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Teamärztin der Schweizer Frauen-Nati Tanja Hetling: «Bis vor fünf Jahren gab es für Frauen nicht einmal eigene Trikots»

Teamärztin der Schweizer Frauen-Nati Tanja Hetling: «Bis vor fünf Jahren gab es für Frauen nicht einmal eigene Trikots»

Tanja Hetling ist Teamärztin der Schweizer Frauen-Nati. Im Interview erklärt sie, warum Fussballerinnen mehr für den Erfolg kämpfen müssen als ihre männlichen Kollegen – und was das mit Muskeln, Bändern und dem Menstruationszyklus zu tun hat.

annabelle: Tanja Hetling, wie sieht das ideale Fussballdress für Frauen aus?
Tanja Hetling: Das gibt es noch gar nicht – gerade die Fussballschuhe sind immer noch ein Problem, auch wenn sich schon einiges gebessert hat. Frauenfüsse sind nicht einfach nur kleiner und schmaler, sie brauchen auch mehr Abstützung. Aus der Orthopädie wissen wir, dass sie schneller ermüden. Da könnten die Sportbekleidungsfirmen ruhig mehr Gas geben, finde ich. Auch bei der Aufklärung rund um Sport-BHs gibt es Luft nach oben. Wir haben immer wieder Spielerinnen, die irgendwann zugeben, dass ihr BH doch irgendwie rutscht oder drückt. Man muss wissen: Bis vor etwa fünf Jahren gab es für Frauen noch nicht einmal eigene Trikots. Wir mussten jeweils in der Umkleidekabine zuerst die Unterhosen aus den Männershorts rausschneiden.

Nicht Ihr Ernst!
Doch! Uns im Staff ging es lange genauso. Inzwischen werden wir aber endlich mit kleiner geschnittener Kleidung in den Grössen S und M ausgestattet – und wir sehen nicht mehr aus, als wären wir frisch aus dem Bett gekrochen. (lacht)

Welche Unterschiede zwischen dem Frauen- und Männerkörper zeigen sich im Fussball?
Frauen sind leichter und kleiner, haben mehr Fettmasse – und zwanzig bis dreissig Prozent weniger Muskelmasse. Ausserdem haben wir ein breiteres Becken und neigen zu einer X-Bein-Stellung. Für Frauen ist es deshalb schwieriger das Bein schön gerade nach vorne auszurichten, was beim Rennen und Springen zu einem erhöhten Verletzungsrisiko führt. Das Risiko für Fussballerinnen, aufgrund eines Kreuzbandrisses auszufallen, ist fünf- bis siebenfach höher.

Das klingt nicht nach idealen Voraussetzungen für eine Fussballkarriere.
Ja, aber man weiss mittlerweile, dass sich diesem Verletzungsrisiko mit einem gezielten Training gut entgegenwirken lässt – und man es so um bis zu sechzig Prozent senken kann. Heisst: Die Präventionsübungen, die für alle Fussballer:innen entwickelt wurden, um stabilisierende und damit schützende Muskeln aufzubauen, sind für die Frauen noch viel wichtiger – mit grossem Fokus auf das Trainieren der Rumpf- und Gesässmuskulatur. Auch das akkurate Sprünge- und Stopand-Go-Üben ist essenziell: In welcher Position steht mein Knie, wie ist meine Fussstellung?

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"Wir Frauen werden immer noch oft als die ‹schlechteren Männer› angesehen – dabei sind wir einfach nur sehr verschieden"

Kann man sagen, dass Frauen noch ein bisschen mehr Effort reinstecken müssen, um gute Fussballerinnen zu sein?
Ja, im Grunde schon. Athletinnen müssen mehr für ihre Karriere tun. Und sie werden laut Statistik häufiger Rückschläge in Form von Verletzungen ertragen müssen.

Was entgegnen Sie bösen Zungen, die behaupten, dass Frauen einfach nicht für den Profifussball gemacht sind?
Mich stört dieses ewige Vergleichen der Männer und Frauen im Sport. Wir Frauen werden immer noch oft als die «schlechteren Männer» angesehen – dabei sind wir einfach nur sehr verschieden. Wenn man Leistungen unbedingt vergleichen möchte, dann also bitte die Männer unter Männern und die Frauen unter Frauen.

Bei der Schweizer Frauen-Nati wurde vor fünf Jahren das Zyklustracking eingeführt – was weltweit noch die wenigsten Fussballclubs tun. Sie wissen jetzt also immer genau, wo in ihrem Zyklus die Spielerinnen gerade stehen. Warum ist das wichtig?
Studien zeigen, dass Sportlerinnen prinzipiell in jeder Zyklusphase dieselbe Leistung abrufen können. Es gibt Olympiasiegerinnen und Weltmeisterinnen, die diese Wettkämpfe menstruierend gewonnen haben. Aber – und das ist ausschlaggebend: Um wirklich dieselbe Leistung erbringen zu können, muss je nach Zyklusphase einiges beachtet werden.

