Weshalb die Schweiz mehr gegen Femizide unternehmen muss
Die Mordrate sinkt international stetig, nur die Anzahl getöteter Frauen bleibt nahezu konstant. Zur Situation in der Schweiz – und warum Spanien ein Vorbild ist.
- Von: Ann Esswein, Karolina Kaltschnee, Tamara Keller, Paul Hildebrandt, Timo Stukenberg
- Illustration: Noma Bar
Inhaltshinweis: Gewalt
Der Gerichtssaal ist voll an diesem Tag: Journalist:innen, Vertreter:innen von Behörden und Neugierige quetschen sich in den Raum des Bezirksgerichts Pfäffikon im Kanton Zürich. Der Andrang ist so gross, dass zusätzliche Stühle hereingetragen werden müssen.
So erzählt es die langjährige Gerichtsreporterin des «Tages-Anzeiger», Liliane Minor. Auch sie hat sich an diesem Tag hineingedrängt. «Das hatte ich vorher noch nicht erlebt», berichtet sie uns im Interview im Juli 2025. «Die Luft war zum Schneiden.»
Der Tag, von dem die Rede ist, ist ein Donnerstag im April 2013. Er liegt lange zurück. Trotzdem erinnert sich Liliane Minor noch lebhaft daran. Denn an jenem Tag wird ein Urteil gesprochen, das zu Schlagzeilen in allen grossen Schweizer Medien führt, für Aufsehen im ganzen Land sorgt – und das eine Zäsur darstellt.
Verurteilt wird damals Shani S., ein sechzig Jahre alter Mann. Er hat kaltblütig seine 52-jährige Frau Sadete S. und die Leiterin des örtlichen Sozialdienstes ermordet. Shani wird wegen zweier Femizide schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt.
Den Behörden war der Täter längst bekannt
Den Behörden war Shani S. längst bekannt. Über Jahre hinweg hatte er seine Frau und seine Tochter bedroht, geschlagen, verletzt. Mehrfach war er dafür bereits verurteilt worden, durfte seine Frau nach einer Messerattacke wenige Monate vor dem späteren Mord nicht mehr kontaktieren oder ihr nahekommen.
Doch das stoppt ihn nicht. Er lauert ihr im August 2011 auf. Sie hatte sich wenige Tage zuvor von ihm getrennt, wollte die Scheidung. Er ermordet sie mit drei Schüssen in den Kopf. Kurz danach erschiesst er die zuständige Sozialarbeiterin, die er für die Trennung verantwortlich macht.
Es sind zwei grausame Morde. Aber selten sind solche Taten in der Schweiz nicht – Taten, bei denen Männer ihre Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen töten. Väter ihre Töchter oder Männer eine Frau innerhalb der Verwandtschaft: Zwischen 14 und 24 Tötungsdelikte im Bereich häuslicher Gewalt gibt es laut den offiziellen Zahlen des Bundesamtes für Statistik seit 2009 jedes Jahr.
Ein Grund, warum 2013 ausgerechnet die Femizide von Pfäffikon so viel Aufmerksamkeit bekamen, sagt Minor heute, sei das Gefühl gewesen: Man hätte sie verhindern können.
21-mal pro Tag
Tötungen innerhalb der Partnerschaft machen in der Schweiz fast einen Drittel aller Morddelikte aus. Dennoch wurde jahrzehntelang kaum etwas dagegen unternommen. Erst die Morde von Pfäffikon änderten das.
Rund vier Jahre nach den tödlichen Schüssen, im Januar 2015, präsentierte die Kantonspolizei Zürich eine Antwort auf die Taten. Ein sogenanntes Bedrohungsmanagement: Sobald ein Mann auffällig wird, soll ein Netzwerk aus Fachstellen frühzeitig intervenieren. Reinhard Brunner, Chef der Präventionsabteilung, sagt: «Das war seinerzeit Neuland.»
Bis heute schmückt sich die Kantonspolizei damit. Im Schnitt 21-mal pro Tag rückt die Polizei in Zürich nach eigenen Angaben für Einsätze bei häuslicher Gewalt aus, mehr als 1300 Verfügungen wie etwa polizeiliche Wegweisungen oder Kontakt- und Annäherungsverbote wurden 2024 ausgesprochen.
