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Not am Mann: Warum fehlende männliche Vorbilder ein Problem sind

Not am Mann: Warum fehlende männliche Vorbilder ein Problem sind

Frauen, gerade junge, werden immer progressiver. Männer, gerade junge, immer reaktionärer. Kein Wunder, findet unser Autor, haben die einen doch, was den anderen fehlt: Vorbilder, die ihnen ein diverses Verhältnis zum eigenen Geschlecht vorleben.

Es muss gerade fantastisch sein, als junge Frau unterschiedlichste Facetten von Weiblichkeit feiern zu können. Da ist der Hyper-Feminismus der deutschen Rapperin Shirin David, eine schillernde Party überzeichneter Weiblichkeit. Da ist der Brat-Style der britischen Sängerin Charli XCX, der der grossen Zügellosigkeit frönt und dem Selbstoptimierungswahn den Kampf ansagt. Und da sind Grössen wie Taylor Swift, die mit ihrer Musik einen zuckersüssen Glitzer-Safe-Space verspricht, oder Beyoncé, die jedem Mädchen da draussen sagt: You can be a queen, too!

Zumindest im Pop scheint das Patriarchat abgeschafft. So ist jedenfalls mein Eindruck als interessiert beobachtender Mann. Diese verschiedenen Entwürfe wirken auf mich wie eine Rückversicherung des weiblichen Selbst im besten Sinne: Frauen, die Frauen feiern – ohne dass Männer dabei mitgemeint wären.

Auch in der Politik entfaltet sich der weibliche Facettenreichtum: Mit Kamala Harris wagte im vergangenen Jahr in den USA eine kinderlose Schwarze Frau den Griff nach der ganz grossen Macht. Von Deutschland aus jettete Annalena Baerbock als Aussenministerin durch die Weltgeschichte, während sich zuhause der Mann um die beiden Töchter kümmerte. In der Europäischen Union leitet mit Ursula von der Leyen eine Mutter von sieben Kindern die Geschäfte, als erste Frau auf diesem Posten. Und hierzulande setzt sich die queere Nationalrätin Anna Rosenwasser für LGBTQIA+-Rechte ein.

Das Angebot an Männlichkeiten ist mau

Frauen hören andere Frauen öffentlich und offen über Mutterschaft sprechen, über die schönen und furchtbaren Seiten. Sie hören Frauen, die darüber reflektieren, warum sie es lieben, kinderlos zu sein, oder warum sie es bedauern. Sie hören von Konzernchefinnen und feministischen Hausfrauen. Von nichtmonogamen Beziehungsnetzwerken und freiwilliger Enthaltsamkeit. Es gibt so viele Angebote für Frauen, dass es für sie nahezu unmöglich ist, dabei nicht irgendwann auf eine Geschlechterrolle zu stossen, die ihnen gefallen könnte.

Für junge Männer hingegen, scheint mir, gibt es keine entsprechende Bandbreite. Es fühlt sich an wie in einem schlecht sortierten Supermarkt: Die Regale sind leer, das Angebot an Männlichkeiten mau. Nun könnte man fragen: Was soll daran schlimm sein? Wen interessierts? Mit gewissem Recht könnte man mich verhöhnen: Oh nein, ein weisser, heterosexueller Cis-Mann Mitte dreissig vermisst gesunde Vorbilder für sein Leben und seine jüngere, männliche Kollegenschaft – bringt eine Rettungsdecke! Verständigt die Vereinten Nationen! Schickt Hilfslieferungen!

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"Einzelne Männer ohne Vorbild sind egal, massenhaft aber ein Problem"

Ja, einzelne Männer ohne Vorbild mögen egal sein. Massenhaft werden sie aber zum gesellschaftlichen Problem. Wenn keine neuen Vorbilder eine sich verändernde Gesellschaft mitgestalten, bleiben nur althergebrachte Rollenbilder. Für Männer lockt so schnell das verführerische Machtversprechen des Patriarchats.

Dass diese Sehnsucht nach alter Ordnung zwischen den Geschlechtern wächst, lässt sich seit einigen Jahren bei so gut wie jeder Wahl erkennen. In der Schweiz, in Europa, in den USA und rund um den Globus: Männer, vor allem jüngere, wählen immer reaktionärer – Frauen hingegen immer progressiver. Bei den letzten eidgenössischen Wahlen 2023 etwa war die SP die stärkste Partei unter den Frauen zwischen 18 und 24 Jahren, bei den gleichaltrigen Männern war es die SVP.

