
Timothée Chalamet: "Warum habe ich nicht einfach ein normales Leben?"
Er hat es gewagt: Timothée Chalamet spielt in "A Complete Unknown" die Musiklegende Bob Dylan. Ein Interview über den grössten Skandal in der Musikgeschichte, Paralleluniversen und eine neue Generation von Dylan-Fans.
- Von: Jacqueline Krause-Blouin
- Bild: Searchlight Pictures
annabelle: Timothée Chalamet, Bob Dylan hat viele Gesichter. Wie wichtig war es Ihnen, kein abschliessendes Porträt dieser Legende zu zeichnen?
Timothée Chalamet: Sehr wichtig. Der Film spielt zwar in einem sehr konkreten, begrenzten Zeitraum von 1961 bis 1965, aber es geht um einen Künstler, der sich entwickelt und ständig verändert. Und das tut Dylan mit seinen 83 Jahren wie kaum ein anderer. Bob Dylan lebt und kennt seine eigene Geschichte selbst am besten. Dieser Film interpretiert, wie jeder Film das tut. Insofern ist es vielleicht eine Mischung aus Fabel und Biopic.
Bob Dylan ist eine überlebensgrosse Figur, wo fängt man da als Schauspieler an?
Ich habe alles für diese Rolle getan, überall und alles auf einmal: Bob Dylans eigene Schriften und Chroniken gelesen, seine Spuren in Minnesota und Wisconsin, Chicago und New York verfolgt und vor allem seine Musik gehört und analysiert, denn die Musik ist wunderschön und allumfassend. Zum Glück haben wir uns auf diesen klaren Zeitraum beschränkt, von dem es nur eine sehr begrenzte Menge an Archivmaterial gibt. Radiointerviews, Musikdemos, Biografien – ich habe alles aufgesogen, aus dieser Zeit habe ich absolut jeden Stein umgedreht. Und ich hatte fünfeinhalb Jahre Zeit, daran zu arbeiten.
Seit 2019 haben Sie sich auf diese Rolle vorbereitet. Sie haben gelernt, Gitarre und Mundharmonika zu spielen, zu singen und auf Dylans prägnante Art zu sprechen. Sie waren 24, als Sie mit der Arbeit begannen, nun sind Sie 29.
Ja, es ist eine Erleichterung, dass das Publikum das Ergebnis dieses Prozesses endlich sehen kann. Es fühlt sich an, als wäre ich etwas losgeworden. Irgendwann, als die Pandemie kam, aber auch als der Schauspielerstreik losging, wurde ich misstrauisch gegenüber dem Universum. Ich fürchtete, dass dieses Projekt vielleicht nie veröffentlicht werden würde, immer wieder mussten wir es verschieben.
Und nun entdeckt eine ganz neue Generation den Künstler Bob Dylan.
Es ist eine Ehre, die Brücke zu dieser Zeit und zu diesem unglaublichen Künstler zu sein, der nicht nur ganz Amerika, sondern die ganze Welt durch seinen grossen Geist und seine Lyrik beeinflusst hat.
Hatten Sie Angst?
Bevor wir loslegen konnten, war das alles sehr überwältigend, ich war anfangs etwas überfordert. Aber als wir dann endlich mit den Dreharbeiten begannen, fühlte ich mich ganz in die Lage dieses jungen Mannes versetzt. Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich dabei gelernt habe, aber ich fühle mich, als wäre ich am Ende angekommen. Ich habe etwas Grosses durchgemacht.
Timothée Chalamet"Man weiss nie, ob man in der Lage sein wird, den Berg zu erklimmen, aber man klettert trotzdem"
Sie haben mal gesagt, dass das Spielen einer realen Person mehr sei als die Olympiade der Imitation – man muss sich selbst in die Rolle mit einbringen. Was war für Sie der Schlüssel zur Transformation?
Ich denke, das liegt wahrscheinlich im Auge des Betrachters, aber ich hatte nie das Gefühl, dass das Schiff in die falsche Richtung steuert. Ich musste mich selbst aus meiner Komfortzone bringen. Manchmal habe ich mich gefragt, warum ich nicht einfach einen entspannten Job und ein normales Leben habe. Dieser Lifestyle, ein Künstler und Schauspieler zu sein, ist einfach zu verrückt. Und er ist nur dann sinnstiftend, wenn man alles gibt. Das wiederum ist das grosse Geschenk des Jobs – man weiss nie, ob man jemals in der Lage sein wird, den Berg zu erklimmen, aber man klettert trotzdem.
Sie haben in letzter Zeit öfter junge Männer porträtiert, die zu Ruhm kommen oder an Macht gelangen. Sehen Sie da Parallelen zu sich selbst?
Das Faszinierendste an der Welt von "Dune" und der Periode in Bob Dylans Schaffen, die wir in diesem Film erkunden, ist das Mindset der amerikanischen Kultur in den 60er-Jahren. "Dune" wurde Mitte der 60er-Jahre an der Westküste geschrieben, also in einer ähnlichen Zeit der US-Geschichte, in der Künstler:innen mit ihrer Kreativität und Offenheit bahnbrechend waren. Und was mich betrifft: Es ist doch wirklich nicht so spannend, herauszufinden, was das alles mit mir zu tun haben könnte. Ich habe keine interessante Perspektive, die über die Art und Weise hinausgeht, die für Sie oder mich offensichtlich ist. Und die Art und Weise, die nicht offensichtlich ist, ist auch nicht offensichtlich. Wissen Sie – ich bin kein Prophet.