Zürich gilt in der Schweiz als Vorreiter bei der Verhinderung von Femiziden. Fast alle Kantone haben das Bedrohungsmanagement in irgendeiner Form übernommen. Doch die Femizide und versuchten Femizide wurden nicht weniger – auch nicht im Kanton Zürich:
"– 17. Februar 2025, Bülach. Die Frauen wurden 68 und 49 Jahre alt"
"– 28. März 2025, Zürich. Mutter und Tochter überleben. Sie sind 36 und 14 Jahre alt"
"– 9. April 2025, Bülach. Die Frau überlebt. Sie ist 44 Jahre alt"
"– 15. September 2025, Wettswil am Albis. Die Frau wurde 78 Jahre alt"
Im ersten Halbjahr 2025 erreichte die Zahl der Femizide in der gesamten Schweiz einen Höhepunkt: Bereits in den ersten sechs Monaten des Jahres wurden in etwa so viele Frauen ermordet wie im gesamten Jahr zuvor.
Femizide passieren weltweit, in jedem Land, jeder Kultur, jedem Umfeld. Die Tatabläufe und Täterprofile unterscheiden sich zwar geringfügig, im Kern zeigen sie jedoch alle dasselbe Muster: Es geht um Männer, die Frauen aufgrund ihres Geschlechts und bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit töten.
Die individuellen Motive – extreme Eifersucht, Besitzansprüche, Abwertung – sind Ausdruck einer strukturellen, patriarchalen Ungleichheit.
Die Schweiz könnte Frauen besser schützen
Wie hartnäckig diese Strukturen sind, zeigt eine Entwicklung, die sich in der Schweiz genauso wie in vielen anderen europäischen Ländern beobachten lässt. In allen gesellschaftlichen Bereichen sinkt die Mordrate. Nur die Zahl der Femizide bleibt nahezu konstant. Wie kann das sein?
Für diese Recherche haben wir mit etlichen Expert: innen gesprochen, mit Behörden, Aktivist:innen und Politikerinnen. Wir haben Überlebenden zugehört und nach den Tätern geforscht. Wir waren in der Schweiz unterwegs, in Deutschland und in Spanien.
Eines ist dabei klar geworden: Die Schweiz könnte Frauen besser schützen, die Konzepte dafür liegen längst vor. Doch sie setzt die nötigen Massnahmen nicht um. Dabei wäre sie rechtlich dazu verpflichtet.
Am 9. Juni 2009 fällt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ein Urteil, das europaweit entscheidend für den Schutz von Frauen vor Gewalt werden wird, nachdem eine türkische Frau, Nahide Opuz, sich an das Gericht wendet, das für alle 46 Mitgliedstaaten des Europarates zuständig ist.
Verstösst ein Mitgliedstaat gegen die Europäische Konvention für Menschenrechte, können deren Bürger:innen die Einhaltung der Menschenrechte einklagen. Stellt das Gericht eine Menschenrechtsverletzung fest, sind die Staaten dazu verpflichtet, diese zu beseitigen.
Ein Urteil, das Wellen schlägt
So auch im Fall von Nahide Opuz. Ihr Ex-Mann hat mehrfach versucht, sie umzubringen – einmal sticht er mit einem Messer auf sie ein, ein weiteres Mal versucht er, sie zu überfahren. Mehrfach hat Opuz die türkischen Behörden zum Handeln aufgefordert, vergeblich.
Der Europäische Gerichtshof urteilt schliesslich: Die türkischen Behörden hätten Opuz besser vor ihrem Ex-Partner schützen müssen. Das Urteil schlägt Wellen in Europa. Es wird nicht das letzte dieser Art bleiben.
Knapp zwei Jahre später verabschiedet der Europarat ein internationales Übereinkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt, die sogenannte Istanbul-Konvention. 2013 unterzeichnet die Schweiz das Abkommen, 2018 tritt es hier in Kraft.
Es ist das bislang umfassendste Konzept, um Frauen vor Gewalt durch Männer zu schützen, eine Schritt-für-Schritt-Anleitung. Und es ist rechtlich bindend. In 81 Artikeln geht es auf 122 Seiten um Prävention, Strafverfolgung und Unterstützung von betroffenen Frauen.
