
Wie ist es eigentlich mit 43 zu erfahren, dass man hochbegabt ist?
Eine Depression führte Anna Campagna zum IQ-Test. Das Ergebnis: über 130. Was bedeutet das Leben mit einer Hochbegabung? Was die Lehrerin durch ihre späte Diagnose über sich selbst gelernt hat, erzählt sie hier.
- Von: Samantha Taylor
- Bild: Stocksy
«Wie viele spät erkannte Hochbegabte ging ich zum IQ-Test, weil ich in einer Krise steckte. Ich hatte eine Depression. Mein Psychiater bat mich, eine emotionale Biografie mit relevanten Stationen meines Lebens zu verfassen. Beim Schreiben stellte ich fest, dass ich schon mein Leben lang hadere und suche, dass ich immer Herausforderungen brauche.
In mir steckt das unersättliche Bedürfnis nach Neuem, nach Stimulierendem. Plötzlich dachte ich: Vielleicht solltest du mal einen IQ-Test machen. Als ich zwei Wochen später den Brief mit dem Ergebnis öffnete, war ich schockiert: IQ über 130 stand da.
Was mache ich mit dem Ergebnis?
Bis heute finde ich den Begriff irreführend. Er suggeriert, man sei voller Begabungen. Aber hochbegabt bedeutet lediglich, dass man über eine hohe kognitive Intelligenz verfügt. Man ist nicht automatisch ein Wunderkind. Das Resultat löste Fragen aus: Mit wem spreche ich darüber, spreche ich überhaupt darüber? Wie wäre mein Leben verlaufen, hätte ich nicht erst mit 43 davon erfahren? Was mache ich mit dem Ergebnis?
Muss ich ihm gerecht werden und etwas Besonderes leisten? Bis zum Test hatte ich mich kaum mit Hochbegabung beschäftigt, und wenn, dann in Stereotypen. Hoher IQ gleich männlich, Informatiker, kauzig, schwierig im sozialen Umgang.
"Unter Hochbegabten gibt es – wie unter allen Menschen – eine grosse Vielfalt. Die meisten entsprechen nicht dem Klischee"
Heute weiss ich: Unter Hochbegabten gibt es – wie unter allen Menschen – eine grosse Vielfalt. Die meisten entsprechen nicht dem Klischee. Ich selbst bin in keinem Bereich eine Ausnahmeerscheinung. Allerdings habe ich eine sehr schnelle Auffassungsgabe. Ich verstehe rasch, wie etwas funktioniert, bin in relativ kurzer Zeit und mit wenig Aufwand gut darin. Darum verfolge ich ständig kleinere und grössere Projekte. Derzeit probiere ich gestalterische Ausdrucksformen aus, Linoleumdruck, Silberschmieden, Töpfern, Zeichnen, Nähen.
Nach dem Test wirkte ich mit an einem Buch zum Thema Hochbegabung, absolvierte einen Zertifikatsstudiengang und renovierte eine Hütte. Davor studierte ich nebenberuf lich Philosophie. Zudem bewirtschafte ich einen alten Weinberg. Blicke ich heute auf mein Leben zurück, merke ich, dass ich einen Anpassungsdruck spürte, das Gefühl hatte, mich verlangsamen zu müssen.
Als würde ich in einer Gruppe wandern, in der alle gemütlich spazieren, und ich muss als Einzige meinen Schritt verkürzen, um in der Gruppe zu bleiben. Das ist anstrengend. Auch heute gibt es warnende Stimmen, die mir sagen: Du machst zu viel, übernimmst dich. Dank meinem Testergebnis kann ich mit Überzeugung entgegnen: Ich brauche das.
