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Menschliche Dummheit

Leben

Menschliche Dummheit

  • Text: Gülsha Adilji

Gülsha Adilji über Leute, die sich abends nicht abschminken, Antibiotika-Crevetten kaufen und Kuhmilch trinken.

Mir scheint, ich bin umgeben von dummen Menschen. Es tut mir leid, es wird persönlich – ich spreche von Ihnen. Und das hat jetzt nichts damit zu tun, dass Sie annabelle lesen. Ich meine damit, dass Sie rauchen, obwohl Sie wissen, dass es Sie töten kann, dass Sie Crevetten essen, die in einem Fäkalien-Antibiotika-See gezüchtet wurden, und dass Sie sich manchmal abends nicht abschminken, obwohl das Ihre Poren verstopft.

Tragischerweise kann ich mich auch nicht aus diesem Ozean von grenzenloser Begriffsstutzigkeit retten: Ich bin also eine von Ihnen. So weiss ich zum Beispiel, dass Batterien hochgiftig sind und korrekt entsorgt gehören, und schmeisse die Dinger trotzdem einfach in den Haushaltsabfall. Mit mir machen das noch ganz viele, jährlich landen in der Schweiz über dreissig Millionen Batterien dort, wo sie nicht hingehören. Wir geben unseren Kindern Ritalin, anstatt das Schulsystem zu reformieren und den Lehrplan an die wissenschaftlichen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts anzupassen. Es kommt nicht von ungefähr, dass so viele Jungs Lernschwächen aufweisen: Der Lehrplan schiesst an ihren Bedürfnissen und ihrem Testosteronspiegel so stark vorbei, wie ich damals beim Penaltyschiessen am Sporttag 1994 in Henau SG. Wir bauen unsere Städte so, dass die Lichtemissionen uns krank machen und die Verdichtung depressiv. Und anstatt den Ursachen von Depressionen auf den Grund zu gehen, kritzelt der Arzt den Serotoninwiederaufnahmehemmer bereits auf ein Rezept, noch ehe man die optimale Sitzposition im Praxisstuhl gefunden hat. Wir trinken Kuhmilch, obwohl sie weder gesund noch ethisch vertretbar ist. Unsere Unkenntnis ist gar so gross, dass wir nicht nur die Milchproduktion subventionieren, sondern auch eine Lobby gewähren lassen, die Werbung, Lehrmittel und Ernährungspyramide nach ihrem Gusto aufmotzt. Und je tiefer die Zahl auf einem Preisschild einer Hose, desto höher unser Puls, dabei wissen wir ganz genau um die Produktionsverhältnisse. Trotzdem bleibt nicht genügend Zeit, darüber nachzudenken, weil wir etwas Neues zum Anziehen für den Pre-Sale-Event brauchen.

Und das alles nicht erst seit gestern. Wir wiederholen das Ganze, seit es uns gibt – starr, unflexibel und unverändert, wir sind der Gesichtsausdruck von Kanye West. Ich sollte langsam aufhören, Sie mit meiner Aneinanderreihung von menschlichen Dummheiten zu beleidigen und versöhnlich ausführen, dass alles nur halb so wild ist. Ich müsste versuchen, ein gutes Gefühl zwischen die Zeilen dieser Kolumne zu pressen, eine Metaebene zu kreieren, die einem lächelnden Abwinken gleichkommt und Ihnen als Auflösung erklären, dass ich alles gar nicht so meine und dass wir eigentlich kritikfähige Wesen seien, fähig zu Empathie, genetisch bedingt altruistisch und so.

Ich befürchte jedoch, wir sind verloren. Wir werden es mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht schaffen, in diesem Ozean von Faulheit und Bequemlichkeit eine rettende Insel zu finden. Wegen unserer Dummheit werden weiterhin Kinder verhungern, Tiere unter erbärmlichen Umständen geschlachtet und Poren mit Make-up verstopft werden. Oder haben Sie soeben entschieden, sich der Faulheit zu stellen und sich nie wieder geschminkt ins Bett zu legen oder keine Antibiotika-Crevetten mehr zu kaufen? Weil das ein Anfang wäre. Aber nur vielleicht und nur ein Anfang.