Und es geht darum, Femizide zu verhindern. Das Abkommen nimmt alle verantwortlichen Behörden in die Pflicht, von den Kindesschutzbehörden über die Migrationsämter bis hin zu Polizei und Gerichten. Doch passiert ist seitdem wenig, zu wenig.
"In den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres gab es so viele Femizide wie in den letzten 15 Jahren jeweils im ganzen Jahr"
Im Mai 2025 trifft sich in Bern eine Gruppe von zwölf Behördenvertreter:innen – aus Opferhilfe, Polizei und verschiedenen Kantonen – zu einer dringlichen Sondersitzung. Sie sind der sogenannte Ausschuss zur Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, sollen also dafür sorgen, dass die Istanbul-Konvention umgesetzt wird.
Dringlich ist dieses Zusammenkommen, weil bereits in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres 18 Frauen und Mädchen von ihren Partnern, Ex-Partnern, vom Vater oder einem anderen Mann aus der Verwandtschaft ermordet wurden – in etwa so viele wie in den letzten 15 Jahren jeweils im ganzen Jahr.
Dabei hat der Bundesrat 2022 einen Nationalen Aktionsplan verabschiedet. Mit dem erklärten Ziel, mit 44 konkreten Massnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhindern und zu bekämpfen.
Das Bedrohungsmanagement aus Zürich wird darin erwähnt. Viele der Massnahmen – darunter eine nationale Notfallhotline und die elektronische Überwachung von Tätern – wurden bisher nicht umgesetzt.
Die meisten Initiativen von Frauen
Gian Beeli, Co-Leiter des zuständigen Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann, leitet den Ausschuss. Die grösste Herausforderung, sagt er, sei der hohe Abstimmungsbedarf innerhalb und unter den Kantonen.
Jeder Kanton entscheidet selbst, wie er die jeweiligen Massnahmen umsetzt. In vielen Kantonen stehe der Schutz von Frauen vor Gewalt zwar auf der Prioritätenliste – aber eher weiter unten, wenn es um die notwendigen Ressourcen ginge.
Beeli sagt, oft hänge die Umsetzung davon ab, ob in den jeweiligen Kantonen Politikerinnen ausreichend Einfluss hätten, unabhängig von ihrer politischen Position. «Die meisten Initiativen kommen immer noch von Frauen.»
Selbst wenn der politische Wille da ist, scheitere es oft an der Finanzierung, sagt Beeli. So auch beim Ausschuss-Treffen im Mai. Alle Vertreter:innen hätten der ausserordentlichen Sitzung laut Beeli sofort zugestimmt, die Dringlichkeit sei klar gewesen.
Das Gremium beschliesst drei Massnahmen: Kantone sollen dabei unterstützt werden, übergreifend Frauenhausplätze anzubieten. Fachpersonal soll geschult werden, dass es problematische Trennungsphasen von Paaren besser unterstützen kann, Tathergänge bei Femiziden sollen besser analysiert werden.
Viel mehr habe man allerdings nicht tun können, gibt Beeli im Interview mit uns zu. «Die Schweiz hat ja einen laufenden Aktionsplan, aber mehr Geld wurde vom Bund bisher nicht versprochen.»
Die Situation verändert sich nur langsam
Obwohl es also ein rechtlich bindendes Abkommen gibt, sogar einen nationalen Fahrplan, um dieses umzusetzen, sowie ein dafür zuständiges Gremium, verändert sich die Situation in der Schweiz nur langsam.
Auch andere Länder scheitern: Das vom Europarat eingesetzte Expert:innen-Gremium Grevio, das überwacht, inwiefern die Istanbul-Konvention in den Ländern umgesetzt wird, kommt in seinen Berichten zu niederschmetternden Bewertungen.
In Deutschland etwa sieht die Situation noch etwas schlechter aus als in der Schweiz. Dabei gibt es dort bereits seit 2002 ein sogenanntes Gewaltschutzgesetz. Seit der Jahrtausendwende waren im ganzen Land Initiativen und Gruppen entstanden, die Gewalt gegen Frauen bekämpften und Täterkurse anboten.
