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Unverbindlichkeit: Warum sind alle so unzuverlässig geworden?

Unverbindlichkeit: Warum sind alle so unzuverlässig geworden?

Kurzfristige Absagen sind zur Normalität geworden – und wer heute pflichtbewusst an einer Verabredung festhält, ist selbst schuld, schreibt unsere Autorin Linda Leitner. Ein Plädoyer für mehr Verbindlichkeit.

Relativ lange sass ich dem Irrtum auf, der Begriff "Cancel Culture" beziehe sich auf das inflationäre Kultivieren des Absagens. Korrekterweise beschreibt Cancel Culture das Boykottieren meist bekannter Menschen wegen vermeintlich fragwürdiger oder kontroverser Handlungen – das weiss ich jetzt. Aber der prominenten Tendenz zum oft kurzfristigen Canceln von Plänen einen Namen zu geben, ergäbe für mich nach wie vor Sinn.

"Sehen wir uns bald?" – "Unbedingt! Sonntag?" – "Mega gern!" Dann, am Sonntagnachmittag: "Du, steht heute noch …?" – "Hey sorry, ich schaffs nicht." Eine Standard-Konversation. Wer heute pflichtbewusst an einer Verabredung festhält, ist selbst schuld.

Promo für Inkonsequenz – ist das zu fassen?

"Zuverlässigkeit galt lange als starker Wert in der Gesellschaft. Jetzt geht der Trend in Richtung Individualismus. Das heisst, Grenzen setzen, die eigenen Bedürfnisse spüren. Die logische Konsequenz? Absagen", erklärt die Luzerner Psychotherapeutin Romina Reginold. Wischt man durch Social Media, wird auf Achtsamkeitsaccounts geradezu Werbung dafür gemacht, keine Angst vorm Absagen haben zu müssen. Promo für Inkonsequenz – ist das zu fassen?

Klar, es ist wichtig, sich selbst und die eigenen Gefühle ernster zu nehmen. Aber würden wir uns alle immer sofort hinlegen, sobald uns nach einem Nap ist, befände sich die Welt schnell im Dornröschenschlaf. Selfcare mag relevant sein, manchmal ist der Zeitpunkt dafür aber denkbar schlecht gewählt – dann nämlich, wenn eine andere Person bereit ist, einem ihre kostbare Zeit zu schenken.

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"Ich muss fühlen, dass wir uns sehen wollen. Ich muss wissen, wir werden es schaffen"

Sich in letzter Minute gegen ein Date zu entscheiden, für das man einmal Feuer und Flamme war, zeugt von Respektlosigkeit – vor allem dann, wenn die Absage grundlos ist oder zum wiederholten Male erfolgt. Man fragt sich ja: Gehts dir wirklich schlecht oder hast du einfach keinen Bock? Letzteres wäre auch okay, aber dann verbitte ich mir die anfängliche Euphorie. Zu busy? Das sind die wenigsten.

Übertreibe ich?

Für eine Absage, mit der ich leben kann, brauche ich einen plausiblen Grund. Und dass man sich "komisch fühlt", reicht nicht, es muss auch erwähnt werden, dass man sich gern getroffen hätte. Ich muss spüren, dass wir uns mögen. Ich muss fühlen, dass wir uns sehen wollen. Ich muss wissen, wir werden es schaffen.

Wer mein Bedürfnis (diese Person zu sehen) ignoriert, weil das eigene Bedürfnis, mich nicht zu sehen, gerade überhandnimmt, und dann auf Nachfrage genervt erwidert: "Ich habe dir doch erst zweimal abgesagt", wird irgendwann gecancelt. Übertreibe ich?

Ich bin ein Mensch, kein Termin

Ich solle das nicht persönlich nehmen, raten mir routinierte Absager:innen – und die Psychotherapeutin Reginold. Leichter gesagt als getan. Ich bin ein Mensch, kein Termin.

Mein Fazit: Für ein heiteres Miteinander, auf das man sich noch aufrichtig freuen darf, braucht es die Harten, die das Haus auch dann verlassen, wenn sie mehr Bock auf Bett hätten. Sind nicht die Abende, die nichts zu versprechen scheinen, letztendlich die besten? Dann, wenn man keine Erwartungen hat? Manchmal muss man sich zu seinem Glück zwingen – und zwar durch die eigene Verbindlichkeit.

