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Leitner lamentiert: Radikale Ehrlichkeit? Nein danke

Leitner lamentiert: Radikale Ehrlichkeit? Nein danke

Das Leben löst eine Lawine an Gefühlen aus. Grund genug für Lifestyle Editor Linda Leitner, um in ihrer Kolumne laufend ganz liebevoll zu lamentieren. Weil: Irgendwas is immer. Heute: Über radikal ehrliche Leute, die nicht mutig, sondern unsensibel sind.

«Darf ich dir sagen, dass du auf deinem LinkedIn-Post sehr müde aussiehst?», schreibt eine Bekannte. «Nein, darfst du nicht», möchte man antworten und auch: «Warum fragst du, ob du fragen darfst, wenn ich gar nicht mitentscheiden darf, ob ich die Antwort überhaupt hören will?» Oder: «Was soll ich jetzt mit der Info, das Bild ist ja längst im Internet?» Und vor allem: «Sag mal, spinnst du?». 

Was die müde Person tatsächlich erwiderte, ist nicht mehr zu rekonstruieren. «Danke für deine ehrlichen Worte», vielleicht – was dann wiederum ironisch und gelogen wäre. Und lügen sollte man niemals, das besagt das achte der zehn Gebote. Nie würde ich wagen zu widersprechen, es ist selbstredend äusserst löblich, stets schön bei der Wahrheit zu bleiben. «Ich sage einfach immer, was ich denke» hört man die Leute oft sagen. Es ist nur so: Das interessiert meistens niemanden. Radikale Ehrlichkeit ist kein heldenhafter Charakterzug, sondern überflüssig, wenn übergriffig und irgendwie fies. Wo ist denn die Nächstenliebe hin?

Das Schweigen der Hämmer

«Wenns ums Lügen geht, bist du bei mir falsch», schreibt ein Mann. Ein drittes Date stand im Raum. Beim gemeinsamen Terminabgleich flötet er, Anfang der Woche sei für ihn schwierig, das Wochenende sei wild gewesen. Die Frau lenkt kompromissbereit auf Samstag oder Sonntag, der Mann schickt unvermittelt das Bild einer Tube Wundcreme und verwöhnt sie mit der Information, sein Werkzeug habe Schaden genommen: Umgang zu grob, zwinker zwinker.

Als sie rückmeldet, dass sie ein Date unter den durchgenudelten Umständen dankend ablehne und der Hinweis auf inkompetente Sexualpartner:innen sie um Himmels Willen nichts angehe, stösst sie auf Unverständnis. Er könne und wolle nun mal niemandem was vormachen.

Sie gibt ihm den heissen Tipp, dass Schweigen nicht unbedingt Lügen ist. Man kommt auf keinen grünen Nenner und bricht den Kontakt ab. Weil jemandem, der irritierendes Verhalten mit radikaler Ehrlichkeit rechtfertigt, offenbar die Empathie fehlt. Und weil es peinlich ist, mit Geschlechtsteilen zu prahlen.

Man schicke Stossgebete gen Himmel

Denn wem nützt das schonungslose Direktsein in solchen Fällen? Denen, die vermutlich irgendwas abladen und loswerden wollen – von Unsicher- und Unzufriedenheiten aller Art bis hin zu heldenhaften Bettgeschichten eben. Es ist nichts, worauf man stolz sein muss: Wer keine Angst davor hat, den Leuten ungemütliche Dinge reinzubrettern, ist nicht mutig, sondern unsensibel.

Und logisch, wir haben als Kinder gelernt, nicht zu schwindeln. Aber auch: respektvoll miteinander umzugehen und die anderen mitspielen zu lassen. Das Gegenteil von der oft idealisierten Über-Aufrichtigkeit ist nicht fieses Gelüge – sondern bewusstes Filtern.

Man könnte ja mal kurz überlegen: Dient meine Aussage der Beziehung, die ich mit meinem Gegenüber habe? Sind meine Aussagen bei der anderen Person korrekt platziert? Was löse ich aus? Würde ich das selbst hören und wissen wollen? «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst», steht in der Bibel. Also: Was würde Jesus tun? Sich eher ans Kreuz nageln lassen als dekonstruktives Feedback zu geben.

Übertrieben scharf geschossen

Es will ja auch gar nicht recht in den Zeitgeist passen: Alle faseln ständig von Selbstreflexion und gesundem Grenzen setzen – und schalten dann im Modus der lückenlosen Ehrlichkeit selbstgefällig das Hirn aus. Huch, ob die andern auch Grenzen haben? Vielleicht bin ich empfindlich, aber meine persönliche ist exakt da, wo eine gute, cute Notlüge anfängt. Wenn ich auch mal kurz ehrlich sein darf, bitte ich aufrichtig darum, ab und an ganz charmant und fürsorglich angeflunkert zu werden. Aus Nächstenliebe. Für den Badewannenschaum im Narrativ. Wie eine softe Kindersicherung an den scharfen Kanten des Lebens, wo Kopfstossen unnötig ist.

«Ich bin einfach nur ehrlich», sagt ein anderer Mann. Es findet ein sachliches Lage-Sondieren der Emotionen statt. Sie packt das Gesagte grosszügig in grossnoppige Luftpolsterfolie, damit sich der arme Junge daran nicht den labilen Kopf stösst. Sie flüstert, man wolle verschiedene Dinge vom Leben, drum sei das zwischen ihnen wohl leider ein heikles Ding der Unmöglichkeit. Der Mann: Er wisse, in eine wie sie könne er sich niemals nicht verlieben. Das ist fair, aber auch irgendwie zu scharf geschossen. Die Frau empfiehlt ihm dringlichst eine Bibelstunde.

