
Wie ich herausfand, dass ich ein Perfektionist bin
Unser Autor dachte lange, er sei faul. Bis er merkte: Dahinter verbirgt sich die Angst, Fehler zu machen. Tatsächlich ist er Perfektionist.
- Von: Dennis Frasch
- Bild: Stocksy
Mein Schwiegervater beäugt mein Werk kritisch. Oh je. Habe ich etwas falsch gemacht? Gerade schichtete ich in seinem Garten Ziegelsteine in einer U-Form. Auf die vierte Schicht legte ich eine Betonplatte, auf der die Pizza brutzeln soll, darauf drei weitere Ziegellagen und eine zweite Platte, die den Ofen nach oben abschliesst. Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat. Doch als der Pizzaofen dann vor mir stand, sah er gar nicht so übel aus. Ich war stolz – bis der Vater meiner Partnerin kam. De facto ist er nicht mein Schwiegervater, denn meine Partnerin und ich sind nicht verheiratet. Aber wir sind seit einer Dekade ein Paar, weswegen das Urteil ihres Vaters für mich so schwer wiegt wie das eines Schwiegervaters.
"Du musst die Ziegel versetzt stapeln", sagt er. "Einfache Physik." Er berührt meine Konstruktion leicht mit dem Fuss, sie schwankt bedrohlich. "Und wenn du nicht in einer Explosion sterben willst, würde ich keine Betonplatten verwenden", fügt er hinzu, als wäre allgemein bekannt, dass Beton im Feuer explodieren kann.
Ich erröte. Mein innerer Kritiker holt schon zum Rundumschlag aus, um mich davon zu überzeugen, ich sei ein Nichtsnutz. Glaubte ich ihm, würde ich den wackligen Ofen wieder abbauen und Ziegel für Ziegel in der Garage verstauen, um sie dort nie wieder herauszuholen. Neu anfangen, einen zweiten, gar einen dritten Versuch starten? Damit im Garten zwar am Ende kein Pizzaofen wie aus dem Katalog steht, aber zumindest einer, der halbwegs funktioniert? Geht bei mir nicht. In mir steckt dieser unbezwingbare Wunsch, dass alles, was ich tue, zu einem perfekten Resultat führen muss. Gelingt mir das nicht, schmeisse ich lieber hin, als nochmal zu scheitern – oder fange gar nicht erst an. Zu peinlich ist mir ein halb-gutes Ergebnis.
"Perfektionismus gibt man im Bewerbungsgespräch an, wenn man nach einer Schwäche gefragt wird"
Bis vor kurzem belächelte ich Menschen, die sich selbst Perfektionist:innen nannten. Perfektionismus ist eines dieser Attribute, die man im Bewerbungsgespräch stammelt, wenn man nach einer Schwäche gefragt wird, aber keine echte Schwäche von sich preisgeben will. Dann sagt man so etwas wie: "Ich höre nicht auf, bis alles perfekt ist", und macht dabei ein Gesicht, als wäre das wirklich eine grosse Bürde im Leben.
Aber Hochmut kommt vor dem Fall – oder vor der E-Mail, die in meinem Postfach landete. "Perfektionist:in gesucht", stand in der Betreffzeile. Die Redaktorin einer Zeitschrift suchte nach einer Person, die über den eigenen Perfektionismus schreibt. "Nichts für mich", sagte ich laut in der WG-Küche. Meine Mitbewohnerin sah mich an, als hätte ich behauptet, die Erde sei flach. "Ich kenne niemanden, der so perfektionistisch ist wie du!", sagte sie.
Erst protestierte ich. Zugegeben: Ich bin ehrgeizig. War ich schon immer. Jedes Hobby beginne ich mit dem klaren Ziel, der Beste darin zu werden. Sei es beim Basketball oder beim Gitarrenspiel. Aber dieser Ehrgeiz wird von einer übermächtigen Faulheit überschattet. Ich kann nicht einmal "Three Little Birds" von Bob Marley auf der Gitarre spielen, ein Song, den eigentlich jede:r kann, weil er nur aus drei Akkorden besteht.