Und zwar?
Frauen neigen zwischen Eisprung und Menstruation stärker zu Verspannungen und Muskelkater. Deshalb bieten wir ihnen in dieser Zeit weniger intensive Trainingseinheiten und mehr Beweglichkeitsübungen an. Ausserdem empfehlen wir, mehr Pausen einzulegen und mehr zu schlafen. In dieser Zyklusphase sind Frauen oft schlapper und haben Heisshungerattacken, weil der Körper Proteine und Kohlenhydrate nicht lange speichert. Zwischenmahlzeiten sind deshalb essenziell.

Welche weiteren Erkenntnisse des Zyklustrackings gibt es?
Es verschafft uns Einblicke, die wir vorher nicht hatten. Zum Beispiel sehen wir, wenn die Mens einer Spielerin längere Zeit ausbleibt. Früher haben uns das längst nicht alle erzählt. Das passiert oft bei Frauen, die sehr viel Sport treiben. Und fast immer hat es damit zu tun, dass sie zu wenig essen. Sportlerinnen müssen generell mehr Nahrung zu sich nehmen, weil sie einen höheren Energieverbrauch haben. Wenn die Kalorienzufuhr zu niedrig ist, geht der Körper auf Sparflamme und hat keine Energie mehr für einen gesunden Zyklus – was oft das erste Alarmzeichen eines allgemeinen gesundheitlichen Abbaus ist.

Spüren Sie den gesellschaftlichen Druck auf Frauen, schlank zu sein, auch bei den Spielerinnen?
Nicht bei allen Spielerinnen, aber immer wieder kommt das vor, ja. Für mich als Medizinerin ist das oft eine Knacknuss, Überzeugungen wie «Kohlenhydrate sind schlecht» aus den Köpfen rauszukriegen – und sie davon zu überzeugen, immer auch eine mindestens handgrosse Portion Kohlenhydrate in Form von Pasta oder Reis zu essen. Das ist unser Benzin! Ich habe in orthopädischen Sprechstunden oft mit Athletinnen zu tun, bei denen die Mens schon lange nicht mehr regelmässig kommt. Sie essen zu wenig, machen zu viel Sport, haben zu viel Stress und dann zu allem Übel noch eine Ermüdungsfraktur, also kleine Brüche in den Knochen. An diesem Punkt angelangt, dauert es lange, bis es der Patientin wieder gut geht. Deshalb sehe ich das Zyklustracking auch als wichtige Prävention, um früh gegensteuern zu können.

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"Seit unsere Spielerinnen zyklusorientiert trainieren und essen, habe ich deutlich weniger Schmerzmittel verteilt"

Was gibt es über die Zyklusphasen zwischen Menstruationsbeginn und Eisprung zu wissen?
Während der Menstruation ist eine proteinreiche, aber auch antioxidative Ernährung beispielsweise in Form von roten Beeren wichtig, weil die Blutung ja im Grunde eine Entzündungsreaktion im Körper ist. Bei Beschwerden sollten sie natürlich darauf achten, dass sie mehr Ruhe und Schlaf bekommen. In der Zeit während der Menstruation kann sich die Spielerin aber auch schon fit und wohl fühlen. In der darauffolgenden Woche folgt dann die Powerphase, in der das Östrogen stark ansteigt.

Die unkomplizierteste Phase?
Nicht unbedingt, weil die Studienlage danach aussieht, dass wir um den Eisprung herum das höchste Verletzungsrisiko haben. Wir können in dieser Zeit zwar die meiste Muskelmasse regenerieren – heisst, die Fussballerinnen können voll belastet werden, beim Krafttraining etwas mehr Gewicht nehmen oder mehr Sätze durchführen. Aber das Aufwärmen ist dann wichtiger als ohnehin schon.

Was tun Sie, wenn eine Spielerin starke Mensbeschwerden hat – und ein wichtiges Spiel ansteht?
Seit unsere Spielerinnen zyklusorientiert trainieren und essen, habe ich deutlich weniger Schmerzmittel verteilt. Aber klar: Mensbeschwerden gibt es und wird es immer geben. In so einem Fall greifen wir auf Schmerzmittel zurück, ich empfehle aber auch, Omega 3 hoch zu dosieren. Und ich schaue zusätzlich mit der Spielerin, was gerade guttun könnte: zum Beispiel ein heisses Bad, Yoga oder eine Physio-Behandlung.

Tanja Hetling (46) ist Medizinerin und Fachärztin Orthopädie/Traumatologie und seit 2013 Teamärztin beim Frauen-Nationalteam. Daneben betreut sie in der Swiss Sportclinic in Bern Athletinnen, sie arbeitet ausserdem als Fitnessinstruktorin und Yogatherapeutin

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