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Schweizer Journalistin in Israel: «Wir sollten uns gut überlegen, für welche Werte wir nun einstehen»

Politik

Schweizer Journalistin in Israel: «Wir sollten uns gut überlegen, für welche Werte wir nun einstehen»

Als die Schweizer Journalistin Cécile Cohen sich dazu entschied, eine Familie in Israel zu gründen, wusste sie, dass es kompliziert wird. Diese Komplexität zeigt sich gerade durch den Krieg gegen die Hamas. Ein Kommentar.

«Ich wusste, worauf ich mich einlasse, als ich mich für die Liebe zu einem ‹Jeruschalmi› – einem in Jerusalem geborenen Juden – entschieden habe. Es war kein einfacher Entscheid, denn eine Familie in Israel zu gründen heisst – nebst vielen unbeschreiblich bereichernden und schönen Dingen –, dass meine Kinder mal in die Armee gehen und sie in einer Realität aufwachsen werden, in der Krieg nicht nur Theorie ist.

Sie werden ab und zu vor einem Raketenangriff Schutz im Bunker suchen müssen und mein Mann und ich werden aktiv dagegen ansteuern müssen, dass sie nicht ein Weltbild mitbekommen, bei dem man sich vor Muslimen im Kollektiv zu fürchten hat. Die unzähligen Geschichten und eigenen Erfahrungen von Hass und Diskriminierung – egal wo auf der Welt, nur weil sie einen jüdischen Namen tragen – werden es ihnen aber schwer machen, dies tatsächlich zu glauben.

Zu jüdisch, zu wenig jüdisch

Meine Tochter ist erst anderthalb Jahre alt und hat bereits Diskriminierung erlebt. Leider – ich sage es ganz ehrlich – von beiden Seiten: von solchen, denen sie mit ihrem israelischen Vater zu jüdisch ist, und solchen, denen sie wegen ihrer nicht jüdischen Mutter zu wenig jüdisch ist.

Als ich mich für diese Liebe entschied, wusste ich: Es wird komplex, es wird kompliziert, ich werde einiges aushalten müssen. Gerade wird uns diese Komplexität durch den Krieg, der vor zwölf Tagen begonnen hat, schmerzlich vor Augen geführt. Seit die Hamas am 7. Oktober von Gaza nach Südisrael eingedrungen ist und in mehreren Dörfern, Kibbuzim und an einer Trance-Party rund 1400 unschuldige Zivilisten ermordet und 200 Menschen gekidnappt hat, hat sich unser Leben auf den Kopf gestellt.

Zuerst waren das Entsetzen und die Trauer, dann die Angst um die Soldaten, die einrücken und an die Front fahren mussten – einer dieser Soldaten ist mein Neffe, andere sind Freunde, Familienväter und Mitarbeiter meines Mannes. Es sind Menschen, die wir lieben, die Teil unseres täglichen Lebens sind.

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«Schon jetzt merke ich, wie ich nicht mehr dieselbe Mutter bin, die ich noch vor einer Woche war»

Auch sonst hat sich der Alltag komplett verändert. Schulen und Kitas sind geschlossen oder nur teilweise geöffnet. Das Kriterium: Wenn die Sirenen erklingen, müssen alle Kinder und Betreuungspersonen innert 90 Sekunden in Sicherheit gebracht werden. Viele Geschäfte bleiben zu, Einnahmequellen versiegen, das gesparte Geld auf dem Bankkonto verliert an Wert.

Kommt es zum grossangelegten Krieg?

Wir leben in ständiger Unsicherheit. Wird die israelische Armee nach Gaza eindringen? Schaltet sich dann auch die schlagkräftigere Hizbullah vom Südlibanon ein, um Israel vom Norden her anzugreifen? Kommt es zu einem grossangelegten Krieg unter der Führung Irans? Schon jetzt merke ich, wie ich nicht mehr dieselbe Mutter bin, die ich noch vor einer Woche war.

Vorgestern liess ein Töfffahrer seinen Motor laut aufheulen und schon dachte ich, wir müssten wieder in den Bunker rennen. Hat meine Tochter nicht das Recht, ohne diesen Stress und diese Bedrohung aufzuwachsen? Noch denkt sie, es sei ein Spiel, wenn wir im Keller Schutz vor den Raketen suchen und dort unsere Nachbarn mit Kind und Hunden treffen oder wenn wir auf dem Spielplatz über die Wiese rennen, unterwegs in den nächstgelegenen Unterschlupf. Doch sie spürt die Anspannung, sieht die traurigen Gesichter, spürt die Aufgekratztheit von Kindern, Müttern und Grosseltern.

