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Medienpsychologe Gregor Waller:

Medienpsychologe Gregor Waller: "Das Smartphone sollte ein Werkzeug sein, kein digitaler Nuggi"

Viele Kinder und Jugendliche wünschen sich ein Smartphone zu Weihnachten. Medienpsychologe Gregor Waller erklärt, weshalb sich nicht eindeutig sagen lässt, wann ein Kind reif ist dafür – und wie wichtig Regeln sind, die für alle gelten.

annabelle: Auf manche Kinder wartet unter dem Christbaum ein Smartphone. Ein sinnvolles Geschenk?
Gregor Waller: Ein Smartphone ist wie ein Schweizer Taschenmesser: Man kann damit sehr viel machen, es braucht aber einen bewussten Umgang. Wie sinnvoll es als Geschenk ist, hängt vom Kind, seinem Entwicklungsstand und seinem Alter ab: Es sollte ein Werkzeug sein, kein digitaler Nuggi.

Ab welchem Alter sind Kinder laut der Wissenschaft reif für ein Smartphone?
Das ist vermutlich die häufigste Frage, die unserem Team gestellt wird. Leider lässt sie sich nicht eindeutig beantworten. Aus Studien wissen wir, dass in der Schweiz fast alle Kinder – 98 Prozent – in der ersten Oberstufe ein Handy besitzen, also mit 11 oder 12 Jahren. Das ist mehr ein Ist-Zustand als eine Empfehlung. Entscheidend ist der Entwicklungsstand des Kindes.

Was heisst das?
Kinder brauchen eine gewisse Reife, um mit den Möglichkeiten eines Smartphones umgehen zu können. Sie sollten den Unterschied zwischen privat und öffentlich verstehen, Regeln einhalten können und über die nötige Impulskontrolle verfügen. Kann ein Kind sich kaum vom Handy lösen oder wenn aus «noch fünf Minuten» jedes Mal eine halbe Stunde wird, ist es vermutlich noch zu früh.

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"Aus wissenschaftlicher Sicht sehe ich den Effekt eines Social-Media-Verbots kritisch"

Welche Gefahren birgt ein früher Smartphone-Konsum?
Apps wie TikTok oder YouTube Shorts haben eine starke Sogwirkung – sie wurden nach dem«Addiction by Design» konzipiert, also eine bewusste Gestaltung, die darauf abzielt, Nutzende möglichst lange zu binden. Einerseits triggern sie das Belohnungssystem, etwa durch Likes. Andererseits sind die Inhalte endlos, der nächste Clip wartet immer schon im Feed. Kinder, deren Impulskontrolle noch nicht ausgereift ist, sind besonders anfällig für diesen Sog. Sie verlieren schneller die Balance zu anderen Tätigkeiten und am Abend leidet der Schlaf, der für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zentral ist. Zusätzlich gibt’s Themen wie Cybermobbing oder ungeeignete Inhalte.

Mit anderen Worten: Videoplattformen oder soziale Medien sind Tabu für Kinder?
Videoportale wie TikTok oder YouTube Shorts mit ihren endlosen Feeds sind sicher nicht ideal. Bei solchen Apps sollte man langsam einsteigen und mit Zeitlimitierungen arbeiten. Auch soziale Netzwerke würde ich schrittweise und begrenzt freigeben, um potenziell negative Effekte abzufedern.

Australien hat vor kurzem ein Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige eingeführt. Was stehen Sie dazu?
Ein Social Media Verbot ist ein starkes politisches Signal. Dass man den Schutz von Kindern ernst nimmt, ist natürlich grundsätzlich positiv. Aus wissenschaftlicher Sicht sehe ich den Effekt aber kritisch. Ein Verbot kann kontraproduktiv wirken, weil es die untersagte Nutzung erst recht attraktiv macht. Ausserdem ist fraglich, wie wirkungsvoll ein Verbot tatsächlich ist.

Warum?
Für 14-Jährige ist es ziemlich einfach, dieses Verbot mittels VPN (Anm. der Redaktion: eine sichere verschlüsselte Verbindung) zu umgehen. Das hat zur Folge, dass sich Jugendliche plötzlich in einem illegalen Bereich bewegen. Passiert dann etwas Extremes, beispielsweise Mobbing oder Belästigungen, ist es für die Betroffenen aus Angst vor Bestrafung schwieriger darüber zu reden und sich Hilfe zu holen. Anstelle von Verboten brauchen wir vielmehr «Safety by Design».

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"Es geht weniger um die Frage, wie lange ein Kind am Handy ist, als darum, was es in dieser Zeit macht"

Was bedeutet das?
Wir sollten Plattformen gesetzlich in die Pflicht nehmen, süchtig machenden Elemente für unter 18-Jährige standardmässig zu deaktivieren und niederschwellige Meldesysteme zu implementieren. Wichtig ist auch: Medienkompetenz entsteht nicht durch Verbote, sondern durch einen begleiteten und schrittweisen Umgang.

