
Leitner lamentiert: Radikale Ehrlichkeit? Nein danke
Das Leben löst eine Lawine an Gefühlen aus. Grund genug für Lifestyle Editor Linda Leitner, um in ihrer Kolumne laufend ganz liebevoll zu lamentieren. Weil: Irgendwas is immer. Heute: Über radikal ehrliche Leute, die nicht mutig, sondern unsensibel sind.
- Von: Linda Leitner
- ZVG, Unsplash; Collage: annabelle
«Darf ich dir sagen, dass du auf deinem LinkedIn-Post sehr müde aussiehst?», schreibt eine Bekannte. «Nein, darfst du nicht», möchte man antworten und auch: «Warum fragst du, ob du fragen darfst, wenn ich gar nicht mitentscheiden darf, ob ich die Antwort überhaupt hören will?» Oder: «Was soll ich jetzt mit der Info, das Bild ist ja längst im Internet?» Und vor allem: «Sag mal, spinnst du?».
Was die müde Person tatsächlich erwiderte, ist nicht mehr zu rekonstruieren. «Danke für deine ehrlichen Worte», vielleicht – was dann wiederum ironisch und gelogen wäre. Und lügen sollte man niemals, das besagt das achte der zehn Gebote. Nie würde ich wagen zu widersprechen, es ist selbstredend äusserst löblich, stets schön bei der Wahrheit zu bleiben. «Ich sage einfach immer, was ich denke» hört man die Leute oft sagen. Es ist nur so: Das interessiert meistens niemanden. Radikale Ehrlichkeit ist kein heldenhafter Charakterzug, sondern überflüssig, wenn übergriffig und irgendwie fies. Wo ist denn die Nächstenliebe hin?
Das Schweigen der Hämmer
«Wenns ums Lügen geht, bist du bei mir falsch», schreibt ein Mann. Ein drittes Date stand im Raum. Beim gemeinsamen Terminabgleich flötet er, Anfang der Woche sei für ihn schwierig, das Wochenende sei wild gewesen. Die Frau lenkt kompromissbereit auf Samstag oder Sonntag, der Mann schickt unvermittelt das Bild einer Tube Wundcreme und verwöhnt sie mit der Information, sein Werkzeug habe Schaden genommen: Umgang zu grob, zwinker zwinker.
Als sie rückmeldet, dass sie ein Date unter den durchgenudelten Umständen dankend ablehne und der Hinweis auf inkompetente Sexualpartner:innen sie um Himmels Willen nichts angehe, stösst sie auf Unverständnis. Er könne und wolle nun mal niemandem was vormachen.
Sie gibt ihm den heissen Tipp, dass Schweigen nicht unbedingt Lügen ist. Man kommt auf keinen grünen Nenner und bricht den Kontakt ab. Weil jemandem, der irritierendes Verhalten mit radikaler Ehrlichkeit rechtfertigt, offenbar die Empathie fehlt. Und weil es peinlich ist, mit Geschlechtsteilen zu prahlen.
Man schicke Stossgebete gen Himmel
Denn wem nützt das schonungslose Direktsein in solchen Fällen? Denen, die vermutlich irgendwas abladen und loswerden wollen – von Unsicher- und Unzufriedenheiten aller Art bis hin zu heldenhaften Bettgeschichten eben. Es ist nichts, worauf man stolz sein muss: Wer keine Angst davor hat, den Leuten ungemütliche Dinge reinzubrettern, ist nicht mutig, sondern unsensibel.
Und logisch, wir haben als Kinder gelernt, nicht zu schwindeln. Aber auch: respektvoll miteinander umzugehen und die anderen mitspielen zu lassen. Das Gegenteil von der oft idealisierten Über-Aufrichtigkeit ist nicht fieses Gelüge – sondern bewusstes Filtern.
Man könnte ja mal kurz überlegen: Dient meine Aussage der Beziehung, die ich mit meinem Gegenüber habe? Sind meine Aussagen bei der anderen Person korrekt platziert? Was löse ich aus? Würde ich das selbst hören und wissen wollen? «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst», steht in der Bibel. Also: Was würde Jesus tun? Sich eher ans Kreuz nageln lassen als dekonstruktives Feedback zu geben.
Übertrieben scharf geschossen
Es will ja auch gar nicht recht in den Zeitgeist passen: Alle faseln ständig von Selbstreflexion und gesundem Grenzen setzen – und schalten dann im Modus der lückenlosen Ehrlichkeit selbstgefällig das Hirn aus. Huch, ob die andern auch Grenzen haben? Meine persönliche ist exakt da, wo eine gute, cute Notlüge anfängt. Wenn ich auch mal kurz ehrlich sein darf, bitte ich aufrichtig darum, ab und an ganz charmant und fürsorglich angeflunkert zu werden. Aus Nächstenliebe. Für den Badewannenschaum im Narrativ. Wie eine softe Kindersicherung an den scharfen Kanten des Lebens, wo Kopfstossen unnötig ist.
«Ich bin einfach nur ehrlich», sagt ein anderer Mann. Es findet ein sachliches Lage-Sondieren der Emotionen statt. Sie packt das Gesagte grosszügig in grossnoppige Luftpolsterfolie, damit sich der arme Junge daran nicht den labilen Kopf stösst. Sie flüstert, man wolle verschiedene Dinge vom Leben, drum sei das zwischen ihnen wohl leider ein heikles Ding der Unmöglichkeit. Der Mann: Er wisse, in eine wie sie könne er sich niemals nicht verlieben. Das ist fair, aber auch irgendwie zu scharf geschossen. Die Frau empfiehlt ihm dringlichst eine Bibelstunde.