Identität und Herkunft sind die grossen Themen unserer globalisierten Gesellschaft. Besonders jungen Fotografinnen und Fotografen geht es oft darum, eine Geschichte zu erzählen und mit ihren Projekten sich selbst und gesellschaftliche Normen zu hinterfragen. Thi My Lien Nguyen ist eine davon. Vor Kurzem eröffnete die Thurgauerin mit vietnamesischen Wurzeln ihre Ausstellung zum Fotoprojekt Hiếu thảo – With Love and Respect im «Seitenwagen», einer Ausstellungsserie für Nachwuchskünstlerinnen und -künstler des Kunstzeughauses in Rapperswil – als bisher jüngste Künstlerin.
Nguyens Grosseltern flohen nach dem Vietnamkrieg ins appenzell-innerrhodische Dorf Steinegg, wo sie gut aufgenommen und integriert wurden. Die Trennung der beiden Kulturen, mit denen sie aufwuchs, erfolgte für die Fotografin früher durch die Haustüre. «Wenn ich zur Schule ging, war ich Schweizerin, zuhause Vietnamesin – mit anderen Regeln, anderen Sitten, einer anderen Sprache und Kultur und anderem Essen.» Ganz anders habe sie sich da verhalten und erst mit dem Alter gelernt, diese zwei Facetten ihres Lebens zu mischen und gewisse Elemente von der einen Kultur auf die andere zu übertragen. In Ihrem Fotoprojekt befasst sich Nguyen mit ihren Wurzeln und ihrer kulturellen Identität.
Ihre Arbeit dreht sich um drei Generationen ihrer Familie und zeigt Bilder, die von ihrer Grossmutter, ihrer Mutter und von Nguyen selbst gemacht wurden. Sie will damit zeigen, was sich von Generation zu Generation ändert. Dabei geht es ihr vor allem um Fragen, die Secondos, Terzos und auch uns alle betreffen. «Jeder wird im Alltag mit Migrationsthemen konfrontiert. Vielen ist es jedoch nicht bewusst, aber fast jeder trifft im täglichen Leben, am Arbeitsplatz, beispielsweise auf Personen aus einer anderen Kultur oder einem anderen Land.» Nguyen will Betrachtern das Wissen mitgeben, dass man sehr gut in ein Land kommen, die neue Kultur kennenlernen und sich integrieren kann, ohne Angst zu haben, seine Kultur zu verlieren. Die Kulturen der Migranten werden vermischt und von Generation zu Generation immer schwammiger. Man verliere aber weniger, sondern gewinne eher, so Nguyen. «Alles was neu hinzukommt, gehört auch wieder zu meiner Kultur.»
In Diskussionen mit Secondos und Terzos verschiedener Kulturen wurde Nguyen bewusst, dass sie alle die gleichen Erfahrungen gemacht und sich die gleichen Fragen gestellt hatten. Deshalb will sie mit ihrem Projekt das Thema Migration auch für andere Kulturen öffnen und so mit ihrem Schaffen einen Diskurs in unserer Gesellschaft antreiben.
Sie ist nur eine von vielen Fotografinnen, die sich mit ihrer kreativen Arbeit für eine Reflexion und folglich einen gesellschaftlichen Fortschritt einsetzt. Vier weitere inspirierende Newcomer-Fotografinnen finden Sie in der Bildstrecke.