Wie steht es denn um die positiven Seiten des Smartphones?
Ein solches Gerät bietet natürlich auch tolle Möglichkeiten. Es ist ein sinnvolles Kommunikationsmittel – sei es für Absprachen mit den Eltern oder für den Austausch mit Verwandten oder Freund:innen. Es ist hilfreich für die Navigation und bietet kreative Möglichkeiten, wie Fotografieren, Videos aufnehmen, Videos schneiden oder Musik produzieren. Und schliesslich kann es ein nützliches Recherche- und Lerntool sein. In allen Bereichen gibt es gute Apps wie beispielsweise Duolingo, Babbel, Anton oder Quizlet, um Sprachen, Mathematik oder Sachthemen zu lernen oder zu repetieren. Mit Garage Band und Walk Band lässt sich selber Musik produzieren sowie eigene Trickfilme mit Stop Motion Studio. Die Aufgabe der Eltern ist es, ihrem Kind diese Angebote zu zeigen und ihm einen sinnvollen Umgang beizubringen.

Auf welche technischen Hilfsmittel können Eltern da zurückgreifen?
Eltern sollten das Smartphone des Kindes als Kindergerät anmelden und an ein Elterngerät koppeln. So können sie Zeitbegrenzungen für Apps einstellen, In-App-Käufe blockieren und neue Apps nur mit Freigabe installieren. Die Jugendschutzeinstellungen blockieren inadäquate Inhalte: Ganz dicht ist das System aber nie, und Kinder finden kreativ Schlupflöcher. Wichtig: Diese technischen Schutzmassnahmen sind nur ein Teil der Arbeit und aus meiner Sicht der kleinere. Viel wichtiger ist, dass Eltern mit ihrem Kind in Verbindung bleiben, mit ihm über Inhalte reden und hin und wieder auch mal mitschauen, um zu sehen, was es auf dem Smartphone macht. Und natürlich braucht es klare Regeln.

Eine viel diskutierte Regel dürfte die Zeit sein. Wie viel Smartphonezeit am Tag ist okay?
Auch dafür gibt es leider keine eindeutige Antwort. Denn die Qualität ist wichtiger als die Quantität. Es geht weniger um die Frage, wie lange ein Kind am Handy ist, als darum, was es in dieser Zeit macht. Führt es in einem 30-minütigen Videocall mit der Grossmutter und erstellt es noch 30 Minuten lang ein kreatives Stop-Motion-Video, ist das eine andere Qualität, als wenn es eine Stunde durch TikTok scrollt. Zusätzlich sollte man im Blick haben, was es sonst noch macht. Hat es Hobbys? Trifft es Freunde? Spielt es offline? Solche Aktivitäten begrenzen die Zeit am Handy automatisch.

Welche anderen Regeln sind denn sinnvoll?
Wir empfehlen einen Medienvertrag, der drei bis fünf Punkte enthält. Sinnvoll sind Regeln, die Struktur geben und Überthemen betreffen wie Ort, Zeit oder Prioritäten. Konkrete Beispiele für solche Regeln sind: Kein Smartphone am Esstisch. Kein Handy während Gesprächen. Kein Handy nach 21 Uhr und nachts im Schlafzimmer. Erst die Hausaufgaben, dann das Smartphone. Erst Hobbys und Ämtli, dann das Handy. Mehr Offline-Zeit als mediale Zeit und so weiter. Diese Regeln definieren Eltern gemeinsam mit dem Kind. Der Vertrag ist für alle verbindlich.

Auch für die Eltern?
Eltern sind Vorbilder. Führt man in einer Familie Handyregeln für ein Kind ein, sollten sich die Eltern ebenfalls daran halten. Kinder haben einen guten Radar für Doppelmoral. Ein neues Smartphone in der Familie kann eine Chance sein für Eltern, ihren eigenen Umgang zu reflektieren und ihr Verhalten allenfalls anzupassen.

Gregor Waller (55) ist Forscher, Dozent und Co-Leiter Fachgruppe Medienpsychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Kommunikation, Medienpsychologie sowie Werbe- und Konsumentenpsychologie.

Der Verein Smartphone-freie Kindheit hat einen Pakt formuliert, mit dessen Unterzeichnung Eltern ihre Absicht bekunden können, dass ihr Kind nicht vor 14 Jahren ein eigenes Smartphone besitzt und/oder nicht vor 16 Jahren eigene Social-Media-Konten anlegt. Dieser wurde bisher von rund 800 Personen in der Schweiz unterzeichnet.  Ziel ist es, gegen Gruppendruck vorzugehen, der innerhalb einer Gruppe Gleichaltriger im Hinblick aufs erste Smartphone entstehen kann und letztlich auch eine lange Kindheit ohne permanente digitale Reize – dies nicht aufgrund von Technikfeindlichkeit, wie der Verein betont, sondern aufgrund von entwicklungspsychologischen Überlegungen. Weitere Infos: smartphonefreiekindheit.ch

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