Sie sprechen ja schon wie Bob Dylan selbst! Haben Sie nach dieser grossartigen Leistung Lust, ihn in einer späteren Phase seines künstlerischen Schaffens zu spielen?
Oh, Mann, ja. Das Erstaunliche an Bob Dylan ist, dass jedes Kapitel interessant ist. Man kann aus fast jeder Periode aus Bobs Leben einen Film machen. In vielerlei Hinsicht habe ich das Gefühl, dass der Teil meines Lebens, in dem ich Bob Dylan spiele, vielleicht noch nicht vorbei ist. Und der Teil meines Lebens, in dem ich ihn und sein künstlerisches Schaffen erforsche, ist definitiv noch nicht vorbei. Nicht mal halbwegs, denn es gibt so viel grossartiges Material da draussen, das ich immer noch entdecke – gerade höre ich zum Beispiel das Album "Time Out Of Mind".
Bob Dylan hat Sie in einem Tweet erwähnt: "Demnächst startet ein Film über mich mit dem Titel ‹A Complete Unknown› (was für ein Titel!). Timothée Chalamet spielt darin die Hauptrolle. Timmy ist ein brillanter Schauspieler, also bin ich sicher, dass er mich absolut glaubhaft darstellen wird. Oder ein jüngeres Ich. Oder ein anderes Ich. Es ist eine fantastische Nacherzählung der Ereignisse aus den frühen 60er-Jahren, die zu dem Fiasko in Newport führten." Jetzt können Sie glücklich sterben, oder?
Ja, ich wusste nicht, ob er jemals etwas zum Film sagen würde, denn wie es sich für den zurückgezogenen Künstler Bob gehört, wusste niemand, ob er sich den Film überhaupt anschauen würde, obwohl er ja das Drehbuch gelesen hatte. Ich habe gehört, dass er anscheinend noch nicht einmal "No Direction Home" gesehen hat. Dieser Post war eine enorme Bestätigung. Als junger Künstler, egal wie erfolgreich, einen Klaps auf die Schulter von einer Legende zu bekommen, besonders von einer Legende von wenigen Worten wie Bob Dylan – das ist ein wahr gewordener Traum. Nein, es war jenseits meiner wildesten Träume! Das war eine Bestätigung und ein Moment in meinem Leben und meiner Karriere, in dem ich sagen konnte: Okay, ich mache das Richtige.
Warum war es Ihnen so wichtig, dass die Musikszenen im Film live aufgenommen wurden?
Nun, ich bin der Überzeugung, dass Musik live einfach besser ist. Nur so hatte ich das Gefühl, dass ich den Liedern Leben einhauchen konnte. Und schliesslich handelt es sich hier um Folkmusik. Es ist keine Oper, sondern es geht gerade um die Unvollkommenheit. Es geht um die Kratzer in deiner Stimme, um Dinge, die man in einem perfekt ausgestatteten Musikstudio in L.A. nicht finden kann. Und ehrlich gesagt war das ein Kampf, denn das Team wollte für die Konzertszenen eine Vorabaufnahme verwenden. Aber ich habe mich durchgesetzt und darauf bestanden, alles live zu spielen.
Der Moment beim Newport Folk Festival 1965, in dem der Folkmessias Dylan plötzlich mit einer Rockband auftrat, ist legendär. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie mit einer E-Gitarre auf der Bühne standen und anfingen, "Maggie’s Farm" zu spielen und dann "Like A Rolling Stone", während Sie ausgebuht wurden?
Es war absolut berauschend. Ich habe jede Sekunde davon geliebt und konnte gar nicht glauben, dass ich diesen magischen Moment der Musikgeschichte so real am eigenen Leib erfahren durfte. Es war so dreist und mutig von Bob, die künstlerische Richtung zu verfolgen, die er einschlagen wollte – entgegen allen Konventionen. Das ist etwas, von dem wir uns alle inspirieren lassen können. Nicht nur in der Kunst, sondern auch im Leben, einfach das zu verfolgen, von dem man innerlich weiss, dass es das richtige ist.
Ob er wusste, dass er die Musikwelt für immer verändern würde?
Ich habe keinen Schimmer, denn ich kann nicht für ihn sprechen. Er ist quicklebendig und wohlauf drüben in Malibu.
Sie sind bei diesem Film zum ersten Mal auch Produzent. Warum?
Ich wollte sicherstellen, dass dieser Film überhaupt existiert. Wissen Sie, dieses Projekt fiel im Grunde genommen dreimal ins Wasser und ich konnte es jedes Mal wieder zum Leben erwecken. Ausserdem konnte ich nur als Produzent so viele Songs in den Film schmuggeln, die im ursprünglichen Drehbuch nicht vorgesehen waren. Da habe ich definitiv von meiner Erfahrung als grosser Dylan-Fan der letzten fünfeinhalb Jahre profitiert. Ich glaube, ich darf mich mittlerweile als Dylanologen bezeichnen.
Treten Sie und Dylan diesen Sommer zusammen am Coachella auf?
Oh wow, ein faszinierender Gedanke. Ich stelle mir schon das Plakat dazu vor! Also ja – es gibt ein alternatives Universum, in dem das passieren wird.
"A Complete Unknown" läuft ab 27.2. in Schweizer Kinos und ist für acht Oscars nominiert.