
Reportage: Ein Tag mit Kiosk-Besitzer Joe Bürli
Seit 25 Jahren verkauft Joe Bürli in seinem Kiosk an der Zürcher Limmatstrasse Gipfeli und Magazine. Vielen aus dem Quartier ist der Ort ein Zuhause geworden. Nun hat er den Kiosk verkauft. Höchste Zeit, einem zuzuhören, der sonst stets anderen sein Ohr schenkt.
- Von: Sarah Lau
- Bild: Dan Cermak
Es gibt immer verschiedene Arten, auf ein Leben zu schauen. Das von Joe Bürli, 62 Jahre alt, könnte man wie folgt zusammenfassen: 1962 geben ihn die unverheirateten Eltern aus der Zürcher Geburtenklinik direkt in ein Säuglingsheim in Baar, die italienische Mutter setzt sich in die katholische Heimat ab. Joe ist kein Wunschkind, sondern ein Unfall. Der von den Schweizer Behörden anvisierten Zwangsadoption entgeht das Kind zwar, doch da der Vater in der zweiten Lehre als Koch steckt und ihn nicht zu sich nehmen kann, landet Joe in einem Kinderheim in Knonau.
Mit vier Jahren holen ihn die ihm völlig unbekannten Grosseltern nach Grossdietwil im Luzerner Hinterland, sein Vater lässt sich nur selten blicken. Erst als dieser 1971 heiratet, verfrachtet das Paar den mittlerweile 9-Jährigen zu sich nach Frenkendorf im Baselland. Die Stiefmutter spricht teils tagelang nicht mit dem Kind, streicht Geburtstagsgeschenke wie auch jegliche Nähe. Das Kind sucht die Aufmerksamkeit des Vaters, beginnt zu rebellieren, bis es erneut in eine Pflegefamilie abgeschoben wird. Der Teenager haut immer wieder ab, taucht nächtelang in Zürcher Clubs unter und geht Beziehungen mit sehr viel älteren Männern ein.
Joe Bürli sagt: "Ich habe doch Glück gehabt. War ein fröhliches Kind und habe mich sowohl von meiner Pflegemutter im Kinderheim geliebt gefühlt als auch von meiner Grossmutter, bei der ich schöne Jahre auf dem Land verbracht habe. Die Zürcher Vormundschaftsbehörde hat sich liebevoll um mich und meine Eltern gekümmert. Meine Mutter verurteile ich nicht – man muss sich die Zeiten damals anschauen, das war nicht leicht mit einem unehelichen Kind. Aus der schwierigen Konstellation mit meiner überforderten Stiefmutter habe ich mich befreien können. Und es mit meiner nächsten Pflegefamilie wieder gut getroffen – die haben mich sein lassen. Ich konnte meine Homosexualität ohne Stigmatisierung ausleben, habe mich nie als Opfer gefühlt, wurde geliebt."
Wie jeden Morgen schliesst Joe Bürli auch heute um 6.30 Uhr seinen Kiosk im Zürcher Kreis 5 auf. Schmuck, Parfum, Körperspannung, Zahnweiss – von allem kennt er die richtige Dosis, um im urbanen Quartier weder herauszustechen noch übersehen zu werden. Das leuchtend blaue Markenhemd in die Jeans gesteckt, die Körpermitte mit einem Gürtel betont, dazu geschnürte Trekkingboots: Das ist Bürlis heutige Uniform für rund zwölf Stunden Kioskschicht.
Das Tram fährt bereits, es ist noch dunkel. Im Laden riecht es nach Zeitungspapier, Kaffee und einem Hauch Tabak. Schon bevor die Tiefkühl-Gipfeli im Ofen, der Ständer mit den Tageszeitungen und die Sandwiches in den Regalen aufgefüllt sind, brummt der Laden. Genauer: die Kühlregale. Joe Bürli nimmt das Geräusch kaum mehr wahr, schmeisst unbeirrt die Kaffeemaschine an und blättert hinter dem Kassen-Tresen wie jeden Morgen das "20 Minuten" durch. "Ich muss auf dem Laufenden sein", sagt er, "wenn jemand plaudern will, kann ich einsteigen – das ist wichtig." Im Hintergrund spielt das Radio Popmusik.
