
Gewalt an Frauen: 5 Forderungen an den Bund
Was braucht es, um Frauen vor Gewalt zu schützen? Autorin Miriam Suter richtet fünf Forderungen an den Bund, die dringend umgesetzt werden müssten.
- Von: Miriam Suter
- Bild: Keystone
Ab November 2025 hätte in der Schweiz endlich eine dreistellige Notfallnummer für Opfer von häuslicher, sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt eingeführt werden sollen – ein niederschwelliger Zugang zu Hilfe rund um die Uhr, eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene. Doch nun hat der Bund die Einführung kurzerhand um ein halbes Jahr verschoben. Der Grund: technische Herausforderungen.
Dabei hat sich die Schweiz mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention bereits 2017 dazu verpflichtet, sich auch auf staatlicher Ebene gegen Gewalt an Frauen einzusetzen. Sie wird aber immer wieder für ihr unzureichendes Engagement gerügt, zuletzt im November 2022 vom Expert:innengremium GREVIO, das für die Überwachung der Umsetzung der Istanbul-Konvention zuständig ist.
Angesichts der Tatsache, dass die Schweiz Anfang April bereits den 13. Femizid verzeichnet und damit eine doppelt so hohe Quote wie noch 2024 vorweist, wirkt die Verzögerung der Notfallnummer wie ein Armutszeugnis. Und auch auf politischer Ebene fehlen nach wie vor grundlegende Strukturen, die Frauen effektiv vor Gewalt schützen würden. Das kostet Frauenleben. Andere Länder zeigen, wie es besser ginge.
Hier sind fünf dringend notwendige Forderungen an den Bund, die jetzt umgesetzt werden müssten.
1. Ein umfassendes Gesetz gegen häusliche Gewalt
In der Schweiz fehlt nach wie vor ein spezifisches Bundesgesetz, das häusliche Gewalt umfassend adressiert. Straftaten wie Körperverletzung, Vergewaltigung oder Drohung werden per Gesetz einzeln beurteilt, ohne den Kontext häuslicher Gewalt systematisch zu berücksichtigen. Aktuelle Zahlen unterstreichen die Dringlichkeit: Im Jahr 2024 registrierte die Polizei 21’127 Straftaten im häuslichen Bereich, ein Anstieg um 6,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Zudem wurden 11’849 geschädigte Personen polizeilich erfasst, davon waren 70 Prozent Frauen.
Diese Zahlen zeigen: Häusliche Gewalt ist ein weitverbreitetes Problem, das spezifische gesetzliche Massnahmen erfordert. Ein umfassendes Gesetz würde nicht nur Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung systematisch regeln, sondern auch ein klares Signal senden, dass der Staat häusliche Gewalt nicht toleriert.
Länder wie Spanien haben übrigens mit spezialisierten Gesetzen positive Erfahrungen gemacht und verzeichnen Fortschritte im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Bereits 2004 wurde das sogenannte Ley Orgánica de Medidas de Protección Integral contra la Violencia de Género verabschiedet, ein fortschrittliches Gesetz, das geschlechtsspezifische Gewalt als strukturelles Problem anerkennt. Es beinhaltet spezielle Gerichte für Gewalt an Frauen, Schutzmassnahmen, finanzielle Hilfen für Betroffene, präventive Bildungsprogramme und verpflichtende Schulungen für Fachpersonal.
Die spanische Gesetzgebung nimmt damit eine Vorreiterrolle in Europa ein – sie reagiert damit auf jahrzehntelangen feministischen Druck sowie auf eine alarmierende Zahl an Frauenmorden. Seither ist die gesellschaftliche Sensibilisierung gewachsen, die Zahl der Femizide langfristig rückläufig. Spanien zeigt: Mit klaren gesetzlichen Vorgaben lassen sich Fortschritte erzielen.
"Die Schweiz hat derzeit 23 Frauenhäuser – für die über 4 Millionen Frauen im Land ein unzureichendes Angebot"
2. Mehr Geld und Infrastruktur für Frauenhäuser
Viele gewaltbetroffene Frauen müssen in gefährlichen Situationen ausharren, weil sie keinen sicheren Ort finden. Die Schweiz hat derzeit 23 Frauenhäuser – für die über 4 Millionen Frauen im Land ein unzureichendes Angebot. Der Europarat empfiehlt ein Familienzimmer in einem Frauenhaus pro 10’000 Einwohner:innen. Hochgerechnet bräuchte die Schweiz also mindestens 874 Zimmer, realistisch wären es wohl über 1’000, um den Bedarf zu decken. In ländlichen Regionen fehlen Schutzräume oft komplett. Betroffene müssen weite Wege auf sich nehmen oder werden aufgrund von Kapazitätsengpässen abgewiesen.
Auch die Qualität der Unterkünfte variiert stark. Nicht alle Häuser bieten barrierefreien Zugang, geschultes Personal oder Platz für Kinder. Opferschutz darf aber nicht vom Wohnort abhängen: Es braucht verbindliche Standards, gesicherte Langzeitfinanzierung – und den massiven Ausbau von Schutzunterkünften in allen Kantonen.
Zum Vergleich: Norwegen hat für ungefähr 2,8 Millionen Frauen immerhin 50 Frauenhäuser. Dass es dafür mehr Geld braucht, haben auch die SP-Frauen klar gemacht: Ende März reichten sie zusammen mit Campax und der NGO Brava eine Petition ein, die vom Bundesrat ein Budget von 350 Millionen Franken für den Kampf gegen Gewalt an Frauen fordert.
