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Männerberater Markus Theunert: «Wir müssen krankmachende Männlichkeitsnormen überwinden»

Zeitgeist

Männerberater Markus Theunert: «Wir müssen krankmachende Männlichkeitsnormen überwinden»

Der Mann muss sich emanzipieren, aber wovon eigentlich? Was soll «nachhaltige Männlichkeit» sein? Und wie sieht er denn nun aus, der progressive Mann? Ein Gespräch mit Männerberater Markus Theunert anlässlich seines neuen Buches «Jungs, wir schaffen das – Ein Kompass für Männer von heute».

annabelle: Sie sind einer der wenigen, die die Studie der Universität Zürich, die in den letzten Wochen hohe Wellen schlug, richtig gelesen und eingeordnet haben. Man hat sich in den Headlines auf die Frauen gestürzt, die vermeintlich gar nicht Karriere machen wollen. Waren Sie überrascht über die tendenziöse Berichterstattung?
Markus Theunert: Nein. Leider nicht. Schockiert, aber nicht überrascht. Man hat sich ja schon fast daran gewöhnt, dass gewisse Medien einen Backlash herbeischreiben möchten.

Was sagt die Art von Berichterstattung über unser Verhältnis zu Männlichkeit aus?
Ich lese gerade das Buch «Prägung» von Christian Dittloff, dort steht der wunderbare Satz «Das Patriarchat versteckt sich vor aller Augen». Patriarchale Strukturen und Kulturen sind überall und gleichzeitig sind sie seltsam unsichtbar. So normal, dass sie nicht einmal auffallen. Dass man eine solche Studie, die ja genauso viel über Männer wie über Frauen aussagt, rezipieren kann, ohne über Männer und Männlichkeit überhaupt nur ein Wort zu verlieren, ist schon erstaunlich. Die Studie zeigt ja beispielsweise auch, dass die jungen Männer genauso wenig Lust auf Karriere haben wie die Frauen – das ist doch genauso relevant! Aber es wird systematisch ausgeblendet. Männlichkeit wird als gegeben betrachtet und nicht weiter hinterfragt.

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«Es ist mir wichtig, die Schädlichkeit traditioneller Männlichkeitsprägungen aufzuzeigen»

Was verstehen Sie unter dem Begriff «nachhaltige Männlichkeit»?
Ich versuche mit der Skizze «nachhaltiger Männlichkeit» bewusst am ökologischen Diskurs anzuknüpfen. Was ich im Kern meine, ist: Nachhaltig ist, nur so viel zu brauchen wie nachwächst. Auf sich selbst, auf die Gemeinschaft und auf die Natur bezogen. Dass wir aufhören, von uns selbst mehr zu verlangen, als wir regenerieren können, von anderen mehr einzufordern, als sie geben können. Und dass wir damit aufhören, die Natur auszubeuten. Unseren zerstörerischen Umgang mit den Ressourcen der Natur fraglos zu akzeptieren, ist für mich das Kernproblem des patriarchal kapitalistischen Systems.

Verstehen Sie «Jungs, wir schaffen das» als Schrift gegen den Kapitalismus und das Patriarchat?
Mein Buch ist ein Angebot und eine Anleitung, wie Männer aus patriarchalen Prägungen und Zurichtungen herauswachsen können. Und das umfasst natürlich auch die patriarchal kapitalistische Zerstörungsspirale. Mit Patriarchat meine ich nicht einfach die Herrschaft der Männer. Sondern das männliche Herrschaftsprinzip, Selbstausbeutung und Fremdausbeutung als sinnvoll und alternativlos zu betrachten. Es ist ein Buch für Männer, die Sehnsucht nach einer Männlichkeit haben, bei der sie selber nicht auf der Strecke bleiben, ihre Liebsten nicht und die Natur auch nicht. Es ist eine Einladung zur Selbstreflektion. Es ist auch ein empathisches Buch: Ich verstehe ja nur zu gut, wie Männer so werden, wie sie sind. Genau deswegen ist es mir so wichtig, die Schädlichkeit traditioneller Männlichkeitsprägungen aufzuzeigen.