Der Staat förderte Frauenhäuser, richtete Notfalltelefone ein. 2018 ratifizierte Deutschland die Istanbul-Konvention. Es hätte der Startschuss dafür sein können, diese Bemühungen zu verstetigen und zu koordinieren. Doch es kam anders.
Es gibt ein Video der deutschen Soziologin Monika Schröttle vom März 2021. Sie ist als Expertin im Bundestag in Berlin geladen, im Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Sie soll über Femizide sprechen.
Keine «Beziehungsdramen»
Zugeschaltet per Video sagt sie vor dem Ausschuss: «Das Wichtigste an den Femiziden ist, dass Dinge, die wir nicht als solche benennen, auch nicht als solche gesehen werden.» Schröttle sagt das ganz ruhig und freundlich. Sie trägt ihre Worte vor, als wäre es eine neue Erkenntnis, dass Femizide allein sprachlich oft verharmlost werden. Wenn Medien zum Beispiel von «Beziehungsdramen» schreiben statt von einem Femizid.
Was Schröttle sich dort nicht anmerken lässt: wie wütend und enttäuscht sie ist, dass sie mit ihrer Erklärung an diesem Punkt ansetzen muss. Schröttle beschäftigt sich seit mehr als dreissig Jahren mit Gewalt gegen Frauen in Deutschland und in Europa, seit mehr als zehn Jahren explizit auch mit Femiziden.
Sie hat etliche Studien veröffentlicht, unzählige Morde analysiert, die Strukturen hinter der Gewalt offengelegt. Wir sprechen mit ihr per Videocall im Juli 2025. Sie sagt, die Gewalt sei seit den 1990er-Jahren, seit sie mit ihrer Forschung begonnen habe, nicht zurückgegangen.
«Es kommt mir so vor, als habe sich Deutschland damit abgefunden, als würde das Thema nur noch verwaltet werden. Dabei gibt es ja Länder, in denen es besser läuft, die zeigen: Man kann etwas verändern.»
Spanien zum Beispiel. Es gilt als Vorzeigeland in Sachen Femizide. Warum gelingt dort, woran andere Länder scheitern?
Auf der Strasse erkämpft
Ein paar Gehminuten von der Altstadt Sevillas entfernt, wo Touristen-Grüppchen durch enge Gassen geschleust werden, öffnet an einem unscheinbaren Platz die Casa Pumarejo ihre Türen. Ein Gemeindezentrum mit Suppenküche, Sozialberatung und vor allem: Gemeinschaft.
Antonia Ávalos Torres bietet hier ein Programm für gewaltbetroffene Frauen an. Sie ist Historikerin, eine in ganz Spanien bekannte Feministin und die Gründerin der Mujeres Supervivientes, einer Organisation für Überlebende von Gewalt. Von Opfern würden die Frauen hier nicht sprechen, sagt die 64-Jährige.
Vor dreissig Jahren war sie Geschichtsprofessorin in Aguascalientes in Mexiko, als sie ihren Mann kennenlernte. Eigentlich sei sie über zehn Jahre mit zwei verschiedenen Männern zusammen gewesen: Die eine Hälfte des Monats sei ihr Ex-Partner liebevoll und nett gewesen, die andere jähzornig.
"Antonia Ávalos Torres glaubt, ihren Mann verändern zu können, 'mit Mühe und Liebe'"
«Du redest dir ein, das nächste Mal werde ich alles besser machen, damit er nicht wütend wird», sagt sie. «Und dann machst du alles gut und er ist wieder lieb und süss.» In diesem Stadium der Beziehung sei sie noch am Beginn des Gewaltkreislaufs gewesen und bereit, es immer wieder zu versuchen, sagt Ávalos.
Jahrelang wird sie in diesem Kreis stecken bleiben – während ihr Mann sie schlägt und beleidigt. Aber Ávalos hofft weiter. Lange Zeit. Sie glaubt, ihn verändern zu können, «mit Mühe und Liebe».
Überlebensinstinkt
Doch irgendwann verändert sich etwas in ihr. «Und dann kommt der Moment, in dem du weisst, dass er dich töten könnte», sagt Ávalos. Ihre Tochter ist damals fünf Jahre alt. Nach einer besonders heftigen «Krise», wie sie es umschreibt, entscheidet sie sich, ihren Mann zu verlassen.
