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Kiss-Cam-Skandal: Warum das öffentliche Shaming zu weit geht

Kiss-Cam-Skandal: Warum das öffentliche Shaming zu weit geht

Am Coldplay-Konzert flog die Affäre des Astronomer-CEO Andy Byron auf. Die öffentliche Blossstellung ist daraufhin ausser Kontrolle geraten, findet unsere Editor-at-Large Jacqueline Krause-Blouin.

Eins vorweg: Ich hasse Coldplay. Aber was ich in den letzten Tagen noch mehr gehasst habe? Das Internet. Genauer gesagt: diese widerlich selbstgerechte Bubble aus Doppelmoralist:innen, die offenbar zu viel Freizeit und zu wenig Selbstreflexion besitzen.

Wenn ihr die letzten Tage nicht unter einem Stein verbracht habt, ist euch mit Sicherheit in der einen oder anderen Form ein Video von Andy Byron, seines Zeichens CEO der Techfirma Astronomer und Kristin Cabot, HR-Chefin desselben Unternehmens begegnet.

Im Video zu sehen: Byron und Cabot, wie sie zusammen zu den Klängen von Chris Martin bei einem Konzert in Foxborough in den USA schwofen, sich mit verklärten Gesichtern in den Armen liegen. Körpersprache eindeutig. Ganz klar kein Teambuildingevent.

Das Problem: Byron und Cabot sind verheiratet. Nur leider nicht miteinander. Und als die Kiss-Cam die beiden ins Visier nimmt, ist ihr Lächeln zwar noch intakt, die Augen aber sind bereits von Panik aufgerissen. Byron taucht kurzerhand ab, springt aus dem Bild und Cabot wendet sich beschämt ab.

Ja, im Nachhinein hätte Andy Byron womöglich souveräner reagiert. Dann hätte zumindest die Chance bestanden, anonym aus der Sache herauszukommen. So aber sagt Coldplay-Frontmann Chris Martin trocken: «Schaut euch die beiden an, entweder sie haben eine Affäre oder sie sind sehr schüchtern».

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"Ist das wirklich ein Thema, das tagelang die News dominieren sollte?"

Das reicht dem Internet als Startschuss. Der Clip geht viral, bis heute haben ihn knapp 100 Millionen Menschen gesehen. Innerhalb kürzester Zeit bricht der Wahnsinn los. Es tauchen LinkedIn- und Facebook-Profile der betroffenen Ehepartner:innen auf, Familienfotos kursieren.

Firmen geben Statements ab, alte Chatverläufe, Urlaubsbilder, Memes, TikTok-Parodien und YouTube-Reaktionsvideos fluten das Netz, während Internetdetektiv:innen vergangene Posts ausgraben, Zeitleisten rekonstruieren und längst vergessene Accounts aus den Tiefen des Internets zerren.

Stoff selbst für seriöse Medien

Es werden Podcasts produziert und Think Pieces geschrieben. Selbst die seriösesten Medien greifen die Story auf. Sommerloch, ich weiss. Aber ist das wirklich ein Thema, das tagelang die News dominieren sollte?

In den USA geben etwa 25 Prozent der Verheirateten an, ihre:n Partner:in schon mindestens einmal betrogen zu haben – Männer etwas häufiger als Frauen. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Es besteht also eine grosse Chance, dass viele der Menschen, die hier die Moralapostel geben, selbst keine reine Weste haben.

Schon klar, es ist besonders juicy, wenn ein CEO und eine HR-Chefin etwas miteinander haben; zumal in den meisten US-Firmen strikte Richtlinien gegen Beziehungen am Arbeitsplatz gelten. Aber das Ausmass der Empörung ist dennoch grotesk. Offenbar empfinden wir Ehebruch als schwerwiegendes Verbrechen, zumindest, wenn Coldplay die Hintergrundmusik liefert.

Ja, die Story hat alles, was das Internet liebt, beziehungsweise zu hassen liebt: privilegierte Menschen, Chefs, HR-Leute, Kuschelrock. Und es ist zweifellos befriedigend zu sehen, dass mächtige Menschen nicht immer mit ihrem Fehlverhalten davonkommen. Dazu kommt ein nicht unerhebliches Mass an Unterhaltung: das Internet kann verdammt lustig sein, die Memes waren kreativ, auch ich habe geschmunzelt.