Kaum noch israelische Araber

Das Strassenbild in unserem Quartier hat sich auch verändert, weil es kaum noch israelische Araber gibt, denen man begegnet. Sie machen rund 20 Prozent der israelischen Bevölkerung aus – Westbank und Gaza ausgeschlossen – und leben oft in eigenen Wohnquartieren und Dörfern. Zwar trifft man sie noch hier und dort, als Verkäuferinnen im Supermarkt, als Ärzte im Spital – doch als Babysitter, Bauarbeiter und Strassenputzer bleiben sie aus. Ein Grund ist sicher, weil ihnen jüdische Israelis im Moment nicht trauen und sie nicht in ihrem Zuhause haben wollen. Vielleicht fürchten sie sich aber auch vor Fragen und Diskriminierung oder gar vor den Hamas-Raketen, die auf jüdisch-israelische Orte abgefeuert werden.

Ein Bekannter aus Neve Shalom, einem einzigartigen Dorf in Israel, wo Juden und israelische Araber zusammenleben, bleibt zu Hause, weil er keine Kraft für Anfeindungen hat. Solidarisieren arabische Israelis mit den Juden, müssen sie oft in Kauf nehmen, von ihren eigenen Leuten ausgegrenzt und angefeindet zu werden. Ein arabischer Velohändler hatte beispielsweise Mitgefühl für die Kinder der jüdischen Hamas-Opfer und spendete 50 Fahrräder. Ein Tag später stand sein Laden in Flammen. Solche Dinge meine ich, wenn ich sage, es ist komplex. Ganz zu schweigen davon, was gerade in Gaza passiert.

Diskussion über israelische Blockade von Essen und Wasser

Es tut mir leid für jede Mutter, die mit ihren Kindern fliehen muss, für jedes Kind, das in diesem Krieg stirbt, für alle, die ihr Geschäft und damit ihr Einkommen verlieren, denn dieser Kontrollverlust zieht oft nur weitere Gewalt mit sich, unter der wiederum Frauen und Kinder leiden – ich kenne diese Dynamiken gut, weil ich mich als Doktorandin intensiv mit dem Thema Krieg und Versöhnung auseinandersetze. Gerade gestern ist bei uns unter Freundinnen eine Diskussion darüber entbrannt, ob die israelische Blockade von Essen, Strom und Wasser gegenüber Gaza gerechtfertigt ist – das humanitäre Völkerrecht sagt höchstens für ein paar Tage.

Kriegsmassnahmen müssen immer zielgerichtet und verhältnismässig sein – das heisst, im jetzigen Kontext, dass beim Verfolgen des militärischen Ziels von Israel, die Hamas zu schwächen und im besten Fall zu vernichten, möglichst wenig Zivilisten ums Leben kommen dürfen. Dies ist schwierig, weil sich die Hamas in einem geschätzt 500 Kilometer langen Tunnelsystem unter den Wohngebieten Gazas verschanzt und absichtlich zivile Opfer in Kauf nimmt.

Israel riskiert Unterstützung der Staatenwelt

Denn, so pervers es klingt: Jedes palästinensische Opfer schadet Israel mehr als der Hamas – Israel riskiert damit die Unterstützung der Staatenwelt, schürt den Hass in den arabischen Staaten und die Hamas nutzt die hohe Opferzahl zur Legitimation für weitere Operationen. Das hat gerade eindrücklich der Raketeneinschlag im Ahli-Arab-Spital gezeigt, obwohl es höchst umstritten ist, dass die Rakete tatsächlich von den Israelis abgefeuert wurde.

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«Israel hat ein Existenzrecht, die Juden das Recht, irgendwo auf dieser Erde einen Ort zu haben, an dem sie in Sicherheit ein jüdisches Leben führen können»

Ich finde es gefährlich, dass auf den europäischen und amerikanischen Strassen Pro-Palästina-Demos stattfinden, an denen die Hamas-Kämpfer als Freiheitskämpfer glorifiziert werden. Mitleid mit den Opfern aus Gaza zu haben, kann ich verstehen. Jedoch muss man sich die schmerzliche Frage stellen: Für welche Ideologie steht der Grossteil dieser Menschen?

Die zivile und die militärische Sphäre sind in Gaza ineinander verwoben. Der Militärflügel der Hamas, die sogenannten Kassam-Brigaden, wird auf 30’000 Kämpfer geschätzt, dazu kommt ein ganzer politischer Verwaltungsapparat. Viele Bewohner in Gaza haben also einen Bruder, einen Onkel oder einen Sohn, der in diese Organisation verstrickt ist. Dessen muss man sich bewusst werden.