Als ich das meiner Mitbewohnerin erklärte, betrachtete sie mich weiter skeptisch. Sie meinte, dass ich die Küche fast nie putze, aber wenn, dann so gründlich, bis sie Katalog-Bling-Charakter hat.
Ihre Worte brachten mich zum Nachdenken. Es stimmte schon: Ich kann es kaum ertragen, wenn Dinge, die ich leiste, in meinen Augen nicht perfekt sind. Ich bin freischaffender Journalist. Wie viele Artikel-Ideen biete ich den Redaktionen gar nicht erst an, weil ich sie für nicht gut genug halte? Und wie oft sitze ich vor einem leeren Word-Dokument, der Cursor blinkt unerbittlich, die Deadline hängt wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf, weil ich jeden Satz, den ich schreibe, hastig wieder lösche? Je länger ich über die Worte meiner Mitbewohnerin nachdachte, desto mehr sickerte es in mein Bewusstsein: Verdammt! Sie hat recht! Es war, als hätte mein Gehirn ein Update installiert. Neues Feature: Selbstreflexion. Erste Erkenntnis: Ich bin ein Perfektionist.
"Ich beschloss, meinem Perfektionismus den Kampf anzusagen, indem ich mir etwas vornahm, in dem ich schlecht bin"
Wie hatte mir das entgehen können? Wie hatte ich nicht merken können, dass ich nicht faul bin – sondern sich hinter meiner Faulheit eine riesige Angst verbirgt, Fehler zu machen? Dass mich diese Angst überallhin verfolgt, wie ein lästiger Strassenköter? Sie bellt mich an, wenn ich für meine Freunde koche, sie fletscht die Zähne, wenn ich beim Basketball den Korb nicht treffe, sie schüchtert mich ein, wenn ich für meine Freundin ein Geschenk zum Geburtstag aussuchen will.
Ich beschloss, meinem Perfektionismus den Kampf anzusagen. Und zwar, indem ich mir etwas vornahm, in dem ich schlecht bin, etwas zu bauen zum Beispiel – so kam es zu dem wackligen Pizzaofen, den mein Schwiegervater so kritisch beäugt hatte. Gleichzeitig beschloss ich, mehr über meinen Perfektionismus zu lernen; ich begann, zu recherchieren.
Gegoogelt, Telefon gezückt, Nummer gewählt. Als Christine Altstötter-Gleich abhebt, erzähle ich ihr alles. Mit sanfter Stimme entgegnet sie: "Perfektionist:innen sind das Fundament unserer Gesellschaft." Altstötter-Gleich ist Psychologin an der Universität Koblenz-Landau und hat drei Bücher über Perfektionismus geschrieben. Die Gesellschaft habe den Perfektionist:innen viel zu verdanken: sei es medizinischer, künstlerischer oder wissenschaftlicher Fortschritt, sagt die Forscherin. "Oder würden Sie in ein Flugzeug steigen, wenn Sie sich nicht hundertprozentig darauf verlassen könnten, dass alle Schrauben richtig angezogen sind?"
Aber warum habe ich dann noch nichts Grossartiges geleistet, sondern schrecke davor zurück, überhaupt einen ersten Schritt für etwas potenziell Grossartiges zu tun? "Die Herausforderung, etwas mit Bravour zu meistern, ist für Perfektionist:innen oft so gross, dass sie Dinge gar nicht erst anfangen", sagt Altstötter-Gleich. Perfektionist:innen müssen lernen, Fehler zuzulassen.
