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Regisseurin Cherien Dabis über ihren Film

Regisseurin Cherien Dabis über ihren Film "All That's Left of You": "Viele wissen nicht, was Palästina einmal war"

Die palästinensisch-amerikanische Regisseurin Cherien Dabis spricht über ihr neues Werk "All That's Left of You" – ein Epos über drei Generationen einer Familie, die Vertreibung, Verlust und Exil überleben. Eine filmische Aufarbeitung der Nakba und eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte.

«All That's Left of You» ist ein Werk über Erinnerung, Verlust und Überleben. Es erzählt die Geschichte einer palästinensischen Familie über drei Generationen hinweg – vom Leben in einem wohlhabenden, urbanen Palästina vor 1948 bis in die Gegenwart des Exils. Im Mittelpunkt steht ein Grossvater, der sein Land verliert, ein Sohn, der mit den Folgen der Vertreibung lebt, und ein Enkel, der versucht, das geerbte Trauma zu verstehen.

«All That's Left of You» ist der dritte und neueste Spielfilm der palästinensisch-amerikanischen Regisseurin Cherien Dabis (48), die am Zurich Film Festival ihr neues Werk präsentierte. Als sie zum Gespräch am Tisch Platz nimmt, blitzt unter ihrem Pullover ein Armband hervor: «Free Palestine» steht in grossen Buchstaben darauf.

Plötzlich von der Familie getrennt

Ihr Film ist inspiriert von der Geschichte ihres Vaters Nazih Dabis, der 1967 exiliert wurde. Er habe sich nicht physisch im Westjordanland aufgehalten, als Israel 1967 das Bevölkerungsregister einführte, was bedeutete, dass er keine Papiere erhielt und nicht ins Westjordanland zurückkehren durfte. «Er wurde plötzlich von seiner Familie getrennt», so Cherien Dabis. «Ihm wurde das Recht verwehrt, in seine Heimat zurückzukehren.»

annabelle: Cherien Dabis, Sie stellen Ihren Film in einer Zeit vor, da die Vereinten Nationen und internationale Organisationen wie Amnesty International Israel beschuldigen, im Gazastreifen einen Völkermord zu begehen. Nun ist seit Anfang Oktober ein Waffenstillstand in Kraft. Welche Rolle spielt Ihr Film in einer solchen Zeit?
Cherien Dabis: Ich hoffe, dass er Teil der Veränderung sein wird – ein Beitrag dazu, Menschen emotional zu bilden. Ich habe einen Film über eine Familie gemacht, die Jahrzehnte politischer Umwälzungen überlebt hat. Ich wünsche mir, dass der Film den Zuschauer:innen die Augen und Herzen öffnet und ihnen eine Seite der Geschichte zeigt, die sie sonst nie zu sehen bekommen: die palästinensische Geschichte und die historischen Zusammenhänge, die erklären, warum heute sechs Millionen Palästinenser:innen auf der ganzen Welt als Flüchtlinge leben.

Warum war es Ihnen wichtig, diese Perspektive in den Mittelpunkt zu stellen?
Weil die palästinensische Erzählung in der westlichen Kultur fast unsichtbar ist. Wir existierten nur als Randfiguren, als Zahlen oder Stereotype. Mit meinem Film möchte ich diesen leeren Raum füllen – und zeigen, wer wir wirklich sind. Für mich ist Kino Widerstand, aber auch Heilung. Viele Familien wurden 1948 während der Nakba vertrieben und leben bis heute in Flüchtlingslagern, ohne das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren. Andere leben unter militärischer Besatzung – mit Checkpoints, Hausabrissen, Landenteignungen und ständiger Kontrolle. Der Alltag ist geprägt von Bewegungseinschränkungen, von Mauern und Zäunen, die Menschen voneinander trennen. Wir werden häufig auf gesichtslose, namenlose Schlagzeilen reduziert und dadurch entmenschlicht. Das wollte ich verändern.

Wie hat sich das Filmprojekt über die Jahre entwickelt – von der Idee bis zum Dreh?
Ich begann 2014 über die Idee nachzudenken, geschrieben habe ich das Drehbuch aber erst 2020. Ich wusste, dass der Film mehrgenerational werden würde, und ich wollte die Vererbung von Trauma erforschen. Nach vielen Jahren des Lesens und Forschens war ich schliesslich bereit, die Geschichte aufzuschreiben.