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Pete Mitchell

hm, Ihre Kolumne löst bei mir folgende Gedanken aus: die Selbstreflexion bedarf es bei beiden Gesprächspartnern. Oftmals ist die ungefragte, offene Kritik nur eine Reaktion auf das Vorausgegangene.
Und ja, ich bin auch ein Fan offener Worte, vielleicht ticken Männer so? (was das Ganze jetzt aber nicht legitimieren soll) Wenn etwas Sch….e ist, dann hilft auch schönreden nichts, es bleibt einfach Sch…e. Da brauch ich dann auch nicht viel drum rum reden.

Was den Rest Ihrer Beispiele angeht: beim Dating sollte Respekt und Achtung dem Gegenüber vorrangig sein, ich bedauere sehr, dass dies manche Männer nicht so sehen.
Gruß Pete

Norbert Dengler

Gut beschrieben, dem kann ich wirklich zustimmen!

Sabine

Liebe Frau Leitner,
wenn ich an ein narzisstisches Arschloch geraten wäre beim Daten, der tatsächlich meint, mir gegenüber damit angeben zu müssen, wie wund sein Penis nach dem Wochenende mit einer anderen Frau war (und ich hätte tatsächlich vorher noch nicht gemerkt, wie der Typ drauf ist), dann wäre ich dankbar darüber, dass er so “ehrlich” schreibt. Würde es mir nämlich ganz und gar leicht machen, den Typ auf den Mond zu schiessen. Besser als wenn Sie es erst merken, wenn sie ihn schon geheiratet und zwei Kinder von ihm bekommen haben, oder? Suchen Sie sich besser einen netten Mann, der anständig und wirklich an Ihnen interessiert ist, dann werden Sie seine ehrliche Meinung sicher auch gerne hören wollen, wenn sie Ihnen mal nicht gefällt (das macht doch eine echte Partnerschaft aus, dass man offen reden kann, auch wenns mal weh tut). Viele Grüße von Sabine

Sebastian

Schön. Sehe ich ganz ähnlich. »Man muss nicht alles sagen, aber alles was man sagt, muss wahr sein.« Mit Betonung auf der ersten Hälfte…

renegade24

Ich lese: Männer sind böse. Wenn Männer ehrlich sind, das ist das schlecht. Wenn Frauen ehrlich sind, dann ist das gut? Wie @Pete Mitchel bereits schrieb, meist ist es eine Reaktion auf das Vorausgegangene. Männer stehen ständig am Pranger, dank des übertriebenen Feminismus. Vielleicht ist dieser doch nicht so gut für Frauen? Männer haben keine Lust mehr ständig am Pranger zu stehen, noch dazu, dass eine kleine Minderheit der Männer, die wirklich böse sind, auf die ganze Männerwelt übertragen wird.

Esther

Da wird man als Frau widerlich und nicht gentleman-liked mit ungefragten Infos zwangskonfrontiert und muss sich dann, notabene in einem Frauenmagazin, noch Sprüche über den “übertriebenen Feminismus” gefallen lassen. Chammer mache.

Irène

Lesen Sie die korrekte Definition von Feminismus nach, wenn Sie sich überhaupt profund an der ganzen Debatte dazu äußern möchten.

Sebastian

Mimimi?

EinLeser

Ist es jetzt zu scharf geschossen, freundlich darauf hinzuweisen, daß mir beim vergnüglichen Lesen dieser Kolumne die eine oder andere Formulierung ein Grinsen ins Gesicht gezaubert hat und der einzige Wermutstropfen vielleicht meine eventuell nicht ganz so richtige Annahme ist, daß “dekonstruktiv” vielleicht doch besser und korrekter mit “destruktiv” wiedergegeben werden könnte?

Christoph Rohn

Dinge sammeln ist mir sympathischer, als einen Dialog zu beginnen über unbekannte Dinge für jemand anderen. Ich meine, die digitale Zusammenkunft ist delegiert worden. Dating ist weder gemacht worden für vielfaches Glück, noch delegiert worden für die digitale Zusammenkunft.

Stefan Scheiner

(Anmerkung: Habe schon mal versucht, diesen Kommentar zu schreiben, kann ihn aber nicht mehr finden. Da ich über keine Moderation meines Beitrags benachrichtigt wurde, gehe ich von einem technischen Fehler aus. Falls das nicht stimmt, bitte mich zu informieren!)

Ich muss sagen, ich bin nicht überzeugt.

Die ersten zwei Beispiele (Stichworte LinkedIn und “Werkzeug”) haben nichts mit Ehrlichkeit zu tun, sondern mit Selbstdarstellung. Es werden Fragen beantwortet, die niemand gestellt hat, oder die auch nur im Raum standen. Gerade das zweite Beispiele ist eigentlich schon fast die verbale Version eines ungefragten Dick-pics – käme jemand auf die Idee, ein solches als “Ehrlichkeit” zu bezeichnen?

Das letzte Beispiel (“könnte mich niemals verlieben”) kommt der Sache schon näher. Aber hier handelt es einfach nur um einen Konflikt in den jeweiligen Präferenzen. Das eine Gegenüber möchte Luftpolsterfolie, das andere bevorzugt klare und direkte Worte. Beides darf sein, und ist weder richtig noch falsch. Und wenn man in diesem Aspekt nicht kompatibel ist, geht man halt besser getrennte Wege. Insofern ist es doch gut, dass diese Unvereinbarkeit rechtzeitig ans Licht gekommen ist!

Deswegen sehe ich nachher eine Kolumne zu schreiben, um die Präferenz des anderen öffentlich zu judgen, ziemlich kritisch, und das Anraten einer Bibelstunde einfach nur herablassend.