Es sei wie ein Überlebensinstinkt gewesen. «Du weisst, wenn du jetzt nicht gehst, dann wiederholst du den Zyklus immer und immer wieder und dann bist du sehr allein, sehr isoliert und mit ihm unter einem Dach.» Gemeinsam mit ihrer Tochter geht sie in ein Frauenhaus.
Anschliessend zieht sie nach Sevilla, um dort Gender Studies zu studieren und zu promovieren. «Aus Angst, dass mein Ex-Partner mich finden könnte, dachte ich, dass er mich nicht mehr verfolgen könnte, wenn ein Ozean zwischen uns liegt.»
Alles andere als ein Einzelfall
Wie die Schweiz ist auch Spanien die ersten Schritte zu einem wirksameren Gewaltschutz nach einem dramatischen Fall gegangen. Im Dezember 1997 spricht die sechzigjährige Ana Orantes in einer Fernsehsendung über die Schläge, Drohungen und Demütigungen durch ihren früheren Ehemann, die sie über vierzig Jahre lang ertragen hat.
15 Anzeigen habe sie gegen ihren Ex-Mann José P. eingereicht. Nach ihrer Scheidung leben sie jedoch weiter im gleichen Haus, lediglich auf verschiedenen Stockwerken. So will es das Ergebnis einer gerichtlich angeordneten Mediation. Dreizehn Tage nach ihrem Fernsehauftritt ist Ana Orantes tot. Übergossen mit Benzin, am lebendigen Leib verbrannt. Der Täter ist ihr Ex-Mann.
Es sei ein tragischer Einzelfall, kommentiert damals Spaniens Vizepräsident Francisco Álvarez-Cascos und löst mit dieser Aussage Grossdemonstrationen aus. Die feministischen Bewegungen Spaniens erzwingen in den späten Neunzigerjahren ein gesellschaftliches Umdenken, dem auch die Parlamentarier: innen folgen.
Gesetzespaket gegen geschlechtsspezifische Gewalt in Europa
Ohne Gegenstimmen verabschiedet das Parlament 2004 das bisher progressivste Gesetzespaket gegen geschlechtsspezifische Gewalt in Europa. Seitdem ist der Schutz von Frauen vor Gewalt eine staatliche Aufgabe – und nicht angesiedelt bei einer nachgelagerten Behörde wie in der Schweiz, sondern mit einem eigenen Ministerium.
Trotzdem bringen Partner und Ex-Partner auch in Spanien weiterhin Frauen um. Einer der jüngsten Femizide ereignete sich nur rund eine Stunde von der Casa Pumarejo entfernt. Es ist der 27. Fall in diesem Jahr.
Das sind zwar mehr als in der Schweiz, doch auf die Gesamtbevölkerung Spaniens gerechnet ist die Zahl immer noch deutlich geringer. Der mutmassliche Täter stach auf seine Ex-Partnerin Mercedes Raposo García ein, bis sie an den Verletzungen starb. Dann informierte er die Polizei.
Das «Spanische Modell»
Nach offiziellen Angaben lagen gegen den mutmasslichen Täter keine früheren Anzeigen vor. Eine Anzeige ist ausschlaggebend, ob ein Aggressor registriert ist im «umfassenden Überwachungssystem für Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt», Viogen. Seit 2009 werden Täter und Betroffene von Gewalt in dieser Datenbank erfasst.
Nach einer Anzeige schätzt die Polizei mithilfe eines Fragebogens das potenzielle Risiko ein, das bestimmt, wie die nachfolgende Überwachung aussieht. Bei hohem Risiko bekommt eine Betroffene rund um die Uhr Personenschutz.
Täter müssen ein elektronisches Armband tragen. Nähern sie sich der betroffenen Person, bekommt diese ein Alarmsignal auf eine Art Handy. Automatisch wird die Polizei verständigt.
Im vergangenen Jahr waren über 100'000 Betroffene von Gewalt im System registriert. Viogen ist ein Baustein des sogenannten «Spanischen Modells». Zu einem Vorzeigeland machen Spanien aber auch spezialisierte Richter:innen und kostenlose Rechtsberatungen sowie eine Hotline für Betroffene in fünfzig Sprachen.