Gesunde und nachahmenswerte Geschlechterrollen

Schon klar, die Gründe, die für diese politische Polarisierung der Geschlechter genannt werden, sind vielfältig: das Bildungssystem, Einsamkeit, der Feminismus an sich, die schlechte Weltwirtschaftslage. Aber ein Punkt kommt in der Analyse zu kurz, den ich für wichtig halte. Die Polarisierung liegt auch daran, dass die einen haben, was den anderen fehlt: Vorbilder, die ihnen gesunde und nachahmenswerte Geschlechterrollen aufzeigen.

Wenn ich überlege, wer als männliches Vorbild im öffentlichen Raum infrage käme, fallen mir – je nachdem, an welchem Ende von Männlichkeit man sich verortet – momentan exakt zwei Angebote ein: der Schauspieler Timothée Chalamet, ein zarter junger Mann, der in seinen Filmen keine Angst vor verletzlichen Rollen hat und auf dem roten Teppich keine vor femininer Kleidung – oder Andrew Tate, der wegen mehrerer Straftaten angeklagte Influencer, der unter anderem damit bekannt wurde, dass er Frauen als das Eigentum von Männern ansieht und seinen Zuschauern eintrichtert, ein Mann sei nur dann ein Mann, wenn er durchgreife. Supermodern versus supersteinzeitlich. Ich glaube, die Mehrheit der Männer findet weder den einen noch den anderen sonderlich nachahmenswert. Auch ich gehöre dazu.

Vor einiger Zeit lud mich ein Verlag ein, mit anderen Männern zusammen ein neues Männerheft zu konzipieren. Oberste Richtlinie: Es sollte genau nicht sein, was bisher am Kiosk rumliegt. Also bloss keine Sportroutinen vom muskelbepackten Ryan Reynolds mehr, keine Anleitung für das perfekte Entrecôte von Schauspieler Chris Evans oder Ehetipps eines anderen vermeintlichen «Sexiest Man Alive». Es sollte nicht um Männer gehen, die nur gezeigt werden, wenn sie in etwas am besten sind: bei der Bartpflege, beim Whiskytrinken oder Uhrentragen. Für unser erstes Heft brauchten wir natürlich einen Coverstar. Anders gesagt: einen Mann, der uns als Vorbild taugte.

Zunächst fielen uns Männer ein, die in Würde altern. Der weltoffene Herbert Grönemeyer, der kämpferische Jean Ziegler. Aber fiel uns nicht auch jemand ohne graue Haare ein? Wir nannten Namen und verwarfen sie, nichts blieb lange haften. Niemand überzeugte uns. Schliesslich schlug einer aus der Runde allen Ernstes vor: Jesus Christus. Der hatte es immerhin schon mit Anfang dreissig geschafft, unsterblich zu werden. Fand ich gar nicht schlecht: Ein selbstloser Mann, der sich für Ausgegrenzte einsetzte, der Sünder:innen die Füsse wusch, seinen Feind:innen verzieh und für seine den Menschen zugewandten Überzeugungen den Märtyrertod starb. Eigentlich ein ziemlich guter Typ.

Ernüchternde Realität

Angestossen durch die Suche nach einem Cover-Mann und enttäuscht von der Realität, die sich als ernüchternd entpuppt hatte, begann ich, die Fiktion nach möglichen Vorbildern abzugrasen. Kurz fühlte ich Hoffnung: Wenigstens auf der Kinoleinwand gibt es viel mehr nachahmenswürdige Männer als früher. Bei den Figuren, die eine lange Geschichte haben, James Bond zum Beispiel, erleben wir eine Evolution: weg vom herzlosen Macho hin zu Schwäche und Sanftheit.

Selbst Marvels Iron Man oder Thor kennen mittlerweile Selbstzweifel. Die besten Männer der Kinogeschichte zeigt mein Für-immer-undewig-Lieblingsfilm: «Der Herr der Ringe». Die Männer darin weinen, sie sprechen sich Mut zu. Prinzen umarmen und küssen sich in tiefer Freundschaft, manchmal lösen sie Probleme sogar durch Kommunikation. Die grössten Helden des Films sind die kleinen Hobbits.

