
Juristin Elisa Hoven über Fake News: "Die richtige Antwort ist der Zweifel"
Die Juristin und Verfassungsrichterin Elisa Hoven nimmt sich in ihrem Buch "Das Ende der Wahrheit?" der Frage unserer Zeit an: Gibt es im Zeitalter von Künstlicher Intelligenz und Fake News noch allgemeingültige Gewissheiten?
- Von: Melanie Biedermann
- Bild: Madlen Krippendorf
annabelle: Elisa Hoven, in Ihrem Buch gehen Sie der Frage nach, ob es in unserer Gesellschaft noch so etwas wie eine Wahrheit gibt. Wann haben Sie sich diese Frage zum ersten Mal gestellt?
Elisa Hoven: Fragen nach Wahrheit und Lüge sind Menschheitsfragen, die einen ja immerzu begleiten. Aber ganz konkret wurde es für mich, als mir ein Bekannter während der Pandemie ein Zitat des SPD-Politikers Karl Lauterbach (Anm. d. Red.: ehemaliger deutscher Gesundheitsminister) weiterleitete. Es besagte mehr oder minder, dass die Impfung zwar medizinisch unsinnig, aber notwendig sei, um die AfD zu schwächen. Mein Bekannter meinte daraufhin, er liesse sich nicht instrumentalisieren und würde sich jetzt nicht mehr impfen lassen.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich habe mich gewundert, gegoogelt und gesehen, dass das Zitat ein Fake war. Da wurde mir zum ersten Mal deutlich vor Augen geführt, wie problematisch und gefährlich es sein kann, wenn Entscheidungen, Werte und Überzeugungen auf unwahre Informationen gründen. So entstehen alternative Realitäten, und das macht es wahnsinnig schwierig, einander zu verstehen. Und wenn man nicht mehr versteht, durch welche Informationen jemand zu seiner Position kommt, dann wird es für eine Demokratie gefährlich.
Das Fragezeichen im Titel Ihres Buchs suggeriert, dass es noch nicht zu spät ist, dass also die Wahrheit noch nicht am Ende ist.
Ja, ich wollte nicht apokalyptisch klingen, denn apokalyptisches Denken ist ebenfalls gefährlich. Wenn der Untergang bevorsteht, dann muss gehandelt werden, dann ist keine Zeit für ruhiges Abwägen und demokratische Prozesse. Aber ich glaube tatsächlich, dass wir dringend einen neuen Umgang mit der Wahrheit brauchen – und dafür braucht es jetzt genau dieses ruhige Abwägen und demokratische Prozesse.
Das Thema Fake News hat im Umfeld der ersten Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump Mitte der 2010er-Jahre Fahrt aufgenommen. Inwiefern hat sich die Situation in den letzten Jahren zugespitzt?
Sie hat sich mehr und mehr akzentuiert und so wird es weitergehen. Das liegt zum einen an Social Media. Gerade junge Leute beziehen ihr Wissen über die Welt zunehmend über diese Plattformen.
"Durch Bots lässt sich Meinungsmache betreiben und der Eindruck erwecken, eine bestimmte Position sei absolute Mehrheitsmeinung und eine andere überhaupt nicht ernst zu nehmen"
Das belegen Zahlen: Im Buch nennen Sie etwa eine repräsentative Befragung von 2023, wonach 78 Prozent der unter Dreissigjährigen über soziale Netzwerke den schnellsten Zugang zum aktuellen Weltgeschehen finden. Eine aktuelle Studie aus der Schweiz bestätigt, dass auch hierzulande fast zwei Drittel der Bevölkerung täglich auf Social Media unterwegs sind und mehr als 40 Prozent der 15- bis 34-Jährigen täglich Newsinhalte über Social Media und Youtube konsumieren.
Ja, das ist ein Problem, weil Fake News sich in sozialen Netzwerken schnell und unkontrolliert verbreiten. Damit haben sie zunehmend Einfluss auf unsere Denkprozesse und somit auf unsere gesellschaftlichen Entscheidungen. Ein weiterer Faktor sind Social Bots, die Information noch schneller verbreiten und den Anschein von Wahrhaftigkeit geben.
Social Bots, die so tun, als wären sie reale Menschen und auf Social Media automatisiert bestimmte Beiträge liken oder kommentieren, kommen längst auch in Wahlkämpfen zum Einsatz. Im Buch zitieren Sie eine Studie, wonach im US-Wahlkampf 2016 bereits ein Fünftel der gesamten Kommunikation zu Donald Trump und Hillary Clinton von Bots erstellt worden sei. Auch unter deutschen Parteien ist die Nutzung von Social Bots bekannt: Bei den Bundestagswahlen 2017 wurde unter Twitter-Followern ein Anteil von etwa zehn Prozent ermittelt.
Ja, und das kann problematisch sein. Durch Bots lässt sich Meinungsmache betreiben und der Eindruck erwecken, eine bestimmte Position sei absolute Mehrheitsmeinung und eine andere überhaupt nicht ernst zu nehmen. Damit lässt sich der Diskurs verschieben. Erst recht gilt das für KI-generierte Bilder und Videos, damit kann man noch einmal ganz anders manipulieren als mit Worten.