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Tucky

nein ich muss garnichts. Mich weder zu meinem Glück zwingen noch muss ich auf irgendjemands gefühle achten es ist mein Leben also ICH fokussiert fertig. Wer damit ein problem hat soll sich distanzieren ich habe davor mein leben lang auf die bedürfnisse anderer geachtet mich zurück genommen um anderen zu gefallen sachen bewusst unterdrückt etc aber damit ist schluss.

Last edited 5 months ago by Tucky
Petra

Das Problem ist, wenn DU nicht auf die Gefühle anderer achten willst, wird irgendwann auch niemand mehr auf deine Gefühle achten und die Anderen werden sich von Dir distanzieren. Und du hast auch Null Anspruch darauf, dich dann darüber zu beschweren, weils dir damit dann irgendwann schlecht geht, dass die Leute sich einen Dreck um dein Befinden scheren.

In welcher Therapie- oder Findungsphase auch immer du gerade steckst, ich wünsche Dir das Beste dafür, dass du noch eine gesunde Balance findest zwischen “Immer nur die Anderen” und “Immer nur Ich”.

Last edited 5 months ago by Petra
claudia

Jeder Mensch sollte bei seinen/ihren Handlungen versuchen sich zuvor in die andere Person zu versetzen und herausfinden, wie er oder sie sich fühlt bei dem Verhalten. Das ist in meinen Augen respektvoll. Die Zeit eines JEDEN Menschen ist gleich wertvoll.

Sigrid

Wenn sich jede Person erst einmal überlegen würde, ob sie wirklich gerne etwas mit der anderen unternehmen will und dann erst etwas ausmacht, wäre schon mal viel gewonnen.
Dann muss man später keine inneren Widerstände überwinden und sorgt organisatorisch dafür, dass eine Verabredung auch stattfinden kann, weil man sich ja drauf freut.
Leider tut das nicht jeder und das ist doof!
Ich finde aber auch, dass man selber aufgerufen ist, die andere Person aufmerksam wahrzunehmen. Hat sie weniger Interesse an einem als umgekehrt? Hat sie weniger Zeit, mehr Verantwortlichkeiten?
Wenn man den begründeten Verdacht hat, dass man der anderen Person nicht so wichtig ist, hilft eigentlich nur eine Sache. Sich zurückziehen (teilweise oder ganz – je nach Situation). Sich beschweren oder sich aufdrängen hat da gar keinen Sinn. Davon nimmt das Interesse auch nicht zu. Andere Freunde finden, neue Dates ausmachen, neue Hobbies erforschen. Das hilft!
Und eins ist ja wohl klar, wenn mir jemand 1x abgesagt hat, macht diese Person das nächste Date aus und ganz bestimmt nicht ich! Höre ich nicht wieder von der Person, weiss ich jedenfalls woran ich bin. Warum Zeit mit so jemand verschwenden?

Eugenius Peternackel

Trauriger erster Kommentar von Tucky. Ich erlebe es auch so wie die Autorin. Ich werde dennoch immer zu gemachten Terminen erscheinen und mich auch zwingen, wenn ich mal keinen Bock habe oder nicht gut drauf bin. Dass reiner Egoismus nicht glücklich macht, ist auch eine Binse. Menschen, die keine Verbindlichkeit mehr erzeugen können tun das nicht, um die andere Person abzuwerten, sondern weil sie schlicht ihr Leben immer schlechter in den Griff bekommen.
Zuviel Smartphone und Social Media machen aus uns egoistische Snowflakes und dann kommen so Kommentare wie der von Tucky. Das betrübt. Lassen Sie sich von so etwas nicht runter ziehen. Vielen Dank für ihren Artikel Frau Leitner.

Pete Mitchell

Klar, wenn ich Tucky so lese, muss ich zustimmen – jeder Mensch hat natürlich ein Recht auf Ich-fokusiert-Sein. Aber keine Rechte ohne Pflichten!! Und die Pflicht ist, eben niemanden in den Glauben zu lassen, ich hätte für etwas Interesse, oder Lust auf ein Date/Verabredung, solange die kleinste Wahrscheinlichkeit besteht, dass ich eigentlich gar keinen Bock habe darauf habe.
Ich-Bezogenheit verlangt eben, dass ich mit meiner Ich-Bezogenheit andere Menschen nicht nerve und in Mitleidenschaft ziehe, sprich deren Zeit/Geduld/Aufmerksamkeit damit verschwende.
Deshalb: Ich-fokusiert ist gut, solange man andere Menschen damit nicht verletzt.