Hass gegen Israelis über Generationen

Dabei ist es nicht nur Angst, die die Leute antreibt, sondern über Generationen Hass gegen Israelis. Auch die besten Friedensprojekte und UN-Schulen vermögen dieses Weltbild nicht zu verändern, das zeigen unzählige Studien. Es ist ein Weltbild, das keine Juden auf dem Stück Erde zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer will. Und da bin ich ganz klar: Ich habe keine Toleranz mit einer Terrororganisation und ihren Anhängern, die zum Ziel haben, alle Juden auf dem Stück Land auszulöschen, das sie 1948 per UNO-Beschluss zugesprochen bekommen haben, nachdem sie in Europa verfolgt und beinahe ausgelöscht wurden.

Es waren die umliegenden arabischen Länder, die 1948 Israel den Krieg erklärt haben. Zuvor und danach gab es mehrere Versuche, das Land aufzuteilen. Diese sind auch daran gescheitert, weil sich die palästinensische Seite nicht zusammenraufen und ein Abkommen unterschreiben wollte.

Siedlungen ein Geschwür

Israel hat ein Existenzrecht, die Juden das Recht, irgendwo auf dieser Erde einen Ort zu haben, an dem sie in Sicherheit ein jüdisches Leben führen können. Ich rede nicht von den Siedlungen – auch ich finde sie ein Geschwür. Aber das ist gerade der Punkt: Die Menschen, die vor zehn Tagen umgekommen sind, sind nicht fanatische Siedler, die auf umstrittenem Gebiet wohnen. Das waren junge Leute, die an einer Party zusammen mit israelischen Palästinensern für den Frieden tanzten, Menschen, die mit ihren Familien in Dörfern wohnen, auf einem Gebiet, das seit der Staatsgründung zu Israel gehört. Darunter viele Leute, die in den letzten Monaten gegen die Regierung Netanjahus auf die Strasse gingen.

Menschen wie ich, die sich für Demokratie, eine offene Gesellschaft und den Dialog – auch wenn wir uns bewusst sind, wie schwierig dieser ist – einsetzen. Die Hamas und ihre Anhänger vertreten ein anderes Weltbild. Viele, die sich jetzt mit der Hamas solidarisieren, haben einen zentralen Punkt nicht verstanden: Die Hamas sind Terroristen, Fundamentalisten, ihr Angriff ist auch als ein Angriff auf westliche Werte zu verstehen. Wir sollten uns sehr gut überlegen, für welche Werte wir nun einstehen.»

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Michal

Danke Cécile Cohen
Besser könnte der Bericht nicht sein. Der Artikel bringt die Situation und Problematik kurz und prägnant auf den Punkt.

Beat Glesti

Danke, dass Sie die Problematik versucht haben ganzheitkich darzustellen, trotz Ihrer eindeutig israelischen Situation (ich sage bewusst nicht “jüdisch”, da liegt der Unterschied, denn
zwischen antisemitisch und kritisch Israel speziell der jetzigen ultrarechten Regierung gegenüber zu sein, ändert nichts daran dass der Hamas-Ueberfall ein Verbrechen war und ist.

Dana

Danke für die differenzierten Worte.

Ilona Haustein

Die Autorin spricht mir aus dem Herzen.
Endlich mal jemand, der einen authischen Bericht schreibt.
Die Hamas ist mit jeder Familie im Gaza Streifen vernetzt. Das ist schlimm!
Die Palästinenser haben 1948 den Teilunsplan der UNO abelehnt!
Die Palästinenser und ihre zahlreichen Terror Organisationen (Hamas, Hisbollah…) wollen die Israelis ins Meer treiben, vernichten!
Hoffentlich sind die Aussagen unserer Regierung in Deutschland nicht nur Lippenbekenntnisse.

Walter Ludolf

Sehr guter Artikel, ich finde ihn sehr wichtig, auch als Gegenpol zu dem vorher veröffentlichten, der doch sehr einseitig über die Leiden der Bevölkerung in Gaza berichtete.

Ich denke, dass viele Menschen in Europa vergessen, dass diese zivilen Opfer eben wie von ihnen dargestellt in großer Zahl für das Weltbild stellen, welches zu den schrecklichen Massakern geführt hat, dass sie teils selbst Unterstützer sind oder zumindest Freunde und Familie haben, die dazu gehören.

