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Kantonsrätin Mandy Abou Shoak: «Am 14. Juni verbinden wir uns in all unserer Wut»

Zeitgeist

Kantonsrätin Mandy Abou Shoak: «Am 14. Juni verbinden wir uns in all unserer Wut»

Mandy Abou Shoak ist Schwarze Feministin und neu SP-Kantonsrätin. Ein Gespräch über intersektionalen Feminismus und die Notwendigkeit des feministischen Streiks am 14. Juni.

annabelle: Mandy Abou Shoak, Sie werden als erfrischend unbequem beschrieben. Wie unbequem sind Sie als Kantonsrätin für Ihre Gegenspieler:innen, zum Beispiel der SVP?
Mandy Abou Shoak: Die SVP hat sich der Ausgrenzung und der Diskriminierung von Minderheiten verschrieben. Das steht sogar in ihrem Parteiprogramm. Diskriminierung, also Sexismus, Rassismus, Ableismus und Klassismus sind immer auch Gewalterfahrungen. Ich bin Expertin für Gewaltprävention. Gemeinsam mit vielen anderen Aktivist:innen, NGOs und Politiker:innen stelle ich mich dem entgegen. Die Rhetorik der SVP darf sich nicht etablieren. Hier wären auch Journalist:innen gefragt. Sie sollten der SVP, ihrem gesuchten Kulturkampf, ihrem konservativen Rollenbild nicht auf den Leim gehen und ihre Begriffe gebrauchen, ansonsten zementieren wir ihre Politik.

Inwiefern?
Dass Abwertung und Hierarchisierung von Menschen so normalisiert wird, führt dazu, dass Menschen sterben – zum Beispiel an der Aussengrenzen von Europa. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Sterben von Menschen an den Aussengrenzen von Europa und Aussagen wie «Gang doch zrugg, woher du chunsch».  Es beginnt mit dem Konstrukt des so genannten «Wir» und «Die anderen». Was passiert, ist eine Normalisierung der Vorstellung, dass migrantische Menschen, geflüchtete Menschen nicht Teil dieser Gesellschaft sein können – und dann wird geglaubt, dass diese Menschen nicht den gleichen Wert haben. In der Folge erscheint es als gerechtfertigt, diese Menschen anders zu behandeln.

Die Gesprächsreihe, in der wir uns am 1. Juni im Debattierhaus Karl der Grosse austauschen werden, thematisiert Tabubrüche. Was ist für Sie ein Tabu?
Ich möchte Ambiguität enttabuisieren.

Ambiguitäten – was meinen Sie damit konkret?
Ambiguität bezeichnet die Mehrdeutigkeit von Situationen unter Unsicherheit. Ich bin überzeugt: Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Überall, wo wir an einer Schraube drehen, werden viele andere Zahnräder in Bewegung gesetzt. Ich glaube, wir müssen uns selbst und anderen wieder mehr Komplexität zutrauen und uns Zeit nehmen, um wirklich die besten Lösungen für uns alle zu finden. In der Konsequenz bedeutet das aber auch, dass wir mehr Unsicherheit aushalten müssen und uns nicht die Angst bestimmen darf.

Warum glauben Sie nicht an einfache Lösungen?
Weil die Welt an sich zu komplex und zu widersprüchlich dafür ist. Doch wir können diesen Fakt aushalten und sogar lustvoll damit umgehen. Natürlich ist es einfacher, Klarheit und Kontrolle über jegliche Dinge zu haben und uns damit ein vermeintliches Gefühl von Sicherheit zu geben.

Was bedeutet für Sie Feminismus?
Die Theologin und Geschlechterforscherin Dr. Eske Wollrad sagte: «Feminismus ist die politische Theorie und Praxis zur Befreiung aller Frauen, nicht-binären, trans und agender Personen: Frauen of Color, Frauen der Unterschicht, armer Frauen, psychisch und/oder körperlich herausgeforderter Frauen, Lesben, alter, junger Frauen ebenso wie weisser ökonomisch privilegierter heterosexueller Frauen. Alles unter diesem Anspruch ist nicht Feminismus.» Ich finde diese Annäherung an den Begriff sehr inspirierend.

Sie haben einen intersektionalen Ansatz. Was bedeutet das genau?
Wir müssen uns bewusst sein, dass gewisse Frauen für Lohngleichheit kämpfen – zu Recht. Gleichzeitig kämpfen aber andere dafür, überhaupt arbeiten zu dürfen. Intersektional zu handeln, bedeutet zu verstehen, dass einige Frauen darum kämpfen, Karriere zu machen und gut zu verdienen. Und andere Frauen – in der Regel migrantische Frauen – die Sorgearbeit für sie übernehmen, und das oft zu prekären Bedingungen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Forderungen der unterschiedlichen Frauen gegeneinander ausgespielt werden, und wir müssen uns überlegen, wie eine solidarische Praxis in der Konsequenz aussieht.