Sie bieten sich als eine Art Verbündeten für Männer auf der Suche an. Warum haben Sie sich für die Ansprache «Jungs» entschieden?
Das Verbündende, Kumpelhafte verstärkt die Einladung, so werde ich nicht zum Moralapostel. Das ist natürlich auch taktisch motiviert, wenn Sie darauf hinauswollen.

Und Sie haben das Gefühl, dass das zielführender ist? Damit die «Jungs» im besten Falle noch das Gefühl haben, die Sache mit der Emanzipierung wäre ihre eigene Idee gewesen?
Sie sprechen also gerade aus der Erfahrung einer Frau, die weiss, wie man Männer zu Veränderung anregt? (lacht)

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«Männer von heute können nichts für das, was ihre Väter verbockt haben»

Jetzt haben Sie mich ertappt. Sie betonen im Buch oft, dass Männer gleichermassen Opfer und Täter des Patriarchats sind. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass Sie Empathie fordern. Als Frau fällt es mir aber manchmal schwer, Mitleid aufzubringen, für die «armen» Männer, die nun leider ihre Privilegien abgeben müssen.
Ich schreibe: Empathie wäre schön, aber Anspruch darauf gibts keinen. Ich verstehe absolut, wenn Frauen keine Lust oder Energie haben, das privilegierte Geschlecht ob des Verlusts seiner Privilegien zu bedauern. Natürlich tut es mir auch weh, dass wir als Gesellschaft nicht an einem Punkt sind, an dem wir Männern Empathie für ihr eigenes Leiden unter den patriarchalen Strukturen entgegenbringen. Dennoch finde ich klar: Männer müssen sich zuerst mal selbst mit Empathie begegnen, statt diese reflexhaft von Frauen einzufordern. Jetzt müssen wir Männer unsere Hausaufgaben machen.

Die jetzt «würdevoll vom Sockel steigen» müssen, wie Sie schreiben.
Es ist nicht an mir, zu sagen, was Männer müssen. Ich zeige einfach den Männern, die gern und fair Mann sein wollen, einen Weg auf, der zumutbar ist, begehbar. Umgekehrt verwehre ich mich gegen unrealistische und unfaire Zuschreibungen, beispielsweise gegen eine männliche «Erbschuld». Männer von heute können nun mal nichts für das, was ihre Väter und Vorväter verbockt oder verpasst haben.

Das Buch richtet sich in der Ansprache an Männer, aber wer wird das Buch tatsächlich lesen?
Angesprochen ist vor allem der weisse, heterosexuelle cis Mann, der sich bisher nicht allzu viele Gedanken hat machen müssen. Wer es aber wirklich liest? Nun, sagen wir mal so: Ich glaube, dieses Buch wird viel verschenkt werden. (lacht) Es wird darin das verhandelt, was ich einem Mann auch unter vier Augen sage. Der Schlüssellocheffekt dürfte für alle interessant sein.

Die Interviews mit Ihnen und Artikel über Sie wurden fast ausnahmslos von Frauen verfasst. Woran liegt das?
Auf der Medienebene ist es schon krass, ich bekomme fast ausschliesslich Anfragen von Journalistinnen. Woran das liegt? Ich erlebe die Kultur im Medienbetrieb als eine, in der es sehr wichtig ist, meinungsstark und souverän aufzutreten. Und sich als Mann mit männlicher Emanzipation auseinanderzusetzen ist halt per se mit Verunsicherung verbunden.

«Was ist denn mit Schawinski und Co.? An deren Stelle hätte ich mich längst eingeladen!»

