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Jugendarbeit – Waltraud Waibel ist die Leiterin des härtesten Jugendtreffs der Schweiz

Leben

Jugendarbeit – Waltraud Waibel ist die Leiterin des härtesten Jugendtreffs der Schweiz

  • Text: Barbara AchermannFotos: Stephan Rappo

Sie leitet einen der härtesten Jugendtreffs der Schweiz. Bedingungslos setzt sie sich für ihre Jugendlichen ein. Dafür stellt sich Waltraud Waibel auch wütenden Vätern in den Weg.

Sie leitet einen der härtesten Jugendtreffs der Schweiz. Bedingungslos setzt sie sich für ihre Jugendlichen ein. Dafür stellt sich Waltraud Waibel auch wütenden Vätern in den Weg.

Abu * hängt provokativ im Stuhl, wie das nur Jugendliche können: die Füsse auf dem Tisch, die dicke Daunenjacke bis zur Brust hochgerutscht und eine Fellmütze tief im Gesicht. Jetzt soll bloss niemand was von ihm wollen. Waldi geht auf ihn zu, legt ihm ein paar Zeitschriften unter die Turnschuhe und züpfelt neckisch an seinen Socken. Abu schaut verdutzt auf. Dann lächelt er und sagt: «Danggschön Waldi.»

Im Basler Jugendtreff Dreirosen darf man die Füsse nicht auf den Tisch legen. «Haxen runter», sagt Waldi, oder: «Bitte Füsse vom Tisch.» Bei manchem Teenager ist eine unerwartete Reaktion aber viel wirkungsvoller. Und sowieso behandelt Waldi keinen Jugendlichen wie den anderen. Aida wird später an diesem Abend ebenfalls ihre Stiefel auf eins der niedrigen Tischchen schwingen. Und zwar nachdem sie den Mut aufgebracht hat, sich neben drei Mädchen zu setzen, mit denen sie gern befreundet wäre. Waldi hat das beobachtet und will sie nicht gleich vor der Gruppe blossstellen. «Ich warte noch zwei Minuten.» Und tatsächlich, die rundliche Albanerin nimmt von sich aus die Füsse runter.

Waltraud Waibel weiss, wann sie streng sein muss und wann sanft. Sie ist eine der erfahrensten Jugendarbeiterinnen des Landes und wird von allen Waldi genannt. Seit 25 Jahren arbeitet sie in einem der schwierigsten Quartiere der Schweiz als Treffleiterin, und obwohl sie vor kurzem Grossmutter wurde, ist sie näher bei den Teenagern als die meisten Mittzwanziger. Nicht, weil sie selber jung geblieben wäre. Sie biedert sich nicht an, ihre praktischen Kleider und die kurzen roten Haare sind nicht besonders cool, und ihr Vokabular unterscheidet sich vom Jargon der Jugendlichen. Waldi wird geliebt, weil sie zurückliebt. Weil sie sich ehrlich und brennend für die Jugendlichen interessiert. Die sagen: «Waldi haben alle gern», «ist echt», «eine Lustige», «hört immer zu», «sie ist Chef, guter Chef». Bohrt man nach, um die eine oder andere Schwäche aufzudecken, reagieren sie abweisend, ja genervt. «Was soll die Frage?», «Schreiben Sie bloss keinen Scheiss über unsere Waldi», «Ich kann nichts Negatives über ihr berichten».

Teenager aus 39 Nationen kommen ins Jugi Dreirosen

Das Jugi Dreirosen liegt in einem Quartier, in dem nur wenige Schweizer leben: am Kleinbasler Rheinufer, unmittelbar unter der Autobahnbrücke der A3 und am Rand der Pharmaindustrielandschaft. Teenager aus 39 Nationen gehen hier ein und aus, so die Statistik. Es sind einige Jugendliche dabei, die die «Basler Zeitung» «Stadtverdrecker» nennt, der Volksmund «Komatrinker» oder «Kopftuchmädchen» und der Sozialdemokrat «bildungsfern».
Wenn sie zur Glastür reinkommen, sehen sich die 12- bis 18-Jährigen suchend um, nach ihren Kollegen – und nach Waldi. Die reicht jedem Besucher die Hand und deckt sie mit der anderen zu. «Nyima, wie war dein Vortrag? Am Ende hast du abgelesen? Aber das heisst doch, du hast fast das ganze Referat frei gesprochen! Gratuliere.» «Hallo Liebes. Weiss deine Mutter, wo du bist? Dann ruf sie bitte an.» «Besart, du bist bleich. Ich mache dir einen Hagebuttentee mit Honig.»