Last edited 5 months ago by Pete Mitchell
Moka

Es fängt doch schon damit an, dass in Chats nur noch gelesen aber kaum noch geantwortet wird auf Fragen wie z. B. “Wer hat Lust mitzugehen?” oder “Welcher Termin passt euch am Besten?” … Ich persönlich finde das unmöglich und antworte immmer – auch als Absage. Ich nehme 90-95 % aller meiner Verabredungen wahr – und wenn es doch wirklich mal nicht geht, sage ich immer! ab wenigstens. Ich hasse Unzuverlässigkeit, und ja – ich zwinge mich manchmal zu Treffen und bin immer froh, meinen inneren Schweinehund überwunden zu haben weil es am Ende doch immer schön war. Leute die so sind wie hier Tucky tun mir nur leid. Irgendwann stehen diese alleine da und beschweren sich, wie ungerecht doch alles und jeder ist. Ich kenne auch so Leute, die sagen ach lass uns mal was zusammen machen! Dann sage ich immer: “Gerne. Melde dich bei mir und dann machen wir was aus.” Von 80 % höre ich dann nix mehr, auf die anderen 20 % ist Verlass und mit denen verabrede ich mich dann auch gern. Ich stand schon mit Helm am Fahrrad und dann wurde auf mein Nachfragen hin mir doch abgesagt. Bei dieser Person galt ab da o. g. Satz…und die 80 %. Und ich bin sicher, dass mancher vielleicht auch lieber auf der Couch einen Nap gehalten hätte und sich dann doch mit mir getroffen hat. Das macht es doch insgesamt sehr wertvoll, finde ich 🙂

Pab

Das mit dem “Lass uns mal was machen” kenne ich von mir. Und eben weil ich auch lernen musste, dass ich selbst dann eben nicht immer alles im Kopf habe und es mit der Zeit auch nicht angenehmer wird, nochmal nachzufragen, hab ich mir inzwischen angewöhnt, nach positiver Reaktion direkt einen Termin vorzuschlagen. Dann hat man was handfestes und kein “Irgendwann mal oder auch nicht” und kann damit auch viel mehr anfangen.

Last edited 5 months ago by Pab
MeetByChance.ch

@ Linda Leitner: Danke für den Artikel.
@ Linda Leitner + Alle: KEINE ANGST, auch wenn zunehmend mehr Mitmenschen Zuverlässigkeit flexibel interpretieren, wird es auch ganz bestimmt weiterhin Menschen von unserer Sorte geben, die Zuverlässigkeit als unabdingbare Charaktereigenschaft verinnerlichen. Und eigentlich ist es ja von Vorteil, wenn sich jemand schon vor einem ersten potenziellen Date als unzuverlässig erweist. Zeit gespart.
@ Romina Reginold (zitiert im Artikel): Danke auch Ihnen. Allerdings verstehe ich nicht, weshalb “Individualismus, Grenzen setzen und eigene Bedürfnisse spüren” im Widerspruch zu Zuverlässigkeit steht.
@ Alle: Es geht auch ohne Dates. Sich zufällig treffen, ist romantischer.

InHer50ies

Endlich sagt mal jemand was zu diesem so nervigen Thema. Es ist doch unfair, wenn man sich jemanden warm hält für alle Fälle und wenn dann was „Besseres“ aufpoppt, der Person absagt mit einer fadenscheinigen Begründung. Ich erlebe das weniger in meinem Freundeskreis, aber in jenem von meinem Teenagersohn ist es leider gang und gäbe. Wir haben unserem Sohn „alten“ Werte wie zBVerlässlichkeit mit auf den Weg gegeben, aber leider ist man heute offenbar oft nur noch der Depp mit dieser Einstellung. Wenn man was organisiert, sagen erst alle zu, aber dann kommen doch alle mit provisorischen „Vielleichts“ und am Schluss findet nichts statt, weil sich keiner festlegen will. Eine traurige Entwicklung… Leute, habt ihr echt so viel Angst, was zu verpassen oder ev. mal gar nichts los zu haben? Manchmal wären klare Worte (direkte Absage) zwar hart, aber letztendlich fairer, weil man weiss woran man ist.