Inwiefern?
Unsere Sicht auf die Welt rekrutiert sich nur zu einem kleinen Teil aus eigenen Erfahrungen. Wir müssen uns auf externe Informationen verlassen und bislang galt der Grundsatz: «Ich hab’s doch mit eigenen Augen gesehen» – sei es in Bildern oder Videos. Aber diese Gewissheit haben wir im Grunde nicht mehr. KI-generierte Bilder sind mittlerweile so gut, dass sie von echten Aufnahmen nur schwer zu unterscheiden sind – und sie werden immer besser.
Trotzdem, so schreiben Sie in Ihrem Buch, «so schädlich Fake News und einseitige Berichterstattung für die Gesellschaft sein können – strafrechtlich verboten sind sie in aller Regel nicht».
Bisher besteht im deutschen wie auch im schweizerischen Strafrecht der Grundsatz, dass die Lüge als solche nicht strafbar ist – ausser, es entsteht dadurch ein Schaden. Angesichts der neuen Entwicklungen müsste man aber überlegen, ob nicht auch der Gesellschaft ein Schaden zugefügt wird, wenn Desinformationen verbreitet werden. Sollte man zum Beispiel Lügen im Wahlkampf unter Strafe stellen? Desinformation in Notsituationen, etwa während einer Pandemie? Das zieht aber viele schwierige Fragen nach sich: Wer soll entscheiden, was wahr ist und was nicht? All das ist gar nicht so einfach zu beantworten.
Die EU wagt mit dem AI-Act dennoch einen Vorstoss: 2026 wird eine Kennzeichnungspflicht für KI-Systeme, die mit Menschen agieren – darunter auch Chatbots und Deepfakes – in Kraft treten. Ein richtiger Schritt?
Ja, und auch der Weg, den der AI-Act geht, ist in meinen Augen richtig: Transparenz ist immer erstmal besser als Verbote. Denn für den Einsatz von Bots kann es ja auch gute Gründe geben, etwa im Kontext von Katastrophenschutz.
Seit 2022 gibt es in der EU bereits den Digital Service Act, kurz DSA, der grosse Anbieter wie Meta in die Pflicht nimmt, rechtswidrige Inhalte zu löschen. Zeichnen sich da schon erste Erkenntnisse ab? Auch hinsichtlich der Tatsache, dass Rechtswidrigkeit länderspezifisch ist und etwa wichtige Staaten wie die USA nicht mitmachen?
Es ist noch zu früh, um wirklich Bilanz zu ziehen, aber das Zwischenfazit fällt ambivalent aus. Einerseits wirkt der DSA darauf hin, dass die grossen Anbieter rechtswidrige Inhalte tatsächlich löschen. Zudem zielt das Gesetz auf Strukturen ab, etwa, dass es Meldewege gibt – und dafür sehe ich keine Alternativen, auch nicht für Länder, die derzeit noch nicht mitziehen. Aber es wird auch Kritik am DSA laut: Es werde zu schnell zu viel gelöscht, unliebsame Meinungen als Unwahrheiten oder Beleidigungen diskreditiert. Trotz aller gebotenen Vorsicht muss aber gelten, dass wir diese Online-Plattformen nicht völlig unreguliert lassen können, dafür haben sie einfach zu grosse Bedeutung.
"Es gibt Überschriften, bei denen man sich fragt: Ist das richtig? Entspricht das noch den Tatsachen? Aber es wird halt geklickt"
Es gibt eine Reihe einflussreicher Persönlichkeiten und Politiker, die genau dies fordern. US-Vizepräsident JD Vance bezichtigte den DSA der Zensur der Meinungsfreiheit, er untergrabe die Demokratie.
Diese Kritik ist überspitzt. Man muss aber sehen, dass JD Vance aus einem Land kommt, das eine ganz andere Tradition hinsichtlich der Meinungsfreiheit hat – in den USA ist die Idee ganz tief verankert, dass sich alles im Diskurs lösen lassen muss. Einen Tatbestand der Beleidigung gibt es dort nicht. Ich persönlich halte das US-amerikanische Modell nicht für sinnvoll, aber die Kritik von Vance einfach wegzuwischen, ist nicht klug. Er hat einen Punkt: Die Verfolgung von Hass im Netz geht mittlerweile sehr weit. Das ist vor allem problematisch, wenn es sich um Äusserungen über Politiker:innen handelt, da Machtkritik eine Bedingung rechtsstaatlicher Demokratie ist.
Und Sie erwähnten es bereits: auch die Faktenchecks stehen in der Kritik – wer soll darüber entscheiden, was wahr ist und was nicht?