Sie ist zu allen herzlich und doch mehr als eine gute Seele. Sie ist ein Profi und weiss, wann sie durchgreifen muss. Wenn ein berüchtigter Schläger ins Jugi will, erklärt sie ihm, das gehe nicht, er sei ein schlechtes Vorbild. Gehorcht er nicht, versperrt sie ihm den Weg. Wenn ein türkisches Mädchen von Vater und Onkel gewaltsam aus dem Treff gezerrt wird, stellt sie sich dazwischen. Wenn ein Jugendlicher eine Billardkugel durch den Raum schmeisst, fasst sie ihn fest am Arm und fragt: «Hast du Hunger?» Es gibt auch Situationen, da findet sie eine Ohrfeige berechtigt. Wie damals, als ihr ein Junge von hinten seine Gebetskette über den Kopf gehauen habe. «Es geschah wie aus dem Nichts und tat furchtbar weh. Da ist mir vor all seinen Kollegen die Hand ausgerutscht. Meine erste und einzige Ohrfeige, aber sie war absolut richtig.»

Was denn «gopferdelli» mit ihm los sei, hat sie ihn in ihrem Büro gefragt. Worauf er antwortete: «Du hast noch nie mit mir geredet.» Aufmerksamkeit, das sei für Jugendliche das Wichtigste überhaupt, weiss Waldi. «Sie wollen, dass du dich ehrlich für sie interessierst», das sei schon immer so gewesen und werde auch so bleiben. Anderes hat sich in den letzten 25 Jahren stark verändert. Die Jugendlichen seien unverbindlicher geworden. «Alle wollen in den Europapark, doch wenn wir den Ausflug ausschreiben, meldet sich kaum einer an. Sie kommen angerannt, wenn der Car bereits den Motor angelassen hat, oder schlüpfen im letzten Augenblick wieder raus, weil eine Kollegin angerufen hat, um abzumachen.» Waldi spielt mit ihren silbernen Armreifen und sagt: «Früher schrieb man sich Wochen vorher für etwas ein und nahm dann auch teil.» Schlimmer sei die Unverbindlichkeit auf der Beziehungsebene. «Es gibt kaum noch feste Freundschaften und eingeschworene Cliquen.» Die Beziehungen seien wie Pudding, wackelig und schnell gegessen. «Die Mädchen sind noch unsteter als die Jungs. Heute sind sie scheinbar beste Freundinnen, schon morgen machen sie sich gegenseitig fertig, bis beide schluchzend davonrennen.»

Waldi öffnet den Kinoraum und wirft einen Blick hinein. «Alles in Ordnung.» Händchenhalten ist erlaubt, aber sie muss manchmal Pärchen auseinandernehmen, die heftig rumknutschen.
«Fummeln geht zu weit, und Petting liegt im Jugendtreff sowieso nicht drin. Aber mein Gott, es gibt Schlimmeres.» Was findet sie denn schlimm? «Wenn sie sich gegenseitig dissen, also fertigmachen.» Opfer sei das schrecklichste Schimpfwort von allen. «Da läuft es mir kalt den Rücken runter, weil da mitklingt, wie brutal verbale Gewalt sein kann.» Wer wolle schon ein Opfer sein, wehrlos am Boden liegend? Dann noch lieber eine Schlampe.

Intrigen und Mobbing haben bei Waldi keine Chance

Über Facebook spinnen die Jugendlichen ihre Intrigen, verbreiten Lügen und unvorteilhafte Fotos. Oder sie mobben gezielt einzelne Jugendliche. Wenn das ausartet, informiert Waldi die Jugend- und Präventionspolizei. «Ein Jugendlicher wurde von Älteren vor dem Eingang zum Treff erpresst. Er musste ihnen fünfzig Franken geben und ihre Schuhe küssen. Sie schütteten ihm Bier über den Kopf und filmten das Ganze. Und sie drohten damit, seine Eltern umzubringen.» Waldi hat den Jungen überzeugen können, gemeinsam mit den Eltern Anzeige zu erstatten.

Waldi war nicht immer so souverän. Sie stammt aus behüteten Verhältnissen, liebte schon als Kind die Oper und arbeitete zunächst als Lehrerin. Ein Beruf, der sie einengte, weil sie die Probleme der Schüler sah, aber wenig Möglichkeiten hatte, ihnen zu helfen. Ihr erstes Jugi war ein kleiner Raum ohne Tageslicht und Telefon, in dem fast ausschliesslich männliche Türken verkehrten. Damals habe sie zahlreiche Machtkämpfe ausfechten müssen, auch physische, stand Stirn an Stirn mit jungen Männern, die sich nicht für ihre Fehler entschuldigen wollten, die logen oder stahlen. Sie erinnert sich: «Nachts lag ich schlaflos und mit Bauchschmerzen im Bett, weil ich mich dermassen vor dem nächsten Arbeitstag fürchtete.»