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"Anders als heute war da niemand, der mit viel Geld und Ideologie ausgestattet systematisch pubertäre Jungs für sich einnehmen wollte"

Aber klar: Als Vorbilder für mein echtes Leben taugen angeschrammte Geheimagenten, wankelmütige Königskinder oder Hobbits mit zu grossen Füssen nur bedingt. Die Realität bleibt das Problem. Hinzu kommt: Bei so ziemlich allen Helden, die ich in der Wirklichkeit einst hatte, Sportlern wie Künstlern, kam früher oder später heraus, dass sie Steuern hinterzogen, Frauen missbrauchten oder rechtsradikal geworden waren.

Nichtsdestotrotz hatte ich mit einigen Vorbildern in meiner Jugend ziemliches Glück – obwohl die Ausgangslage nicht sehr vielversprechend ausgesehen hatte. Mein jugendliches Ich gestaltete sich in etwa so: Mit 15 war ich dürr wie ein Stock; meine liebsten Beschäftigungen waren Masturbieren und Biertrinken. All das half nicht dabei, eine erfüllende Pubertät zu durchleben. Anerkennung fand ich bei anderen Jungs in Videospielen. Meine ersten Vorbilder waren die, die online besser schiessen konnten.

Doch dann plötzlich, in diesem einen Wimpernschlag der Menschheitsgeschichte, den Nullerjahren, galten dürre Männer mit Hang zur Selbstzerstörung auf einmal als der Gipfel der Coolness. Ich himmelte den Musiker Pete Doherty an und Johnny Knoxville, der sich bei den Mutproben mit seiner Fernsehkrawallkombo «Jackass» regelmässig Knochenbrüche und Hirnerschütterungen zuzog.

Keiner von uns kaufte Proteinpulver

Dürr wie sie war ich ja schon, also tat ich mein Bestes, um mich ihnen noch mehr anzugleichen: Kaufte meine erste Röhrenjeans in der Frauenabteilung von Zara, baute ein enormes Wissen in Nischenthemen auf (obskure Horrorfilme, skandinavische Biermarken, kunterbunte Haarfärbemittel) und machte Stagedives auf schlecht besuchten Konzerten in der Grossstadt um die Ecke. Leichtsinnigsein war okay, sogar wünschenswert. Dürrsein auch. Das war mein erstes Glück: Keiner von uns zählte Kalorien oder kaufte Proteinpulver, niemand brauchte mit 15 einen definierten Bizeps.

Hinzu kam, dass ich abseits meines Computers, auf Konzerten, in Szenekneipen und den Programmkinos Hamburgs, Grossstadtmännern begegnete, die verdammt viel lasen. Freiwillig! Arbeiterlyrik und linksradikale Sachbücher, sie lasen Theaterstücke von Bertolt Brecht, Romane von Max Frisch, und das wurde mein zweites Glück: Bei ihnen hörte ich zum ersten Mal davon, dass es ein kompliziertes Wort dafür gibt, wenn man es fürchterlich findet, dass Reiche immer reicher werden («Kapitalakkumulation») – und ein Wort dafür, dass man die Gleichstellung von Frauen richtig findet («Feminismus»).

Im Würgegriff der Manosphere

Dass ich all dem begegnete, ausgerechnet diesen Männern und wie sie auf die Welt blickten – das war Zufall. Es hätte auch ganz anders kommen können. Denn, mein drittes Glück: Anders als heute war da niemand, der mit viel Geld und Ideologie ausgestattet systematisch pubertäre Jungs für sich einnehmen wollte. Keine sogenannten Männerrechtler, keine rechten Influencer wie Andrew Tate.

Es gab noch keine Sozialen Netzwerke im Würgegriff der Manosphere, jenes dezentralen antifeministischen Netzwerks von Jungen und Männern, deren geeinte Männlichkeit einzig in ihrem Hass auf Frauen besteht. Es gab keine Partei, die – wie es die AfD in Deutschland heute tut – um einen wie mich als Erstwähler geworben hätte, indem sie mir verspricht, dass alles gut werde, wenn wir gemeinsam den Feminismus rückabwickeln.

"Die progressiven Männer haben sich ins innere Exil verabschiedet"

Heute frage ich mich oft: Hätte ich jenen Stimmen widerstanden, hätten sie sich mir als überfordertem und beeinflussbarem Teenager als Vorbilder der Männlichkeit präsentiert? Hätte ich weggescrollt, wenn ein prominenter AfD-Mann wie Maximilian Krah, Mitglied des Deutschen Bundestags, sagt: «Echte Männer sind rechts»? Ich kann nicht garantieren, dass ich immun gewesen wäre.