Langsam dämmert mir, dass Perfektion nur dann möglich ist, wenn ich verstehe, dass nichts fehlerlos entstehen kann. Klingt logisch. Hat Hemingway nicht schon über seine Texte gesagt: The first draft of anything is shit? Der erste Entwurf ist immer Mist. Erst durch ständiges Feilen und Schleifen wird etwas gut. Bei meinen Texten ist es jedoch immer dasselbe: Aus Angst vor Fehlern prokrastiniere ich so lange, bis ich knapp vor Abgabefrist eine erste Version hinkriege.
Genau an diesem Punkt stehe man an einem Scheideweg, sagt Altstötter-Gleich. "Nicht das Streben nach Perfektion ist das Problem. Es geht darum, wie man damit umgeht, wenn man Perfektion nicht erreicht."
Sie hat mir auch erklärt, dass es zwei Arten von Perfektionist:innen gibt: Funktionale und dysfunktionale. Die erste Sorte würde sich freuen, die Deadline doch noch eingehalten zu haben und sich für das nächste Mal vornehmen, bei der ersten Version etwas weniger streng mit sich zu sein. Dysfunktionale Perfektionist:innen hingegen seien nicht imstande, ihre Erfolge zu sehen. Selbst wenn die Redaktion sagt, dass der Text gut ist – sie glauben es nicht. "Dysfunktionale Perfektionist:innen können aus ihren Erfolgen nie dieselbe Kraft und Energie schöpfen wie funktionale", sagt Altstötter-Gleich. Das könne im schlimmsten Fall zu Burnout und Depressionen führen.
"Ich kann meine Erfolge nicht feiern, weil ich sie mir oft gar nicht erst erlaube"
Einige Wochen später stehe ich im Garten meiner Quasi-Schwiegereltern. Rhododendren und Lilien leuchten in den knalligsten Farben, im Gemüsebeet gedeihen Himbeeren und Tomaten. Ich streife durch den hinteren Teil des Gartens, einen eingezäunten Bereich, den uns die Schwiegereltern überlassen haben. Die 200 Quadratmeter Erde sind so etwas wie unser Schrebergarten geworden. Ein kleines Paradies.
Noch vor zwei Jahren wucherte hier Unkraut, Kastanien- und Walnussbäume verschlangen das Licht. Bis meine Freundin die Erkenntnis hatte, dass wir uns wohl nie ein eigenes Haus mit Garten werden leisten können. Sie führte mich durch das Gestrüpp und sprach von all den Möglichkeiten, die sich uns boten. Gemüsebeete, Blumenwiesen, eine Feuerstelle: Sie sagte, ich müsse mir das wie eine leere Leinwand vorstellen, die wir mit unseren Ideen füllen könnten. Sie begann, Unkraut zu jäten und Äste zu beschneiden. Obwohl sie keine Ahnung vom Gärtnern hatte.
Mir gefiel ihr Vorschlag. Ich wollte mich um die Feuerstelle kümmern, schaute Youtube-Tutorials, berechnete Durchmesser, kalkulierte den Bedarf an Feuersteinen und Holz für eine Pergola. Geplant habe ich viel – getan habe ich nichts. Die Ansprüche an mich selbst waren zu hoch, die Angst vor dem Scheitern zu erdrückend. Ich fühlte mich wie ein Versager und beneidete meine Freundin um ihre Leichtigkeit.
Vielleicht bin ich auch ein dysfunktionaler Perfektionist. Oder einfach nur ein Feigling. Ich kann meine Erfolge nicht feiern, weil ich sie mir oft gar nicht erst erlaube. Ich stehe mir immer selbst im Weg, bin ein Gefangener meiner eigenen Angst, während das Leben um mich herum wild und unvollkommen tanzt.
Als ich in den Baumarkt fahre, um Materialien für mein Pizzaofen-Experiment zu kaufen, mit dem ich nun gegen meinen Perfektionismus antrete, denke ich darüber nach, woher er kommt. Liegt es an Social Media? An Tiktoks und Instagram-Reels, die stets nur die makellosen Ausschnitte des Lebens zeigen?