Norma Kälin ist heute eine der ersten. Die 74-Jährige kommt seit rund zwölf Jahren in den Kiosk in der Limmatstrasse und holt sich hier morgens gern ihr Gipfeli. "Ich weiss schon, dass ich mir das auch in der Migros kaufen könnte, aber da hat es keinen Joe, der mal fragt, wie es geht." "Hast du schon erzählt, wie du zu deinem Namen gekommen bist? Ist ja noch eine recht hübsche Geschichte", ruft Joe Bürli von dem Regal mit Damenbinden und Maggi rüber. Norma nickt. "Daheim haben wir im Radio immer Opern gehört. Meine Schwester hiess Tosca – dass Norma aber auch eine Oper ist, wissen die wenigsten." Ausgenommen Joe Bürli. Der weiss auch, dass der Mann längst verstorben, Normas Coiffeursalon geschlossen und Schwester Tosca ihrem Krebs erlegen ist.
Chris Rea singt: "Julia".
Joe Bürli hört allen zu, die reinkommen. Schon als Teenager mochte er am liebsten die Heftli mit Schicksalsgeschichten. Jene von Seitensprüngen, späten Familienzusammenführungen, tragischen Unfällen. "Durch das Lesen wusste ich, dass das Schlimmste ist, immer unglücklich zu sein. So wie diese Paare, die im Restaurant sitzen und sich nichts zu sagen haben. Je mehr dieser Geschichten ich gelesen habe, desto mehr habe ich angefangen, über mich nachzudenken. ‹Jetzt bist du ja genau wie die Frau Müller aus dem Heft›, habe ich gedacht, ‹pass bloss auf!› Da habe ich verstanden, dass man sein Leben in die Hand nehmen muss."
Im Laufe der Jahre hat Joe Bürli versucht, sich eine gewisse Teflonbeschichtung zuzulegen und nicht mehr bei jeder Besucherin und jedem Besucher voll einzusteigen. Auch wegen Kund:innen wie Susanne, die mit der Zeit mehr und mehr Stunden täglich in seinem Laden verbrachte. Bis Bürli ihr sagte, das sei zu viel. "Ich lebe nur noch, weil es dich und den Kiosk gibt, sonst hätte ich längst Tabletten genommen", sagte die damals schon über Siebzigjährige zu ihm. Joe Bürli lässt sich nicht gern unter Druck setzen.
Aber noch weniger gern lässt er Menschen hängen. Weder den betrügerischen Exfreund noch Vater Eduard, selbst Stiefmutter Heliane nicht. Und so hatte er Mitleid, als Susanne ihm von ihrer schweren Kindheit im Heim erzählte, von den Begegnungen mit der Sittenpolizei, der Einsamkeit. "Es hat schon ein paar verkrachte Existenzen, die in den Kiosk kommen", sagt er. "Fast immer wurzelt alles in einer schweren Kindheit."
Nur eine Sorte Mensch könne ihm fernbleiben: "Wenn dauernd nur von Krankheiten, vom Bösen und Schlechten erzählt wird. Noch schlimmer sind nur diejenigen, die mir sagen: ‹Guck dich an, Joe, bei dir läuft ja alles so prima!› Ich habe genauso viele oder wenige Probleme wie alle anderen. Nur mache ich die nicht zu meinem Lebensmotto." Es gibt Menschen wie Messerschleifer. Die holen den eigenen Schmerz hervor, um ihn zu schärfen, sich wieder und wieder an ihm zu schneiden. Joe Bürli hält davon nichts. Er hat verinnerlicht, dass das Leben nun mal aus guten wie auch beschissenen Tagen besteht.
Dass es ihm durchaus auch schlecht ergangen ist, kann man in seiner Autobiografie "Der Bub hat nichts Italienisches" nachlesen, sie ist bei ihm im Kiosk Quellenstrasse erhältlich. Darin schreibt er, wie die Stiefmutter den Neunjährigen glauben lässt, er habe die Grossmutter ins Grab gebracht. Erst Jahre später erfuhr Bürli, dass deren Suizid ihren schweren Depressionen geschuldet war und nicht seiner vermeintlichen Unartigkeit. Er beschreibt auch, dass er tagelang in seinem Zimmer bleiben sollte, damit sein Vater und die Stiefmutter ihn nicht zu Gesicht bekommen mussten. Dass das feine Traubengelee den beiden Erwachsenen vorbehalten blieb, obwohl er die Konfitüre mit den Pf laumenschalen eklig fand.
Dass er dieses Buch im Eigenverlag veröffentlich hat, entgegen dem Rat seines Mannes Willy, seiner Familie, seiner Freunde, war wichtig für Joe Bürli. Um aufzuräumen. "Alle hatten Angst, dass ich alte Wunden aufreisse. Aber ich konnte Vergangenes verarbeiten und vieles verstehen." Manchmal habe er aber auch das Gefühl, das Buch sei eine Rechtfertigung vor allen, "die glauben, das Leben sei mir zu leichtgefallen".