Einen absoluten Schutz bietet aber auch das «Spanische Modell» nicht. 2024 wurden insgesamt sechs Frauen getötet, obwohl sie in Viogen registriert waren. Auch 2025 töteten Männer Frauen, obwohl die Täter lediglich mit einem «mittleren Risiko» vermerkt worden waren.
Deswegen, sagt Antonia Ávalos Torres, sei die feministische Bewegung weiterhin wichtig. Denn dass Spanien ein Vorbild im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt ist, sei in erster Linie das Ergebnis einer «Schlacht der Frauen».
"Nur wenige Politiker:innen machen erfolgreich Wahlwerbung damit, Femizide zu stoppen"
So bitter es klingt, es sind europaweit selten politische Parteien, die das Thema Gewaltschutz von Frauen vorantreiben. Veränderungen hängen fast immer von Frauen ab, oft selbst Überlebende, die gegen grosse Widerstände einen Wandel erkämpfen. Nur wenige Politiker:innen machen erfolgreich Wahlwerbung damit, Femizide zu stoppen.
So wie die Schweizer SP-Nationalrätin Tamara Funiciello. «Ich habe viele Titel gesammelt», sagt sie. «Meistgehasste Frau der Schweiz» etwa oder «Hetzerin». 2017 veröffentlichte eine Zeitung ihre private Handynummer, weil sie eine Liedzeile eines Songs als sexistisch kritisiert hatte.
Später wurde ihr Aussehen öffentlich zerrissen. «Alles an mir wurde verhandelt», sagt sie. «Mein Körper, meine Kleidung, meine Haare.» Funiciello, 35, ist heute eine der bekanntesten Stimmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt in der Schweiz.
Die Co-Präsidentin der SP-Frauen tritt in Fernsehsendungen auf, gibt Interviews, polarisiert. «Ich mache Politik nicht für Männer, sondern für Frauen, queere Menschen und Transpersonen», sagt sie. «Das reicht schon, um viele auf die Palme zu bringen.»
Volksinitiative gegen Femizide
Funiciello will eine Volksinitiative gegen Femizide lancieren. Beschlossen haben das die SP-Frauen an ihrer Mitgliederversammlung Anfang September in Biel, um 14 Uhr betritt Tamara Funiciello dort die Bühne. Die Lippen rot, die Kleidung schwarz, das T-Shirt trägt einen lila Schriftzug: Résistance.
Funiciello liest vor:
«14. Januar. 16. Januar. 17. Januar. 21. Januar. 25. Januar. 26. Januar. 7. Februar. 17. Februar. 3. März. 22. März. 24. März. 28. März. 3. April. 9. April. 10. April. 14. April. 27. April. 14. Juni. 17. Juni. 1. Juli. 2. Juli. 5. Juli. 19. August. 26. August»
Über eine Minute lang liest sie die Daten vor. Stille im Saal. Jede Frau im Raum weiss: Hinter jedem Datum steht eine getötete Frau. In diesem Jahr, in der Schweiz. Und das Jahr 2025 ist noch nicht mal vorbei.
Doch Funiciello will sich und die anderen SP-Frauen nicht lähmen lassen. Das Problem lasse sich nur mit mehr Geld lösen. Geld, das da sei, aber an anderer Stelle investiert wird. «Für die Versorgung der Armee-Pferde gibt die Schweiz jährlich 2.7 Millionen Franken aus», sagt sie.
«Für Weinwerbung fliessen 6 Millionen pro Jahr.» Für die Präventionsarbeit gegen geschlechtsspezifische Gewalt gibt die Schweiz jährlich 1.5 Millionen Franken aus. «Das reicht für ein Plakat pro Gemeinde. Für eine Woche.»
SP-Nationalrätin Tamara Funiciello"Der Bund hat rund neunzig Milliarden im Haushalt, wir wollen 500 Millionen davon"
Gleichzeitig fehlt es an Frauenhausplätzen, insbesondere für Frauen mit Behinderung. Die geplante einheitliche Notfallhotline gibt es immer noch nicht. Täterarbeit und Präventionskampagnen müssen ausgebaut werden.
