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Israel-Gaza-Krieg: Warum wir die Geisteswissenschaften mehr denn je brauchen

Zeitgeist

Israel-Gaza-Krieg: Warum wir die Geisteswissenschaften mehr denn je brauchen

Geschichte, Politikwissenschaften und Germanistik: Diese Fächer gelten als immer weniger relevant. Reporterin Helene Aecherli schreibt in ihrem Kommentar zum Israel-Gaza-Krieg, warum dies fatal ist.

Auf die Frage, wohin die Polarisierung im Krieg zwischen Israel und Gaza führt, antwortete Volker Türk, UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, kürzlich in der «NZZ am Sonntag» wie folgt: «Ich fürchte, dass wir in einem Feindbilddenken feststecken, wieder zurückfallen in pure Machtpolitik.»

Die Gefahr dieser Polarisierung lauere auf der ganzen Welt, und die sei katastrophal für die Demokratie. Die grosse Lehre aus dem aktuellen Nahostkonflikt sei für ihn deshalb: «Dass man auf gesellschaftlicher Ebene zu einem konstruktiven Dialog zurückfinden muss.»

Nun, der Ruf nach einem konstruktiven Dialog, nach einem «common ground» zwischen verhärteten Meinungsfronten, ist keineswegs neu, er wird jedoch gerade mit kaum je dagewesener Dringlichkeit formuliert. Dabei geht es nicht nur um die Kommunikationsform per se, den Dialog, sondern allem voran auch um die Voraussetzungen für die Dialogfähigkeit. Und diese sind – nebst Empathie und die Bereitschaft, die Sichtweise des anderen anzuerkennen – vertieftes Wissen sowie das Verstehen von Ursachen und Zusammenhängen.

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«Autokratische Regime fürchten nichts so sehr wie kritisches, unabhängiges Denken»

Mit anderen Worten: das Denken-Können, das es einen erlaubt, Geschehnisse zu reflektieren und sachlich einzuordnen. Es sind Fähigkeiten, die insbesondere in geisteswissenschaftlichen Studien vermittelt werden, in Geschichte, Sprachwissenschaften, Philosophie oder Politologie.

Akademische Paradedisziplinen, notabene, die von autokratischen Regimes wohlwissend kleingehalten werden, da sie nichts so sehr fürchten, wie kritisches, unabhängiges Denken. Doch ausgerechnet diese Fächer verlieren heute international an Bedeutung, gelten zunehmend als irrelevant – auch hierzulande.

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«Die Fakultäten haben versäumt, ihren gesellschaftlichen Wert öffentlichkeitswirksam zu vermarkten»

Gemäss neuster Zahlen des Bundesamts für Statistik, verzeichnen Universitäten in der Schweiz seit 2013 rund ein Drittel weniger Studierende in Geschichte, Politikwissenschaften, Germanistik und anderen modernen Sprachen Europas. Dieser Rückgang lässt sich zwar teilweise mit geburtenschwachen Jahrgängen und dem Aufkommen von Fachhochschulen erklären.

Viel schwerer wiegt aber, dass es die Fakultäten versäumt haben, den gesellschaftlichen Wert geisteswissenschaftlicher Bildung hervorzuheben, ihn sozusagen öffentlichkeitswirksam zu vermarkten. In dieser Beziehung waren und sind die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) sehr viel erfolgreicher. Auch deshalb, weil ihr Nutzen als sogenannte «exakte Wissenschaften» leichter messbar ist als jener der Geisteswissenschaften und folglich ein grösserer politischer Wille besteht, sie zu fördern.

«Anstelle eines kritisch-konstruktiven Diskurses, machen sich vor allem moralisierende Absolutheitsansprüche breit»

Zudem haben ideologische Strömungen, die die Welt nur noch in Gut und Böse, in Unterdrücker und Unterdrückte einteilen, innerhalb akademischer Institutionen zu einem fast schon gnadenlosen Dogmatismus geführt. Ein Dogmatismus, der weder unterschiedliche Sichtweisen noch eine ergebnisoffene Forschung zulässt, und schon gar keine kritische Nabelschau.

Hochkomplexe Realitäten – wie gerade die historischen und politischen Hintergründe des Gaza-Israel-Kriegs – werden ideologisch vereinfacht. Anstelle eines kritisch-konstruktiven Diskurses, machen sich vor allem moralisierende Absolutheitsansprüche breit. Das schreckt nicht nur potenzielle Studierende ab, sondern führt die Geisteswissenschaften letztlich ad absurdum. Und das ist fatal.

Denn um die sich immer schneller verändernde Welt zu erfassen, um propagandistisch aufbereitete Inhalte zu durchschauen und jenseits von Polarsierungen in einem echten Dialog zueinander finden zu können, braucht es die Wissenschaften des Geistes mehr denn je. Und mehr denn je braucht es fundierte Denker:innen, unbequeme Zweifelnde und mutige Intellektuelle, die Ambiguitäten aushalten und dazu beitragen WOLLEN, verhärtete Fronten zu überwinden. Für Nicht-Wissen bleibt keine Zeit mehr.

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