"Der Vater", wie Bürli ihn heute durchgehend nennt, erwidert die Kontaktaufnahme des Sohnes nach 19 Jahren Funkstille. Sie gehen gemeinsam mit Heliane essen, danach trinken sie bei dem Ehepaar zuhause noch einen Kaffee. "Fragen von ihrer Seite zu meinem Geschäft oder zu meiner privaten Situation gab es keine." Ob sein Vater die Biografie je gelesen hat? "Nein, das will er nicht; er wisse ja, wie alles wirklich war", sagt Joe Bürli.
Harpo singt: "Moviestar".
Immer wieder unterbricht die Türklingel Joe Bürli, entspinnt sich ein neues Gespräch. Binnen Sekunden wechselt Bürli von Aids zu Paypal, weil ein noch Unbekannter nach den Zahlungsmethoden fragt. Er switcht ohne erkennbare Schwierigkeiten. Es kommen Primarschüler, die in Grüppchen abwägen, wie viele Schleckstengel sie sich leisten können. Oder Angelina mit den viel zu grossen Gymnastikschläppchen, die Joe Bürli einst eine goldene Glückskatze schenkte und die allein heute dreimal vorbeischneien wird, wild italienisch schnatternd, unbeeindruckt von der Tatsache, dass keiner hier sie wirklich versteht.
Ein Mann mit Schirmmütze, für den Bürli unaufgefordert die übliche Tagesration an Zeitungen holt, will von ihm wissen: Wie gehts? "Danke, dass du fragst", sagt Bürli. "Ganz gut." Ob er die Mutter insgeheim verurteilt, die ihren zwei kleinen Mädchen abgepackte Waffeln zum Frühstück in die Hand drückt? Den Hundebesitzer mit dezentem Brilli im Ohr, der neben dem Erotikmagazin ("50-Jährige zeigefreudig") noch ein Magnum Double-Raspberry auf den Tresen legt? Jedenfalls nicht erkennbar. Letzterer kriegt zum Abschied noch ein Leckerli für den Vierbeiner. Joe Bürli tauscht die Zahlen der Jackpotanzeige, 29 statt 28 Millionen.
Er selbst füllt keinen Lottoschein aus. Er brauche keine Millionen. Einst knackte eine Kundin den Jackpot. "Hat sie auch nicht glücklich gemacht", sagt Joe Bürli. Gegen elf kommt Ehemann Willy Klossner mit den beiden Hunden Flynn und Jimmy, der eine ein Irish Setter, der andere ein Jack-Russell-Mischling. Nach und nach trudeln immer mehr Kund:innen ein an diesem Morgen. Einer, der nicht fehlen darf, ist Markus Moor. Oder "Radio", wie sie den 56-Jährigen hier nennen. "Immer auf Sendung, gell, Markus?", sagt Bürli. Der grinst, beisst in die Banane, die er sich aus dem Körbchen in der Mitte des Ladens genommen hat, und lässt einen Automatenkaffee in den braunen Pappbecher laufen.
2018 hat er Joe Bürli und Willy Klossner kennengelernt, "als die mal wieder so ein Dankesessen für die Kund:innen im Hof gemacht haben", sagt Markus, "typisch Joe". Inzwischen seien sie auch privat befreundet, "meine Frau und ich waren schon öfter bei den beiden zum Essen, der Willy kocht so gut".
Was er, der Hauswart aus dem grossen Bürokomplex gegenüber, noch mehr zu schätzen weiss als Willys Kochkünste, sind die vertrauensvollen Gespräche. "Die beiden wissen inzwischen alles über mich", sagt Markus und kommt einen Schritt näher, "also wirklich: alles." Er selbst sei ja auch Pflegekind gewesen. "Joes Buch allerdings kann ich nicht lesen, das macht meine Frau. Mich würde das zu sehr aufwühlen, mir kommen eh schon immer so schnell die Tränen." Manchmal nennt er Joe und Willy "Mami und Papi". Markus, sagt Joe Bürli später, sei ein ganz Lieber.
Neneh Cherry singt: "Manchild".
Dann kommt Renate. Sie ist so etwas wie der Stargast der Runde. Als Willy Klossner die 90-Jährige auf Krücken vor dem Laden ankommen sieht, läuft er raus, nimmt der alten Dame ihre Tasche ab und hakt sich unter. "Soll ich dir einen Kaffee machen?", bietet Klossner zuvorkommend an, ganz Maître de Cabine, der er lange bei Swiss war. Renate nickt und setzt sich auf den mittlerweile frei gewordenen Stuhl im Fenster. Der Atem geht schwer, die Stimme ist leise. "Ich bin hier zuhause", fängt Renate das Gespräch an, "wenn es mir nicht gut geht, kann ich hierherkommen."
