Und mit vielen engagierten Frauen und Menschen “quer aus dem Gemüsebeet”.
Bevor du austrittst, würde ich dir diese Reise empfehlen. Alles Gute!

Georg

Es geht nicht um das Katholisch sein, es geht um das Christsein, das glauben an Jesus Christus der am Kreuz für die Sünden der Welt gestorben ist und das Handeln nach seinen Vorbild. Die Frage ist nicht ob es Gott gibt, das steht außer Frage, die Frage ist was hat dich vom Glauben abgebracht, denn als Kinder haben wir selbstverständlich an Gott geglaubt. Satan ist der Fürst der Welt, daran ändern auch Smartphones nichts, so steht es in der Bibel als Jesus von ihm versucht wurde. Die grundsätzlichen geistigen Mächte und ihr Kampf um unsere Seelen ändern sich nicht durch alle modernen Ablenkungen die es gibt. Das einzige Buch der Wahrheit, das Wort Gottes, bringt Licht (Erkennen, Glauben, Jesus Christus) in die Welt (Dunkelheit). “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ohne mich kommt niemand zum Vater (das ewige Leben)”, sagte Jesus.

Michaela Schuster

Das mit der Sentimentalität ist ja durchaus nachvollziehbar, verliert sich aber durch einen Austritt nicht. So wie Ihnen geht es vermutlich vielen. Viele denken einfach nicht darüber nach oder wenn, dann befürchten sie, in bestimmten Jobs nicht mehr arbeiten zu können (Lehrer, Erzieher, Ärzte etc.). Die kindliche Indoktrination hinterlässt Spuren, Ihre Sentimentalität ist der beängstigende Beweis dafür. Andere Beweise sind Kriege, Anschläge, Neurosen… Austreten ist ein politischer Akt. Daher wünsche ich Ihnen denselben Mut wie bei Ihrem Outing, dass Sie diese mafiöse Organisation, die immer auf Seiten der Macht, der Großgrundbesitzer und der Faschisten stand, verlassen. Sie tun mit der Kirchensteuer nichts Gutes. Den sozialen Anstrich und das Jungfrauendogma hatte man sich Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben, als man befürchtete, dass durch die industrielle Revolution und Wissenschaft die Felle davonschwimmen.

Lisa

Krass, wie sehr mich diese Zeilen repräsentieren! Exakt genau die gleichen Gedanken & Gefühle, die ich endlich schriftlich hier lese und mich wieder erkenne. Einziger Unterschied, ich habe keine Marias zu Hause und bin heterosexuell.
Bei mir ist es irgendwie auch das Gefühl, dass wenn ich austrete, dann etwas negatives passiert oder passieren könnte.. das hat wohl mit dem Riss der Identität zu tun, den du ansprichst.
Auf jeden Fall danke für diesen Text!

Last edited 5 months ago by Lisa
Anonym

Toller Artikel. Ich kann das zu hundert Prozent nachfühlen. It’s a trap. Was bei mir dazu kommt: Teile meiner Familie nehmen den katholischen Glauben recht ernst, ich äussere mich immer wieder kritisch, muss nicht mehr mit in die Kirche gehen, aber ich habe das Gefühl, dass ich sehr verurteilt werden würde, würde ich austreten.

Maria

Danke für dieses sehr schöne Essay, das sich in Vielem mit meinen Gedanken deckt. Sentimentalität ist mir irgendwie zu negativ konnotiert. Positiv gefärbte Erinnerungen an Rituale im Jahreslauf geben ja auch Halt in struben Zeiten. Am Austritt habe ich auch herumstudiert aber es hielt mich bis jetzt auch der Gedanke davon ab, das (katholische) Feld all den Konservativos und den Verstockten zu überlassen. Es braucht doch auch noch ein paar zeitgemässe, “normale” Mitglieder, sonst ändert sich nie etwas…