Ihr Vater wurde ins Exil gezwungen. Welche Spuren hat diese Erfahrung in Ihrer Familie hinterlassen?
Ich bin damit aufgewachsen, sein gebrochenes Herz zu sehen, seine Besessenheit von allem, was geschehen war, und wie sehr ihn das körperlich und seelisch belastet hat. Es wurde mit der Zeit immer schlimmer. Er musste erst die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten, um überhaupt ins Westjordanland zurückkehren zu dürfen, um seine Familie zu besuchen und das einzige Zuhause, das er je gekannt hatte. Dieser Prozess hat ein Jahrzehnt gedauert.

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"Als der erste Golfkrieg ausbrach, wurden wir zum Feind. Wir bekamen täglich Morddrohungen. Die Leute boykottierten meinen Vater"

Am 7. Oktober 2023 verübte die Hamas ihren verheerenden Angriff auf Zivilist:innen in Israel – danach lancierte Israel schwere militärische Angriffe auf den Gazastreifen. Genau zu diesem Zeitpunkt wollten Sie eigentlich mit den Dreharbeiten beginnen?
Ja, genau. Ich kam im Mai 2023 nach Palästina, um die Dreharbeiten vorzubereiten. Meine internationale Crew traf am ersten Oktober ein. Es wurde schnell klar, dass wir den Film nicht mehr drehen konnten. Nach drei Tagen flohen wir nach Jordanien und dann nach Zypern. Schliesslich entschieden wir uns, in Jordanien weiterzudrehen, in palästinensischen Flüchtlingslagern im Norden des Landes. Mehr als die Hälfte des Films ist dort entstanden. Den Rest haben wir in Griechenland fertiggestellt.

Ihr Vater lernte Ihre Mutter in Jordanien kennen, dort kam auch ihre ältere Schwester auf die Welt. Sie aber sind in den USA geboren. Wie war es, zwischen zwei Welten aufzuwachsen?
Ich war die Erste in meiner Familie, die in den USA geboren wurde. Meine Eltern sind kurz vor meiner Geburt ausgewandert, brachten uns aber oft nach Jordanien und Palästina zurück. Dadurch hatte ich eine starke Verbindung zur arabischen Welt, aber auch deswegen, weil wir in den USA sehr isoliert lebten.

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Was hat das Gefühl der Isolation ausgelöst?
Meine Familie war stark von Rassismus betroffen. Während des ersten Golfkriegs lebten wir in einer Kleinstadt in Ohio, im Mittleren Westen der USA. Wie meine Eltern dort gelandet sind, keine Ahnung. Wir wohnten schon seit einem Jahrzehnt dort. Mein Vater ist Kinderarzt. Die Leute kannten ihn. Ich hörte oft Dinge wie: «Oh, dein Vater hat das Leben meines Sohnes gerettet» oder Ähnliches. Aber als der erste Golfkrieg ausbrach, wurden wir zum Feind. Wir bekamen täglich Morddrohungen. Die Leute boykottierten meinen Vater. Sie wollten keinen arabischen Arzt mehr sehen. Sie gaben uns eindeutig die Schuld für den Golfkrieg. Sie sagten buchstäblich Dinge wie: «Mein Bruder muss wegen euch vielleicht in den Krieg ziehen.» Das ergab keinen Sinn – jedenfalls nicht für uns. Der Secret Service kam an meine Highschool, um das Gerücht zu untersuchen, meine ältere Schwester hätte gedroht, den Präsidenten zu töten. Ich war damals 13 oder 14. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Ich fragte mich: «Warum denkt ihr plötzlich, dass wir eine Bedrohung sind?» Das ergab keinen Sinn.