Vergangene Woche allerdings sei der Schwindel so stark gewesen, dass Renate zuhause bleiben musste. Normalerweise nimmt sie zwei-, dreimal die Woche die Stufen aus dem ersten Stock auf sich, um in den Laden zu spazieren. Als sie fernbleibt, rufen Bürli und Klossner sie an, schicken auch am nächsten Tag eine Nachricht aufs Handy: Geht es dir besser? "Das hat mich so gefreut. Dass jemand fragt", sagt sie jetzt.
Renate kauft bei Joe Bürli jeweils die neue Ausgabe des Western-Bestsellers aus dem Bastei Lübbe Verlag: "Liebeszeug mag ich nicht." Ihre Söhne meinen, dass es langsam Zeit fürs Altersheim ist, Renate will aber nicht aus ihrer Wohnung raus. Und auch nicht professionell betreut werden. "Ich koche noch jeden Tag. Heute Sauerkraut mit Speck, gestern Gehacktes und Hörnli." Bürli packt Renate zwei Wurstbrötli ein, "für später daheim. Und vergiss nicht, deine Bouillon zu trinken!".
Auf Renates Sohn ist er nicht sonderlich gut zu sprechen. "Der mag mich nicht mehr, seitdem ich ihm gesagt habe, dass er mit seinen dummen Sprüchen aufhören soll. Ist ein Rassist, ausserdem war er nicht lieb zu dir", sagt Bürli und schaut Renate an. Die schaut hoch: "Er ist wirklich intolerant. Ich habe ihn so nicht erzogen."
Joe Bürli hat sich eigentlich abgewöhnt, sich im Laden auf Auseinandersetzungen einzulassen, "hier bin ich viel stoischer als privat, lasse die Leute auch mal reden". Trump, Ukraine, Klimapolitik, Rechtsrutsch – es gibt viel, das ihm Sorgen macht. Sonntags schaut Joe Bürli deswegen nur noch selten die Nachrichten. "Ich bestimme, wann ich mir etwas zumute. Und ich habe über die Jahre gelernt, mich zu schützen. Manchmal müssen es eben Realityshows sein." Jimmy kommt schwanzwedeln aus seinem Körbchen im Hinterzimmer angelaufen und lässt sich von Renate kraulen. Willy Klossner sagt: "Der spürt deine gute Seele, Renate." Und dass sie ihn an sein eigenes Mami erinnere. Bürli schweigt.
Die Frau, die er Mami nennen musste, war Heliane. Die Grossmutter, die für ihn Mutter war, nahm sich das Leben, als er zehn war. "Willy ist sehr behütet aufgewachsen, ich glaube, dass es ihm deswegen auch manchmal so schwerfällt zu verstehen, was ich denke. Er ist es, der den Kontakt zu meiner leiblichen Mutter hält, die beiden schreiben sich." Zwar ist Joe Bürli froh, dass seine Halbschwester aus Italien ihn über eine Agentur hat ausfindig machen können. Und er sich auf ein paar Treffen mit seiner biologischen Mutter eingelassen hat.
"Aber sie selbst kommt nicht nach Zürich, hat wohl Schiss vor dem Fliegen, und mit dem Zug von Rom ist es so umständlich. Wenn ich also nicht fliege, läuft nichts. Ich bin es, der italienisch lernen soll, damit wir miteinander kommunizieren können. Sie kriegt nicht mal ‹Grüezi› hin. Ich habe zu ihr gesagt: ‹Hör zu Luisa, ich bin dir nicht mehr böse. Ich musste 35 Jahre damit zurechtkommen, dass es dich in meinem Leben nicht gibt. Du aber musst damit zurechtkommen, dass du mich verlassen hast. Jetzt plötzlich auf grosse Mutter-Sohn-Liebe zu machen, das ist mir zu viel. Meine Aufgabe ist, zu schauen, dass es mir gut geht, ohne schlechtes Gewissen dir gegenüber.› Und das habe ich geschafft."
Auch heute ist es Willy Klossner, der auf SMS-Nachrichten antwortet, wenn die Mutter eine schickt. Er gratuliert zu Geburtstagen und nimmt die Weihnachtsanrufe entgegen. Neulich habe Joe sich überlegt, was er täte, wenn seine Mutter sterben würde. "Im Gegensatz zu Willy habe ich nicht das Gefühl, auf die Beerdigung gehen zu müssen. Mir sind andere näher. Nur hingehen, weil sie meine biologische Mutter ist – nein."