Tatsächlich belegen Studien einen Zusammenhang: Stressbedingte Erkrankungen wie Burnout oder Depressionen, von denen Perfektionist:innen besonders häufig betroffen sind, nehmen seit ein paar Jahren stark zu. Neue Krankheiten wie Orthorexie sind entstanden, bei denen Menschen zwanghaft darauf achten, wie gesund ihre Ernährung ist.
Ich schlendere ziellos durch die riesigen Hallen des Baumarkts, vorbei an Dampfbremsfolien und Zementsäcken. Schliesslich finde ich mich in einem Gang mit Ziegelsteinen wieder. Ich habe keine Ahnung, welche ich benötige. Normalerweise hätte ich stundenlang recherchiert, wie damals, als ich die Feuerstelle bauen wollte. Welche Eigenschaften sind für einen Pizzaofen wichtig? Welche Ziegelsteine haben das beste Preis-Leistungs-Verhältnis? Welche sind am umweltfreundlichsten?
Social Media kann nichts für meinen Perfektionismus. Der war schon vorhanden, überlege ich jetzt, als ich sieben Jahre alt war. Da war ich gerade in der zweiten Klasse und musste meine ersten benoteten Tests in der Schule schreiben. Alles unter der Bestnote war nicht gut genug. Ich schaffte es, in jedem Test eine Sechs zu bekommen. Bis zur ersten Prüfung in der vierten Klasse. Biologie. Wir mussten unter anderem die Bestandteile eines Apfels benennen. Blütenrest, Fruchtfleisch, Kerngehäuse. Ich wusste es nicht. Note: 4.5. Wenn ich daran denke, spüre ich die Scham und Enttäuschung noch heute.
"Vielleicht vermeide ich heute Fehler, weil mein Vater sie nicht akzeptieren und ich sie meiner Mutter nicht antun wollte"
Christine Altstötter-Gleich sagt, Perfektionismus entstehe oft in der Kindheit. Kinder von Eltern mit zu hohen Ansprüchen können zu Perfektionist:innen werden. Oder Kinder, die emotional vernachlässigt oder misshandelt wurden. Diese würden eine Art Schutzmauer der Perfektion um sich herum aufbauen. Sie räumen ihr Zimmer immer auf, versuchen, gute Noten zu bekommen und nie in Schwierigkeiten zu geraten. Umgekehrt können auch Kinder, die in jungen Jahren grosse Verantwortung in der Familie übernehmen müssen, zum Beispiel durch die Pflege eines kranken Elternteils, perfektionistische Züge entwickeln. "Der Druck, in diesen Situationen alles richtig machen zu müssen, kann sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen", sagt Altstötter-Gleich.
Mein Vater wollte, dass ich Staatsanwalt oder Herzchirurg werde, alles andere war nicht gut genug. Er starb, als ich neun war. Meine Mutter wurde zur alleinerziehenden Witwe. Ich habe also zwei mögliche Gründe, warum ich ein Perfektionist geworden bin: Vielleicht vermeide ich heute Fehler, weil mein Vater sie nicht akzeptieren und ich sie später meiner Mutter nicht antun wollte.
Ich kaufe 28 Ziegelsteine der Marke "Fuego" und zwei Betonplatten, fahre zu meinen Schwiegereltern und erstelle die erste Version meines Ofens. Als mein Schwiegervater mich kritisiert, spüre ich die übliche Scham in mir aufkommen. Doch ich schaffe es, sie nicht zuzulassen. Stattdessen stellen sich die Worte von Christine Altstötter-Gleich wie ein Schutzschild vor meinen inneren Kritiker. "Das Streben nach Perfektion ist nicht das Problem", wiederhole ich in meinem Kopf, "ich muss nur lernen: Ich darf Fehler machen!" Und mit dieser Haltung gelingt es mir dann tatsächlich: Ich baue einen zumindest halbwegs stabilen Pizzaofen. Er ist nicht perfekt. Aber er ist gut genug.