Die männlichen Kollegen haben also Angst vor der Selbstreflektion?
Womöglich ja. Was ist denn mit den Schawinskis und Konsorten? An deren Stelle hätte ich mich schon längst eingeladen! (lacht)

Wie hat sich Ihr Bild des progressiven Mannes in den letzten zehn Jahren verändert?
Vor zehn Jahren gab es das Konzept toxischer Männlichkeit in der öffentlichen Wahrnehmung noch nicht. Dadurch war vor zehn Jahren ein progressiver Mann jemand, der sich als Individuum fair verhält. Heute ist ein progressiver Mann eher einer, der sich als Teil einer Bewegung versteht, die krankmachende Männlichkeitsnormen überwinden will. Immer mehr Männer sehen, dass Männlichkeitskritik eine Gemeinschaftsaufgabe ist, eine politische Herausforderung auch. Und dass ein bisschen guter Wille und «mithelfen» im Haushalt eben nicht reichen.

Sie versprechen, dass emanzipierte Männer länger und glücklicher leben und erst noch besseren Sex haben. Ein No-Brainer, oder? Warum ist die Sache so schwerfällig?
Es ist tatsächlich gut erforscht, dass man gesünder und glücklicher lebt, wenn man eine liebevolle Beziehung zu sich selbst entwickelt, wenn Körper und Geist verbunden sind. Man führt tiefere, bedeutungsvollere Beziehungen und das wirkt sich natürlich auch positiv auf die Sexualität aus. Warum fällt es vielen Männern trotz dieses Versprechens so schwer, sich zu bewegen? Aus Angst vor dem Unbekannten. Veränderung macht Angst und ist riskant. Man muss ja gleichzeitig auch die Kriterien ändern, mit denen man ein gutes, erfolgreiches Leben misst.

Wenn sich Ihr Buch an Frauen richten würde, wäre es wohl in der Abteilung «Selfcare» zu finden. In der Hinsicht hat sich aber doch viel getan, auch bei Männern, nicht?
Jein. Es ist so, dass man sich mehr Mühe gibt, was den Körper angeht, das schon. Man achtet auf das Aussehen, optimiert seine Erscheinung, pflegt das erotische Kapital. Aber einen Körper zu haben und mit ihm wirklich verbunden zu sein, das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.

Zum Schluss möchte ich Ihnen eine Frage stellen, die Sie selbst Ihrer Leserschaft mit auf den Weg geben: Woher wissen Sie eigentlich so genau, dass Sie ein Mann sind?
Abgesehen von biologischen Merkmalen wie Penis und Bartwuchs? Ich weiss es nicht.

Das Buch «Jungs, wir schaffen das» ist im Kohlhammer Verlag erschienen. Am 8. Juni 2023 um 19.30 Uhr findet im Karl der Grosse in Zürich die Vernissage statt. Der Eintritt ist frei (Anmeldungen unter maenner.ch)

Markus Theunert, 50, ist studierter Psychologe und Leiter von männer.ch, dem Dachverband Schweizer Männer- & Väterorganisationen, und in dieser Funktion auch Leiter des nationalen Programms MenCare zur Förderung von väterlichem Engagement und männlichen Carebeiträgen. Zusätzlich ist er als Organisations- und Strategieberater tätig. Er lebt mit Partnerin und Tochter in Zürich.
Markus Theunert ist Gast am annabelle-Podium zum Frauenstreiktag am 14. Juni im Hof des Landesmuseum Zürich. Thema: Wie können wir Arbeit neu denken?

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Jeremy Schmidt

Patriarchale Strukturen, männliche Privilegien.. Meine Treue, wer immer noch glaubt, dass unsere Kultur ein unterdrückerisches Patriachat ist, kann oder will nicht zugeben, dass die gegenwärtige Hierarchie auf Kompetenz basiert. Und welche Privilegien hat ein Mann gegenüber Frauen? Wenn jemand Privilegiert ist, dann Frauen, Gesetzlich & Gesellschaftlich. Und noch was cis Männer, nennt man Männer, cis gibt es nicht.