Die Beatles singen: "I Want to Hold Your Hand".
Die Kund:innen sind Bürlis Alltag. Doch wenn der Laden geschlossen ist und er vor dem Abendessen noch mit seinem Mann und den Hunden eine Runde dreht, macht auch er dicht. "Wenn wir dann Bekannte treffen und ich nichts mehr sagen mag, bin ich schon auch mal grumpy. Willy fängt das dann auf, der ist gern der Liebling." Seit acht Jahren sind die beiden ein Paar.
Bürli sagt: "Willy ist meine grosse Liebe, mein erster Partner auf Augenhöhe. Ich habe immer nach dem Gefühl gesucht, anzukommen, und wusste gar nicht genau, was das eigentlich bedeutet. Früher, da war ich oft auf der Suche nach jemandem, der mir etwas beibringt, mir zeigt, wie ich Geld verdiene, oder der mir das Leben erleichtert. Wir aber sind in einem Alter zusammengekommen, in dem man so viel erlebt hat, dass man weiss, was man nicht mehr will und was wichtig ist."
Genau deswegen will Joe Bürli den Kiosk nächsten Sommer verkaufen. Mit Willy den Vorruhestand geniessen, das stehe nun über allem. Um sich abzunabeln hat Bürli bereits einen Plan: "Ich weiss von den Leuten im Quartier, wie schwierig es sein kann, plötzlich ohne Aufgabe zu sein. Vielleicht kann ich ja zwei, drei Tage die Woche im sozialen Bereich arbeiten, ehemalige Drogenabhängige begleiten oder alte Menschen. Das müssen ja nicht immer Ärzt:innen oder Psychologiestudent:innen machen, sondern Menschen mit Empathie. Und die hab ich."
Manchmal erinnert Joe Bürlis Kiosk an ein Wasserglas, in dem die Kund:innen einer Brausetablette gleich in Sekundenschnelle aufschäumen, um in einem neuen, gelösten Aggregatszustand zurück in die Welt zu entschwinden. Und Bürli, der spült Abend für Abend das Glas mit den abgestandenen Resten und macht es für den nächsten Morgen um 6.30 Uhr parat. 6 Tage die Woche, 300 Tage im Jahr. Seit 25 Jahren.
"Es kommt mir manchmal schon vor, als sei ich ein Hamster im Rad", sagt Joe Bürli und setzt schnell nach: "Aber ich kann abends nach Hause gehen, Willy freut sich, wir haben ein schönes Haus. Im Sommer einen schönen Garten. Das entschädigt für so viele Sachen und ich wollte es ja nie anders." Ferien nimmt er nur zwei Wochen, alles andere könne er sich nicht leisten. Seit Corona bleiben viele seiner Kund:innen aus den umliegenden Büros im Homeoffice, vor der Pandemie habe er noch für 70'000 Franken den Laden renovieren lassen, "die krieg ich in meinem Alter eh nicht mehr rein".
1500 Franken blieben am Monatesende übrig. Dass er davon leben kann, verdankt Joe Bürli vor allem dem früheren Kauf des Hauses in Höngg, das er zusammen mit Roger, seinem Ex-Freund, erwarb. "Roger ist mittlerweile ausgezogen und hat die Wohnung mit Willy getauscht. Den Zins von allem zusammen dritteln wir und wir sind alle füreinander da." Bis vor Kurzem kam Roger auch noch zweimal die Woche, um im Laden auszuhelfen. Jetzt macht er eine Chemotherapie, Darmkrebs.
Elton John singt: "I Guess That’s Why They Call It the Blues".
Während Joe Bürli gerade die frischen Ravioli im Kühlfach anpreist, kommt Marko* rein, ein grosser Mann mit vollem Haar, Mitte fünfzig. Als Bürli fragt, wie es bei ihm laufe, sagt Marko: "Hättest du nicht gefragt, hätte ich nichts gesagt, aber so – anlügen will ich dich nicht. Gestern kam die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die geben mir noch zwei Wochen, vielleicht ein wenig länger. Für mich ist das in Ordnung, wirklich, nur um meine Frau und die Jungs mache ich mir Sorgen." "Das tut mir leid", sagt Joe und blickt Marko direkt an. Der nickt. "Ciao Joe!" "Ciao Marko!" Auf dem Absatz macht der noch einmal kurz kehrt: "Und Joe: Schön, dass es dich gibt."
Update: Joe Bürli hat seine Firma, die Kiosk Quellenstrasse GmbH, mittlerweile verkauft. Der Übergang erfolgt zum 31. März 2025.