"In Österreich wird die Polizei gezielt im Umgang mit Gewaltopfern geschult, Opferhilfestellen sind aktiv in die Ausbildung eingebunden"
3. Verpflichtende Schulungen für Polizei, Justiz und medizinisches Personal
Immer wieder berichten Betroffene von demütigenden Erfahrungen bei Polizei und Justiz. Anzeigen werden abgewiegelt, Aussagen nicht richtig aufgenommen, Verletzungen unzureichend dokumentiert. Solche Erfahrungen können das Trauma verstärken und führen oft dazu, dass viele Frauen sich gar nicht erst an die Behörden wenden. Eine Studie von Amnesty Schweiz zeigte 2019: Nur etwa 20 Prozent der Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren, erstatten Anzeige. Der Hauptgrund: mangelndes Vertrauen in das System.
In Österreich wird die Polizei gezielt im Umgang mit Gewaltopfern geschult, Opferhilfestellen sind aktiv in die Ausbildung eingebunden. In der Schweiz hingegen ist das Thema an Polizeischulen oft nur ein Randthema. Die Inhalte und Intensität der Schulungen variieren je nach Kanton – ein Flickenteppich statt eines funktionierenden Schutzsystems. Der Bund muss sicherstellen, dass alle Berufsgruppen, die mit Betroffenen in Kontakt kommen, verpflichtend und praxisnah geschult werden – zu Traumapädagogik, Opferschutzrechten, Deeskalation und Täterverhalten.
"Gute Daten sind Voraussetzung, aber nicht allein ausreichend. Entscheidend ist, welche Massnahmen daraus folgen"
4. Einrichtung einer zentralen Stelle für Datenerhebung
Wer das Ausmass eines Problems nicht kennt, kann es nicht effektiv bekämpfen. In der Schweiz werden zwar gewisse Zahlen zur häuslichen Gewalt erhoben, aber es fehlt eine zentrale nationale Daten- und Koordinationsstelle, die systematisch und geschlechtsspezifisch differenziert. In Schweden existiert mit dem Nationellt centrum för kvinnofrid (NCK) ein staatliches Kompetenzzentrum, das spezifisch Daten zu männlicher Gewalt gegen Frauen erhebt und darauf basierende Massnahmen entwickelt. Die NCK-Hotline unterstützt jährlich Tausende von Betroffenen, und das Zentrum wirkt auch in Ausbildung und Öffentlichkeitsarbeit.
Allerdings: Schweden weist trotz dieser Bemühungen weiterhin eine hohe Gewaltquote auf – auch, weil durch intensive Erfassung und gesellschaftliche Sensibilisierung mehr Fälle gemeldet werden. Das zeigt: Gute Daten sind Voraussetzung, aber nicht allein ausreichend. Entscheidend ist, welche Massnahmen daraus folgen. In Mexiko wird seit 2007 ein Gesetz zur Bekämpfung von Femiziden umgesetzt, das auch zentrale Statistiken erfordert.
In der Schweiz hingegen werden Femizide nicht einmal eigenständig erfasst, es gibt bislang keine einheitliche Definition oder eine eigene juristische Kategorie. Zwar ist nicht jeder Mord an einer Frau automatisch ein Femizid – also ein Tötungsdelikt, das aufgrund ihres Geschlechts oder im Kontext patriarchaler Gewalt geschieht. Doch viele Fachstellen fordern, den Begriff endlich klar zu definieren und in die Statistik aufzunehmen. Eine nationale Datenstelle könnte die Dunkelziffer verringern, die strukturellen Muster sichtbar machen und politisch sinnvolle Präventions- und Interventionsstrategien erarbeiten. Sie wäre zudem ein Zeichen dafür, dass der Staat das Problem endlich ernst nimmt.
"In gewissen Kantonen müssen Gewaltbetroffene noch immer eine Anzeige erstatten, um überhaupt medizinisch untersucht zu werden"
5. Schweizweite Einführung spezialisierter Krisenzentren
Ein weiterer Mangel in der Schweiz betrifft die medizinische und psychologische Soforthilfe von Betroffenen nach erlebter Gewalt. In vielen Notfallpraxen fehlen geschulte Fachpersonen, standardisierte Abläufe oder Zugang zu rechtsmedizinischer Spurensicherung. Zudem müssen Betroffene in gewissen Kantonen noch immer eine Anzeige erstatten, um überhaupt medizinisch untersucht zu werden – und viele wollen das nicht oder bräuchten eine Bedenkzeit.
Die Istanbul-Konvention verlangt flächendeckende, niederschwellige und anonyme Hilfe für Gewaltbetroffene in Form spezialisierter Krisenzentren. Bisher gibt es solche Zentren nur vereinzelt, etwa in Bern oder Lausanne. Im März 2023 wurden entsprechende parlamentarische Vorstösse angenommen, die den Aufbau solcher Zentren vorantreiben sollten. Doch bis heute hat lediglich der Kanton Zürich konkrete Schritte unternommen. Der Rest des Landes? Wartet noch. Krisenzentren müssten in allen Kantonen entstehen, mehrsprachig, barrierefrei und unabhängig von einer Anzeige funktionieren. Es braucht klare Vorgaben des Bundes – und eine verbindliche Umsetzung.