Ja, wer entscheidet darüber, was Desinformation oder irreführend ist – und was nur eine andere Perspektive? Denken Sie an die Laborthese zum Ursprung der Corona-Pandemie. Sie galt lange Zeit als Verschwörungstheorie, heute als plausible Erklärung. Das zeigt, wie gefährlich es ist, wenn wir zu schnell glauben, zu wissen, was Fake News sind und was nicht. Und was den Tatbestand der strafbaren Beleidigung angeht: Auch ich als Juristin, die sich schon seit Jahren intensiv mit digitalem Hass beschäftigt, kann bei vielen Beiträgen nicht ganz sicher sagen, ob etwas rechtswidrig ist. Darf man einen Minister einen «Schwachkopf» nennen oder ist das eine strafbare Beleidigung?
Klassische Medien müssten ein Gegengewicht zur überhitzten Debattenkultur bilden. Doch in den letzten Jahren schwand ihr Einfluss. Sie sagen im Buch, auch deswegen, weil die Berichterstattung zu einseitig ausfiel.
Ja, das ist ein riesiges Problem. Wenn bestimmte Positionen nicht abgebildet, reflexhaft diskreditiert oder als abseitige Randmeinungen abgetan werden – ohne überzeugende Auseinandersetzung, ohne wirkliche Argumente –, dann suchen sich Menschen alternative Angebote, und finden sie auf Social Media. So gelangt man in Kommunikationsblasen, in denen einem schnell auch Desinformation zugespielt wird – wie etwa bei Corona oder auch bereits bei der grossen Fluchtbewegung 2015. Heute gibt es zur Letzteren Studien und Analysen zur deutschen Medienberichterstattung, die zum Ergebnis gekommen sind, dass diese einseitig war. Und im Ukraine-Krieg passiert es meines Erachtens wieder.
Viele etablierte Medien stehen finanziell stark unter Druck, mitunter weil sie heute in direkter Konkurrenz zu Social Media stehen.
Das stimmt und darunter leidet wiederum die Wahrheit. Es gibt Überschriften, bei denen man sich fragt: Ist das richtig? Entspricht das noch den Tatsachen? Aber es wird halt geklickt.
Sehen Sie Möglichkeiten, diesem Dilemma entgegenzuwirken?
Das Strafrecht kann hier nicht eingreifen, die Pressefreiheit ist ein zu hohes Gut. Aber es gibt zumindest in Deutschland über den Medienstaatsvertrag eine Verpflichtung zur unabhängigen Berichterstattung, zur Sorgfaltspflicht, Transparenz, Diskriminierungsfreiheit und Gewährleistung von Meinungsvielfalt – aber die Medien müssen dieser Verantwortung auch gerecht werden.
Sie sagen: «Je mehr Fake News verbreitet und Fakten bestritten werden, desto entschiedener werden (von der Gesellschaft) absolute Wahrheiten eingefordert.» Das klingt eigentlich positiv.
Ja, aber es gibt viel weniger absolute Wahrheiten, als wir denken. Nehmen wir wieder das Beispiel der Pandemie: Da war es die grosse Logik, der Wissenschaft zu folgen. Aber das Problem ist: Die Wissenschaft ist überhaupt kein homogener Block. Virologie, Kinderpsychologie oder Recht kamen zu ganz unterschiedlichen Bewertungen. Und selbst innerhalb dieser Gebiete gibt es ja nicht die eine Meinung oder Wahrheit. Die Wissenschaft basiert darauf, eine Theorie aufzustellen und sie im Zweifel auch wieder zu falsifizieren. Eine Korrektur ist dort ein normaler, notwendiger Prozess, aber insbesondere während Corona wurde genau das als Fehler angesehen. Man wollte Wahrheiten, die es nicht gab.
Sie sagten eingangs, dass wir als Gesellschaft dringend einen neuen Umgang mit der Wahrheit brauchen. Wie könnte dieser aussehen?
Wir müssen lernen, Ambivalenz auszuhalten und andere Sichtweisen zuzulassen. Die richtige Antwort auf Desinformation ist es nicht, absolute Wahrheit einzufordern, sondern Zweifel zu haben und nachzudenken. Wir müssen gegen eindeutige Desinformation und Lügen vorgehen, aber wir müssen dabei zurückhaltend sein und uns daran erinnern, dass wir selten im Besitz der einen Wahrheit sind. Als Juristin sehe ich häufig, dass Dinge als «Wahrheit» dargestellt werden, die letztlich schlicht Perspektiven sind. Erklärt man die eigene Meinung als wahr, macht man sie sakrosankt – wer will denn schon etwas gegen die Wahrheit sagen?

Elisa Hoven ist Professorin für deutsches und ausländisches Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medienstrafrecht und Direktorin des Instituts für Medienrecht an der Universität Leipzig sowie Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof. Seit sechs Jahren forscht sie zu «Hate Speech im Internet» und als Expertin schreibt sie regelmässig für deutsche Medien wie «Die Zeit». «Das Ende der Wahrheit? Wie Lügen, Fake News und Framing unsere Gesellschaft bedrohen – und was wir dagegen tun müssen» (erschienen beim Dumont Verlag) ist ihr zweites Sachbuch.