"Mein Film soll Mitgefühl wecken. Ich habe bewusst die sanfteste Version dieser Geschichte erzählt, weil ich wollte, dass möglichst viele sie ertragen und verstehen können"

Was hat dieser Alltagsrassismus mit Ihnen gemacht?
Diese Erfahrung war ein Wendepunkt. Da wurde mir klar, welche Macht Medien und Film haben. Ich wusste schon immer, dass wir in den Medien stereotypisiert und entmenschlicht wurden. Aber erst als meine Familie während des ersten Golfkriegs solchen Rassismus erlebte, wurde mir klar, wie gefährlich diese Stereotypen waren. Da wurde mir bewusst, dass solche falschen Darstellungen direkte Auswirkungen auf meine Familie hatten. Dass die Menschen diesen schrecklichen Bildern tatsächlich Glauben schenkten und uns infolgedessen als Bedrohung ansahen. Das war der Moment, in dem ich Filmemacherin werden wollte. Seitdem habe ich mir vorgenommen, Menschen zu zeigen, wie sie wirklich sind – jenseits politischer Zuschreibungen.

Eine Demütigungsszene, eine der Schlüsselszene des Films, basiert auf einer eigenen Kindheitserinnerung. Was ist damals passiert?
Ich war acht Jahre alt, als meine Familie von Jordanien ins Westjordanland reiste, um das Dorf meines Vaters zu besuchen. An der Grenze wurden wir zwölf Stunden festgehalten, unsere Koffer durchsucht, meine Eltern immer wieder verhört – und schliesslich wurden sogar meine kleinen Schwestern und ich nackt durchsucht. Mein Vater war so gedemütigt, dass er die Soldaten konfrontierte. Sie schrien ihn an, er schrie zurück, und ich dachte, sie würden ihn töten. Er war zutiefst beschämt, weil er uns nicht schützen konnte – und wir zusehen mussten, wie er seiner Würde beraubt wurde.

Ihr Film erzählt vom Leben in Palästina vor 1948 – einer Zeit, über die viel zu wenig bekannt ist. Welche Missverständnisse in Bezug auf diese Geschichte möchten Sie mit Ihrem Film korrigieren?
Ich glaube, was viele Zuschauende am meisten bewegt, ist zu sehen, was Palästinenser:innen vor 1948 tatsächlich hatten. Viele wissen gar nicht, dass Palästina damals eine lebendige, urbane und kulturell vielfältige Gesellschaft war. Es herrscht oft der Mythos, es sei «ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land» gewesen. Aber das stimmt einfach nicht. Menschen lebten dort seit Jahrhunderten – mit Städten, Dörfern, Schulen, Theatern, Olivenhainen, mit Häusern, Familien, Berufen und Träumen. Mein Film zeigt dieses alltägliche Leben, das durch Vertreibung und Gewalt zerstört wurde – nicht, um Schuld zuzuweisen, sondern um die Erinnerung zu bewahren und Menschlichkeit sichtbar zu machen.

Sie sprechen in Interviews auch darüber, dass viele Menschen gar nicht wissen, was die Nakba überhaupt war.
Ja, weil die Welt diese Geschichte nicht kennt. Dabei muss sie aber jeder kennen, um zu verstehen, wie wir Palästinenser:innen dorthin gekommen sind, wo wir heute stehen. 1948 ist das Schlüsseljahr: Damals wurden fast 800'000 Palästinenser:innen vertrieben und zu Flüchtlingen. Das war der Beginn einer fortwährenden ethnischen Säuberung, die wir als die anhaltende Nakba bezeichnen und deren Auswirkungen wir bis heute spüren. Ich wollte, dass der Film diesen Ursprung sichtbar macht – weil Verständnis nur möglich ist, wenn man die Geschichte kennt. Wir können unmöglich begreifen, was heute passiert, wenn wir nicht wissen, was 1948 geschehen ist.

Was wünschen Sie sich, dass die Zuschauer:innen aus dem Film mitnehmen?
Dass sie mit offenem Geist ins Kino gehen und mit offenem Herzen hinauskommen. Mein Film soll Mitgefühl wecken. Ich habe bewusst die sanfteste Version dieser Geschichte erzählt, weil ich wollte, dass möglichst viele sie ertragen und verstehen können. Trotz der Schwere gibt es Zärtlichkeit, Liebe, Humor und Menschlichkeit. Viele Zuschauer:innen, die den Film bereits gesehen haben, sagen mir danach: «Ich hatte keine Ahnung. Du hast meine Sicht komplett verändert.» Das ist für mich das schönste Kompliment.

«All That's Left of You» ist ab 23. Oktober 2025 im Kino zu sehen.

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