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«Intersektional zu arbeiten bedeutet, die Perspektive von Menschen, die von mehreren Diskriminierungsformen betroffen sind, ins Zentrum zu stellen»

Weshalb ist ein intersektionaler Ansatz so wichtig?
Weil es einen Unterschied macht, ob unsere Eltern Ärzt:innen oder Fabrikarbeiter:innen sind. Weil es einen Unterschied macht, wen wir lieben. Weil es einen Unterschied macht, ob wir uns mit dem Körper, in den wir hineingeboren sind, identifizieren können und uns darin wohlfühlen oder nicht. Und es macht auch einen Unterschied, ob wir den geltenden Schönheitsidealen entsprechen oder nicht. Und selbstverständlich macht es auch einen Unterschied, ob wir geflüchtet oder migriert sind oder nicht. Diese Dinge strukturieren uns. Diese Dinge weisen uns einen Platz in dieser Welt zu.

Was bedeutet das konkret für Ihre aktivistische und politische Praxis?
Die portugiesische Autorin, Künstlerin und Psychologin Grada Kilomba, die zu Postkolonialismus, Rassismus, Gender, Trauma und Erinnerung arbeitet, beschrieb das Problem der Politik und dem Aktivismus so: «Wir haben eine Debatte über Rassismus, in der es um Schwarze Männer geht; ein geschlechtsspezifischer Diskurs, in dem es um weisse Frauen geht; und ein Klassendiskurs, in dem Rassismus überhaupt keinen Platz hat.» Intersektional zu arbeiten bedeutet das Gegenteil. Es bedeutet, die Perspektive und den Bedarf von Menschen, die von mehreren Diskriminierungsformen betroffen sind, ins Zentrum zu stellen.

Gibt es Institutionen, wo so gearbeitet wird?
Die Non-Profit-Organisation Brava, bei der ich tätig bin, arbeitet intersektional und beachtet die unterschiedlichen Lebensrealitäten von geflüchteten Frauen. Oder auch Fizz, die Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration. Zum Beispiel wenn sie Sexarbeiter:innen oder von Menschenhandel betroffene Menschen berät. In meiner aktivistischen Tätigkeit bei Bla*Sh – das ist ein Schwarzfeministisches Netzwerk aus der Deutschschweiz mit lokalen Gruppen in Basel, Bern und Zürich – ist es mir ein Anliegen, Schwarze FINTA (Frauen, Inter, Nonbinär, Trans, Agender) zu stärken, beispielsweise in dem ich Menschen vernetze und Möglichkeiten zur Entfaltung biete.

Unser Gespräch am 1. Juni im Debattierhaus Karl der Grosse ist auch ein Auftakt für den feministischen Streiktag. Warum braucht es diesen Streik?
Der feministische Streik ist der Tag, an dem wir sichtbar werden, mit all unseren unterschiedlichen Lebensrealitäten, mit all unseren unterschiedlichen Ausgangslagen. Der 14. Juni ist der Tag, in dem sich die feministische Bewegung verbindet. Der Tag, an dem die Privilegierten, die weniger Privilegierten tragen. Der Ort, an dem alle Forderungen Platz haben – nebeneinander und nicht hierarchisiert. Wir leisten Widerstand, indem wir uns gegenseitig feiern. An diesem Tag verbinden wir uns in all unserer Wut und Dringlichkeit. Mit dem Ziel, gemeinsam und mit Nachdruck für all unsere Forderungen einzustehen.

Wo werden wir Sie hören und sehen am 14. Juni?
Ich werde mit hoffentlich vielen hunderttausenden Menschen an der Demonstration in Zürich sein. Am 14. Juni werde ich mit meinen Geschwistern in der Schwarzfeministischen Community unterwegs sein und Schwarze Vielfalt feiern. Denn: «Black Joy is resistance.»

Mandy Abou Shoak (33) hat Soziokultur und Menschenrechte studiert. Hauptberuflich arbeitet sie bei Brava als Verantwortliche Bildung und Beratung. Mandy Abou Shoak ist seit dieser Legislatur SP-Kantonsrätin. Nebenbei berät sie als Selbstständige Organisationen, Vereine und Netzwerke im Hinblick auf diskriminierungssensible Organisationstrukturen und Praxen. Sie ist zudem im Schwarzfeministischen Netzwerk Bla*Sh und im Berufsverband der Sozialen Arbeit Avenir Social engagiert. Marah Rikli spricht mit der Politikerin am 1. Juni im Zürcher Debattierhaus Karl der Grosse.

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