«Der Bund hat rund neunzig Milliarden im Haushalt», sagt Funiciello. «Wir wollen 500 Millionen davon.» Die Initiative sieht vor, dass mit dieser Summe in der ganzen Schweiz Ressourcen und Qualitätsstandards für Frauenhäuser, Täterarbeit und Präventionsmassnahmen garantiert werden und so die grossen Unterschiede zwischen den Kantonen ausgeräumt werden.
Die FDP, deren Bundesrätin Karin Keller-Sutter dem Finanzdepartement vorsteht, hat bereits Widerstand angekündigt.
Eine gerichtliche Entscheidung als Erinnerung
Vielleicht braucht es mehr als 14 Jahre nach der Istanbul-Konvention wieder eine gerichtliche Entscheidung, die den Staat zum Handeln zwingt.
Im April dieses Jahres wurde so ein Urteil gefällt, auch, weil eine Überlebende dafür gekämpft hat. Rund 18 Jahre lang. Über weite Strecken wirkte ihr Kampf vergeblich, aber am Ende hat Nicole Dill (56) Recht bekommen – und die Schweiz auf internationaler Ebene erneut an ihre Pflicht zum Schutz von Frauen erinnert.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Frühjahr entschieden, dass die Schweizer Behörden Dill nicht schützten, bevor ihr Ex-Partner im September 2007 versuchte, sie aus nächster Nähe mit drei Schüssen aus seiner Armbrust umzubringen, so das Urteil.
Der Tag des Mordversuchs hat Nicole Dills Leben komplett verändert: «Die Person, die ich vorher war, ist gestorben.» Davor hatte sie einen gut bezahlten Job im internationalen Business, wie sie sagt. Sie betrieb Spitzensport: Inlineskating auf Marathon-Distanz und im Weltcup. Dill beschreibt ihr früheres Ich als abenteuerlustig und weltoffen, immer bereit, neue Menschen kennenzulernen. Heute sei das nicht mehr so.
Er lässt ihr keinen Freiraum
In Meggen am Vierwaldstättersee teilt sie sich eine Drei-Zimmer-Wohnung als Bürogemeinschaft mit zwei weiteren Frauen. Sie hat dort eine Anlaufstelle für Betroffene von Gewalt gegründet. Sprungtuch, so heisst sie.
«Schliesst du die Tür ab?», fragt Dill ihre Kollegin, die gerade auf dem Weg nach draussen ist. Die Kollegin versichert es ihr. Zehn Minuten später geht Nicole Dill lieber doch nochmal hin und vergewissert sich, dass die Tür auch wirklich abgeschlossen ist. «Durch das Gewaltverbrechen ist die Angst bei mir immer sehr präsent», sagt sie.
In den vergangenen 18 Jahren hat sie ihre Geschichte schon oft erzählt. Die elfstündige Gefangenschaft, die Vergewaltigungen, die Schüsse aus der Armbrust. Irgendwann änderte sich ihr Blick auf die Tat, sagt sie. «Ich habe diese Grausamkeit überleben müssen, damit ich kämpfen kann, für Gerechtigkeit.»
Hätte die Tat verhindert werden können? Wie im Pfäffikon-Fall steht auch bei Dills Fall diese Frage im Raum. Knapp neun Monate ist Dill damals mit dem Täter zusammen, währenddessen stellt sie immer wieder fest: Er lässt ihr keinen Freiraum.
Egal, wohin sie geht, zur Arbeit, zum Fitnessstudio – er wartet danach unabgesprochen auf dem Parkplatz auf sie. Dieses Verhalten kommt Dill nicht normal vor.
Sie spielt mit dem Gedanken, die Beziehung zu beenden. «Mein Täter hat mal zu mir gesagt: ‹Wenn du mich verlässt, hat das Leben für mich keinen Sinn mehr.› Für mich war das ein klarer Suizidgedanke», sagt Dill.
Warum wurde sie nicht gewarnt?
Was sie damals nicht weiss: Der Täter hat schon eine Frau vergewaltigt und umgebracht, ist in einem Reintegrationsprogramm. Die Polizei weiss das natürlich, selbst sein Hausarzt – doch niemand warnt Dill. Obwohl sie mit beiden nur wenige Wochen vor der Tat telefonisch Kontakt hat.