Und damit landen wir wieder in der deprimierenden Gegenwart. Zum Soundtrack von Taylor Swift oder Shirin David surfen Frauen längst die vierte Welle des Feminismus – doch Männer haben sich noch nicht einmal in die Nähe des Wassers getraut. Alle können mittlerweile toxische Männlichkeit definieren. Wir wissen, sie zu ächten. Aber so gut wie niemand weiss zu benennen, worin nicht-toxische Männlichkeit besteht.

Stattdessen, so scheint es, kommen die Lautesten von ihnen wieder aus ihren Höhlen gekrochen, um sich öffentlich auf die Brust zu trommeln. Die progressiven Männer haben sich ins innere Exil verabschiedet. Sie haben verstanden, dass es durchaus männlich sein kann, die Klappe zu halten, wenn Frauen reden – bloss hat es ihnen darüber vollends die Sprache verschlagen.

Der patriarchale Arschlochmann

Es gibt schlichtweg so gut wie keinen öffentlichen Diskurs unter Männern über Fragen wie: Sollte man sich als Mann Feminist nennen, wenn man an den Feminismus glaubt – oder ist das so, wie sich als weisser Mensch Dreadlocks zu flechten und sich so ein Schwarzes Widerstandssymbol zu eigen zu machen, das einem nicht gehört? Ab wann verhält man sich selbst wie der patriarchale Arschlochmann, der man eigentlich nicht sein will? Wie kann man es unterlassen? Was können wir als Männer tun gegen die grassierende Gewalt gegen Frauen? Und, Männer, wie haltet ihr es eigentlich mit Erektionsstörungen ab Mitte dreissig? Schon mal einen Beckenbodenkurs ausprobiert?

Am Ende – Gott sei Dank! – fiel mir doch noch ein Mann ein, der für mich zumindest in die Nähe eines Vorbilds rückt. Als eine Annäherung. Weil er in der Öffentlichkeit stets bescheiden auftritt, weil er keiner von diesen Macho-Eierschauklern ist, weil er anderen mit Respekt begegnet und Werte repräsentiert, denen ich zustimmen kann. Die Rede ist von Roger Federer (43), zweifellos einer der grössten Sportler aller Zeiten.

Er konnte siegen, ohne sich zu erheben

Er war ein Gentleman im Tennis, ein Sport, der von seinen Chaoten, Rockstars und Diven lebt. Schläger zerschmettern, Schiedsrichter: innen anschreien, Siege wie Wutausbrüche feiern: Das überliess Federer anderen. Er war der Beste – und liess es niemanden spüren. Das macht ihn für mich zum Vorbild: Er konnte siegen, ohne sich zu erheben. Und er konnte abtreten, ohne zu verbittern.

Sein letztes Match spielte er an der Seite seines grössten Rivalen – mit Rafael Nadal im Doppel. Das letzte Bild zeigt zwei Männer, die einander die Hand halten. Federer weint. Nadal auch. Zwei Männer, vereint im stillen Respekt für das, was sie einander über Jahre an der Weltspitze abgerungen haben.

Ich stelle mir vor, dass Roger Federer privat einer ist, der sich aufrichtig für seine Kinder interessiert. Wenn er mitbekommen würde, dass eines davon Faschisten nach dem Mund redet, gäbe es keine Backpfeife, sondern ein Referat über demokratische Grundwerte. Ich stelle mir vor, dass er seiner Frau Wertschätzung zeigt für all die Care-Arbeit, die sie zuhause leistet, dass er sie auf Augenhöhe mit sich selbst sieht. Ich stelle mir vor, dass er für sie und die Kinder kocht, ohne danach gelobt werden zu wollen, weil er sich auch mal am Haushalt beteiligt hat.

Vielleicht aber muss ich mir gar nicht vorstellen, wie Roger Federer ist. Womöglich sind meine Annahmen nicht mehr als Projektionen über diesen Mann, der sowieso keinen Finger mehr rühren muss, weil er zahlreiche Menschen angestellt hat, die den Haushalt und die Care-Arbeit schmeissen. Vielleicht reicht es, dass ich weiss, wie ich ihn mir wünsche, den vorbildlichen Mann – um zu erkennen, wer ich selbst sein will. Für mich. Und für Männer, die jünger sind als ich.

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