Heute gehen rund hundert Jugendliche an einem Tag im Dreirosentreff ein und aus, an Spitzentagen sind es zweihundert. Die meisten kommen regelmässig, einige täglich. Sie spielen Billard oder Playstation, stemmen im Kraftraum Hanteln, schauen sich im Computerraum Musikvideos an und essen Sandwichglace oder Pizza mit Mayo. Viele stehen aber einfach nur rum, nippen an ihrem Eistee und machen gar nichts. Denn das ist ja das Schöne an der Pubertät: diese sirupsüsse Langeweile, aus der plötzlich eine gute Idee entsteht. Oder eine dumme.
Im Tanzraum suchen die Jungs zehn Minuten lang ein Lied. Als sie es gefunden haben, hören sie dreimal hintereinander den Anfang. Dann stehen sie fünf Minuten vor dem Spiegel rum, schubsen sich, legen einander den Arm um die Schulter und schielen zu den Mädchen.

«Lueg. Alte, lu-eg! Die isch än mega Schuss. Het sie Facebook?»
«Weli, die mit lange Hoor?»
«Nigger, die hän alli langi Hoor.»
«Dängg die mit übertriebe lange Hoor.» Unvermittelt macht einer eine schnelle Schrittfolge, renkt sich dazu die Schulter aus und wieder ein und landet mit gekreuzten Beinen am Boden. Seine Kollegen tun es ihm gleich. Das nennt sich Jerking. «Ich bin stolz auf meine Tänzer, MTV war hier und hat sie gefilmt.» Waldi streicht Diego über den Rücken. Sie fasst die Jugendlichen oft an, aber ihre Berührungen sind unaufdringlich, keiner entzieht sich ihnen.

Waldi spürt intuitiv, wenn jemand Hilfe braucht. Manchmal reicht eine kleine Geste, aber selbst in diesen kurzen Augenblicken schenkt sie absolute Aufmerksamkeit. Sie zeigt einem Mädchen, wie man beim Billard das Queue im richtigen Winkel hält, einem Jungen, wie man eine Tetrapackung öffnet, und einem anderen, wie er sein Bewerbungsschreiben darstellen kann. Die Jugendlichen seien zielstrebiger als früher, stellt sie fest. Sie machten Hausaufgaben im Computerraum und schrieben Vorträge. Das wäre noch vor zehn Jahren keinem in den Sinn gekommen. «Und sie fordern ihre Rechte ein.»

Die heutigen Jugendlichen seien weniger autoritätsgläubig und wehrten sich, wenn sie ungerecht behandelt würden. In der Schule, in der Lehre oder auch daheim. Nur: «Die Art und Weise, wie sie etwas sagen, ist nicht adäquat. Viele sind frech, einige untragbar frech.» Sie sollten lernen, wie man anständig nachfragt, höflich widerspricht. Waldi wird demnächst einen Benimmkurs anbieten, den sie etwas salopp auch Anti-Schlampen-Kurs nennt. Mit ironischem Unterton beklagt sie den «Verlust der holden Weiblichkeit». «Vor allem die Mädchen verrohen.» Im Jugi sollen sie lernen, wie man sich angebracht anzieht oder anständig isst und spricht.

Filmabend zum Thema Zwangsheirat

Weil Waldi diese Kurse lustig gestaltet, sind sogar ihre didaktischen Spezialprogramme beliebt: Wenn die jungen Polizisten vorbeikommen, animiert Waldi sie zu Liegestützwettkämpfen und organisiert, dass sie die Jugendlichen aus Spass in Handschellen legen. Sogar ein Filmabend zum Thema Zwangsheirat wird dank ihr vergnüglich. Die Filmemacher rücken mit Flipcharts und Fragebogen an, Waldi aber streicht die verschulte Einführung und improvisiert einen kleinen Sketch und eine Hochzeitstorte. «Das Thema ist aktuell», sagt sie. Eben seien zwei türkische Brüder, die häufig im Jugi waren, von ihrer Mutter verkuppelt worden. «Aber wenn was hängen bleiben soll, müssen wir unsere Botschaft emotional verpacken. Sie wollen Spass haben. Ich übrigens auch.»

Waldi kennt sich selber und gibt sich zu erkennen. «Wenn sie verstehen, wer du bist, dann können sie sich an dir orientieren.» Wer Waldi kennt, akzeptiert sie als Autorität, ohne dass sie autoritär auftreten muss. Sogar die schlimmen Jungs. Einer musste wegen Drogenhandel ins Gefängnis. Er nahm zwei Fotos mit, die ihm den richtigen Weg aufzeigen sollten: eines von seiner Mutter und eines von Waldi.

* Die Namen der Jugendlichen wurden geändert