Die relevanten Informationen wird sie erst nach der Tat erfahren, als sie auf die Polizeistation muss, um ihre Aussage zu machen. Dann werden die Beamten all die Informationen, die es zum Täter schon gab, vor ihr auf den Tisch legen.
Auch, dass bekannt war, dass eine hohe Rückfallgefahr herrscht. Warum wurde ihr das nicht früher gesagt? Die Antwort: Amtsgeheimnis und Datenschutz.
Nicole Dills Ärzte attestieren ihr später, dass sie die Tatnacht körperlich und psychisch durchgehalten hat, weil sie durch den Hochleistungssport im Inlineskating-Marathon eine trainierte Fähigkeit zur Ausdauer hat. «Ich habe mir die ganze Zeit innerlich gesagt: Ich will leben, ich bin zu jung zum Sterben.»
Die Ausdauer, sie war entscheidend für die Tatnacht, aber sie ist auch entscheidend danach: «Ich musste alles wieder neu erlernen. Selbst das Atmen», sagt Dill über ihre Reha-Zeit.
Klage gegen den Kanton
Eine Anklage gegen ihren Täter gibt es nicht. Er hat sich selbst in der Untersuchungshaft getötet. Doch Nicole Dill entscheidet, trotzdem vor Gericht zu gehen. Sie möchte den Kanton Luzern verklagen, weil die Polizei ihr damals die relevanten Infos vorenthalten hat, die sie hätten schützen können.
Ab März 2011 ist ihre Klage mehrfach abgewiesen worden: erst vor dem Friedensrichter, dann vor dem Bezirksgericht. Dill gelangt an die nächste Instanz, verliert auch vor dem Kantonsgericht und letztlich am Bundesgericht.
Ihr juristischer Kampf dauert schon sieben Jahre, als ihr Anwalt Atilay Ileri sie auf die Idee bringt, es in der letzten Instanz, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zu versuchen. Allerdings braucht das Gericht im Schnitt sechs Jahre für eine Entscheidung. Hier wird sie wieder wichtig, die Ausdauer.
Eine gesellschaftliche Aufgabe
Das Urteil ist eindeutig: Die verschiedenen beteiligten Behörden haben nicht alles getan, was vernünftigerweise von ihnen hätte erwartet werden können, um die unmittelbare Gefahr für das Leben der Klägerin abzuwenden. 18 Jahre nach der Tat hat Nicole Dill das Recht erstritten, vor Gewalt geschützt zu werden.
Die Schweiz ist nun im Zugzwang: Spätestens im Januar 2026 muss sie dem Ministerkomitee des Europarates berichten, wie sie das Urteil umsetzt. Ein Teil davon wird sein, dass an Dill eine Entschädigung gezahlt wird.
Dills Fall liegt nun schon Jahre zurück. Seitdem hat sich viel in der Schweiz getan, aber die Zahlen und Aussagen betroffener Frauen sprechen eine eindeutige Sprache: Es war nicht genug.
Was immer noch fehlt, ist ein langfristiger und strategisch angelegter Gewaltschutz: Aktionspläne schützen niemanden, solange sie nicht viel mehr als Absichtsbekundungen bleiben. Dafür braucht es Geld. Um Mitarbeiter:innen in Behörden zu schulen, Schutzund Beratungsangebote auszubauen und Aufklärungskampagnen zu finanzieren.
Die vielleicht grösste Aufgabe steht der Schweiz jedoch noch bevor: Der Schutz von Gewalt gegen Frauen muss zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe werden. Denn damit fängt es an, wie das Beispiel Spanien zeigt. Feministische Bewegungen haben ihre Forderungen von der Strasse bis in die Parlamente getragen und damit echte Veränderungen erreicht – gesetzlich, finanziell und im gesellschaftlichen Bewusstsein.
Informationen und Hilfsangebote zum Thema Gewalt findest du hier:
143 – Die Dargebotene Hand (Crisis support in English: heart2heart.143.ch)
BIF – Beratungsstelle für Frauen
Männerhäuser in der Deutschschweiz und in Genf
Beratungsstellen für Gewaltvorfälle
Für Männer, die Gewalt gegenüber ihrer:ihrem Partner:in einsetzen und/oder sich in einer sonstigen Konflikt-und Krisensituation befinden, bietet das Mannebüro Beratungen an, auch telefonisch.