«I took my sidepiece to the Coldplay concert and it ruined my life»

Aber was danach folgte, ging zu weit: Ein gefaktes öffentliches Statement von Andy Byron etwa. Das Offenlegen von privaten Familienfotos, das Stalken seiner Ehefrau und der gemeinsamen Kinder. Es gibt bereits T-Shirts mit dem Slogan: «I took my sidepiece to the Coldplay concert and it ruined my life».

Und das tat es tatsächlich – die Leben von Bryon und Cabot scheinen zumindest für den Moment ruiniert. Byron trat als CEO zurück, Cabot ist beurlaubt worden, eine interne Untersuchung wurde eingeleitet. Vor allem für sie dürfte eine Karriere im HR-Bereich erst einmal vorbei sein.

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"Es kommt mir vor, als wäre das Internet ein christliches Kleinstadt-Dorf, das Byron und Cabot auf dem Marktplatz steinigt"

Müssen einem die beiden jetzt leidtun? Nein. Aber man darf sich fragen, wie viel Schutz der Persönlichkeit uns zusteht – auch im öffentlichen Raum. Tatsächlich gibt es Serienkiller, die deutlich mehr Privatsphäre geniessen als die beiden. Es kommt mir vor, als wäre das Internet ein christliches Kleinstadt-Dorf, das Byron und Cabot auf dem Marktplatz steinigt. Die öffentliche Blossstellung ist ausser Kontrolle geraten.

Das Ganze passiert zu einer Zeit, in der Trumps MAGA-Lager in den USA krampfhaft versucht, die Moralvorstellungen der Fünfzigerjahre wieder aufleben zu lassen, während ihr Leader ganz offensichtlich den moralischen Kompass eines Glücksspielautomaten hat. Es ist kein Zufall, dass das öffentliche Fingerpointing ausgerechnet im Land der unbegrenzten Widersprüche seinen Anfang nahm.

Aber wie kann es sein, dass zwei untreue Menschen in Massachusetts beinahe so viel Aufmerksamkeit bekommen wie ein Präsident, der gerade ein ganzes Land in ein autoritäres Regime stürzt und ganz nebenbei wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde? Wenn Empörung viral geht, kann sie Karrieren beenden. Erstaunlich ist nur, dass die Welle der Entrüstung so selten dort einschlägt, wo sie am nötigsten wäre.

Das einzig Gute an dem Fall ist zu sehen, wie stark, wie schnell, wie mächtig das Internet uns als Kollektiv macht. Nun wäre es schön, wenn wir diese Energie in wirklich wichtige Dinge stecken würden.

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Karin Scherrer

Danke danke für diesen Artikel! Top formuliert und analysiert 💖🫶🏼🙌🏼

Ute

WOW. Jeder Buchstabe spricht mir aus dem Herzen, nur hätte ich mich nicht so gut ausdrücken können. Danke für diesen Beitrag!!!

Sabine Pfulg

Sehr treffend formuliert! Sie sprechen mir aus der Seele. Danke.

Sibylle Degen

TOP formuliert liebe Frau Krause- Blouin👍🏻Sie sprechen mir aus dem Herzen!!
All diese doppelbödigen Moralapostel, die lieber bei anderen Menschen vor deren Haustüre mit dem Besen kehren als vor ihrer eigenen..!!!

Katja

Und ich finde es spannend, wie lügen und betrügen kleingeredet wird. Als Führungsperson hat man sich nicht so zu verhalten. Das musste übrigens auch der KB-CEO damals schmerzlich erfahren. Auch das war in den Medien und auch das hat ihn den Job gekostet. War halt nicht ganz so international wie dieses Beispiel.

Man lässt sich auch nicht an einem Konzert eines Weltstars erwischen. Und ein Artikel, der mit ich hasse, ich hasse beginnt, wirft bei mir ebenfalls Fragen auf.

Unsere Welt ist sehr schwarz-weiss geworden. Man muss immer für oder dagegen sein, eine sachliche Diskussion findet kaum noch statt.

Susanne

Sehr interessant, wie man sich hier über das Internet als Verbreitung solcher Dinge aufregt, selbst aber einen Artikel dazu schreibt und Klicks und Umsatz zu generieren.

Nicole

Aber hier dann doch wieder das Video zeigen und die Namen nennen? Ein bisschen Doppelmoral….