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Wie ist es eigentlich, jedes Jahr sieben Monate zu wandern?

Wie ist es eigentlich, jedes Jahr sieben Monate zu wandern?

Am Anfang stand ein Wandertrip in Kalifornien – mittlerweile ist Christine Thürmer anderthalb Mal um die Erde gewandert. Hier erzählt sie, wie es dazu kam.

Es war ein Urlaub im Yosemite-Nationalpark, der mein Leben veränderte. Damals verdiente ich in der Unternehmenssanierung gutes Geld und gönnte mir einen Wandertrip in Kalifornien. Ich sass vor meinem teuren, neuen Zelt, um mich herum Burger grillende amerikanische Familien, als kurz vor Sonnenuntergang ein paar junge Wanderer auf dem Platz auftauchten.

Sie trugen nur eine Art Turnbeutel auf dem Rücken, waren völlig verdreckt. Sie spannten ein paar Planen und rollten Isomatten auf dem Waldboden aus. Es waren Thru-Hiker, Menschen, die extrem lange Distanzen am Stück wandern. Sie erzählten, sie seien auf dem Weg von Mexiko nach Kanada. Einmal durch die gesamten USA – das sprengte meine Vorstellungskraft. Sie strahlten Freiheit aus. Ich war angefixt, dachte: Das will ich auch.

Zurück zuhause verlor ich meinen Job. Dann starb ein enger Freund mit Mitte vierzig an den Folgen eines Schlaganfalls. Ich wusste: Jetzt ist die Zeit, etwas zu wagen. Ein halbes Jahr später sass ich im Flieger nach San Diego. Ich startete an der mexikanischen Grenze und wanderte täglich 30 bis 35 Kilometer. Fünf Monate später kam ich in Kanada an. Die Route heisst Pacific Crest Trail, sie ist 4277 Kilometer lang. Sie war der Anfang von allem.

Heute ist Wandern mein Leben. Seit zwanzig Jahren bin ich jedes Jahr etwa sieben Monate unterwegs. Den Rest der Zeit verbringe ich in einer kleinen Wohnung in Berlin-Marzahn, am liebsten im Bett. Ausser einem Schreibtisch besitze ich keine Möbel.

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"Mittlerweile bin ich alle Langstreckenwanderwege der Welt gegangen"

Ich schlafe auf einer Matratze auf Europaletten. Ich habe mein Geld, das ich als Managerin verdient habe, gut angelegt, lebe von Ersparnissen und dem, was ich durch Vorträge und Bücher einnehme. Mittlerweile bin ich alle Langstreckenwanderwege der Welt gegangen. 65'000 Kilometer, eineinhalbmal um die Erde. Zuletzt war ich in Taiwan, Südkorea, Japan und Australien.

Natürlich gibt es Probleme: Der Tokai-Naturweg zum Beispiel, der Tokio und Osaka verbindet, war die Hölle. Japan ist steil und bewaldet, wenn der Taifun über den Berg fegt, ist alles weg – der Humus, der Hang, der Weg. Man hangelt sich den Berg hoch, überall liegen umgefallene Bäume, über die man klettern muss. Das ist gefährlich, weil es so steil ist, dass man leicht wegrutscht. Da oben eilt niemand zur Hilfe. Dazu kommen Hitze und Luftfeuchtigkeit, ich bin zwei Monate in tropfnassen Klamotten herumgelaufen.

Ob man einen Trail meistert, entscheidet sich im Kopf. Wer losläuft, um sich selbst zu finden, ist verloren. Man muss mit sich selbst klarkommen. Es gibt Austausch mit denen, die ebenfalls wandern – wir nennen das die «trail family» –, aber alle laufen am Ende für sich allein. Die Freiheit, die ich dabei spüre, ist unbeschreiblich. Ich komme in einen Flow, wie ihn sonst vielleicht Kinder und Künstler erleben.

Danach fällt es schwer, ins alte Leben zurückzukehren. Ich nenne es die «Senkung der Glücksschwelle». Unterwegs schlafe ich auf der Isomatte, wasche mich in Bächen. Ich bin verkrustet, ich rieche. Wenn ich an meinem wöchentlichen Ruhetag im Hotel unter der warmen Dusche stehe, könnte ich schreien vor Glück. Ich würde mich nicht als sportlich bezeichnen: Ich habe Plattfüsse, X-Beine und ein paar Kilo Übergewicht. Aber ob das Spiegelbild Hängebusen, Cellulite oder Fettpolster zeigt, ist am Ende einer Wanderung egal. Das Gefühl ist: was für ein Wahnsinnskörper.

Christine Thürmer (57) gilt als meistgewanderte Frau der Welt
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