Hochbegabte Kinder erkennen und abholen
Ich hätte mein Leben wohl nicht anders gelebt, wenn ich früher von meinem IQ erfahren hätte. Aber ich hätte mehr Verständnis gehabt, für mich, aber auch für meine Umwelt. Als Teenager schrieb ich in mein Tagebuch: «Was ist mit meinem Kopf los?!?!» Heute verstehe ich, warum ich Mühe habe, abzuschalten. Ich verstehe, warum mir andere manchmal langsam vorkommen.
Und ich weiss: Beides ist okay. Das Wissen versuche ich weiterzugeben. An der Schule, an der ich arbeite, habe ich ein Begabtenförderkonzept aufgebaut. Ich möchte, dass man hochbegabte Kinder erkennt und abholt. Nicht, dass sie erst mit vierzig aufgrund einer Depression erkennen, was mit ihnen los ist.» – Anna Campagna
Anna Campagna (46) ist stellvertretende Schulleiterin und Lehrerin an einem Gymnasium. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in Stuttgart
Das Problem, hochbegabt zu sein, haben etwa 98 % der Bevölkerung. Es ist überhaupt das größte Problem eines jeden in der Gesellschaft.
Ein hoher IQ bedeutet eine hohe kognitive Intelligenz? Das wäre mir neu, auch wenn ich mir vorstellen kann, dass beides korreliert. Gibt es Quellen für die Behauptung?
Nur ca. 2% der Bevölkerung haben einen IQ zwischen 130 und 160, der mit einem standardisierten und verlässlichen Test gemessen wurde. Ein Massenphänomen ist die Hochbegabung daher nicht. Allerdings tendieren mittlerweile viele Eltern dazu, psychosoziale Anpassungsprobleme ihrer Kinder in Schule und Familie als Ausdruck einer Hochbegabung zu interpretieren, obwohl die Ursache dafür an ganz anderer Stelle zu suchen ist.
Mir ging es ähnlich, auf Grund von Depressionen bin ich mit 41 Jahren im Zuge von verschiedenen Tests auch auf meinen IQ getestet worden. Ich wusste gar nicht, dass es ein IQ Tests war und das Ergebniss von 137 hat mich total geschockt, weil mir in der Schule immer gesagt wurde, dass ich dumm sei und ich es eh nicht zu etwas bringen werde. Das lag daran, weil ich mich nicht konzentrieren konnte, alles war so langweilig für mich und der Frontalunterricht mit stupieden Klausuren hat durchgegehend für schlechte Noten gesorgt. Ein hoher IQ ist bei jeder Person anders und hat nichts damit zu tun, dass man besser ist als andere, sondern man verarbeitet Informationen anders, bei mir zum Teil schneller als bei anderen, zum Teil langsamer weil es auch darauf ankommt wie die Information übermittelt wird und die viel Details sie hat, ich stand mir selbst oft im Wege da ich es oft ganz genau wissen uns verstehen will, aber bei Frontalunterricht meist nur an der Oberfläche gekratzt wird. Ich wünschte man hätte es früh erkannt und meine stärken gefördert, oder mich auf eine Schule geschickt die eine andere Unterrichtsform hat. Durch meinen ständigen drang alles verstehen zu wollen und Probleme selber lösen, habe ich bereits in mehr als 10 Unterschiedlichen Berufen gearbeitet und mir fast alles selber beigebracht. Jetzt bin ich 45 und habe meine Depression endlich in den Griff bekommen. Ich verstehe nun wie beim Geist funktioniert, welche Art des Lernens bei mir funktioniert und auch warum andere Arten des Lernens bei mir nicht funktionieren. Ich habe kaum mit wem darüber geredet weil es in unserer Gesellschaft stigmatisiert wird oder wenn man es erzählt dann von einem Unerreichbares erwartet wird. Menschen mit eine hohen IQ können trotzdem in Stereotypischen bereichen sehr schlecht sein aber sind dafür ein anderen bereichen evtl. sehr gut. Deswegen spricht man auch von Neurodiversität, weil das Gehirn einfach anders funktioniert und das ist weder schlechter noch besser sondern einfach anders.