Ja, die Frage ist wirklich, wie solidarisch wollen wir uns mit Menschen stellen, die am liebsten alle Juden vom Angesicht der Erde fegen wollen, gerade auch für uns in Deutschland (im Gegensatz zu ihnen in der Schweiz), ist das eine Position, der man durchaus kritisch gegenüber stehen sollte.

Dass Sie selbst in dieser Situation, nach den unvorstellbaren Taten der Hamas, weiterhin für Gespräche und eine friedliche Lösung sprechen, spricht für Sie.
Ich weiß nicht, ob ich, wenn ich in Israel leben würde, dazu weiterhin fähig wäre.

Peter Müller

“annabelle.ch” kannte ich bis heute nicht, bin somit ein neuer Leser.
Habe heute beide Artikel gelesen: diesen hier und auch “Flucht aus Gaza: «Ich glaube, ich habe mein ganzes Herz leergeweint»“. Das Leid, die Probleme lesen sich identisch.
 
Für mich bleibt es dabei: eine Lösung wird es niemals geben. Gemäss diesem Artikel argwöhnen die jüdischen Israelis die 20% israelischen Araber. Libanon, Gaza, Iran werden weiterhin dem Land Israel das Leben schwer machen. Auch wenn es irgendwann einmal Frieden geben sollte: eine kleine Splittergruppe von 100 Leuten kann dieses wieder niederreissen.
 
Kein Land im Nahen Osten wird Israel helfen. Man kommt zwar auf Israel zu, wie Saudi-Arabien (mehr sunnitisch) in der letzten Zeit. Aber wenn der nicht hoch angesehene Iran (mehr schiitisch) eine Intensive starten sollte, werden andere arabische Staaten sich still verhalten. Eine Zwickmühle …
 
Ein Problem wird weiterhin von allen ausgeblendet:
Einwohner Israel = 1960: ~ 2,1 Mio, 2021: ~ 9,3 Mio
Einwohner Gaza-Streifen = 1960: ~ 0,3 Mio, 2021: ~ 2,1 Mio
 
Der Gaza-Streifen hat die höchste Menschendichte und die höchste Geburtenrate weltweit. Was erzeugt dieses nun in einem dichtest besiedelten Landstrich der Welt, wo sich alle 15-20 Jahren die Bevölkerung verdoppelt? Stress! Und zwar in jeglichen Lebensbereichen (Nahrung, Wohnung, Kultur). Bei Stress kommt sehr schnell Hass auf Andere. Es fehlt nicht mehr viel und der Druck-Kochtopf, der vieles aushalten kann, explodiert.
 
Die Lösung ist einfach, aber schwer durchzuführen: Geburtenkontrolle in jeglichen Ländern
Je weniger Menschen sich in einer Krisenregion (Kriegsregion) aufhalten, desto weniger Zivilisten leiden darunter. Insgesamt somit weniger Stress.
Es ist human Flüchtlinge aufzunehmen, doch gerade in 2023 sehen wir, dass dieses immer mehr schwieriger wird (Kapazität, Kultur wird in CH,D,AT weiter ausgelebt = Antisemitismus).
 
Viele Länder schütten nun Israel und auch den Gaza-Streifen mit Hilfsgeldern wieder zu. Wird sich aber hier irgendetwas ändern? Nein, der Hass bleibt. Man reproduziert sich weiter, bis ein grösserer Krieg mit allen Konsequenzen ausbricht.

Guido Maria

Ausgezeichneter, differenzierter Artikel! Vielen Dank

Bet

Danke für den guten Artikel. Ich frage mich, wie sich jetzt auch speziell die israelischen Frauen bzgl. ihrer sexuellen Freiheit fühlen mögen. Gefühlt ist für mich der Angriff der Hamas auch ein Angriff auf die Emanzipation. Es ist wichtig, dass wir als Frauen diesen heftigen Bildern in Gesprächen etwas entgegensetzen. Ja, das war kein Angriff auf Siedler, das waren Terroristen, die gezielt friedliche Frauen vergewaltigt und abgeschlachtet haben, die frei in der Wüste getanzt haben. Und vermutlich feministische junge Männer, die für freie Liebe einstanden. Im Grunde ein Angriff auf uns Frauen, die sich nicht unterwerfen. Ich möchte auch kein Leid für die palästinensische Zivilgesellschaft, aber ich nehme stark an, die Palästinenser im Gaza-Streifen haben nicht mal halb so viel Verständnis für uns freie Frauen wie wir für ihre Lage.