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Wie ist es eigentlich, neben Landminen zu leben?

Zeitgeist

Wie ist es eigentlich, neben Landminen zu leben?

Für Estelia gehören Bomben und Ermordungen zum Alltag. Ihr Heimatdorf in den kolumbianischen Bergen liegt auf einer Drogenschmuggel-Route. Als Indigene ist sie der Gewalt besonders ausgesetzt. Doch diesen Zustand will sie nicht einfach hinnehmen.

Ich wohne am Ortseingang von Media Naranja, einem Bergdorf in der kolumbianischen Region Cauca. Es ist ein kleiner Ort, nur etwa fünfzig Häuser stehen hier. Heute malt ein Künstler gegenüber von der Kirche ein Wandgemälde. Alle, die ins Tal hinunter fahren, werden es sehen: Es zeigt Argenis Yatacué und ihren Ehemann. Auch die beiden hatten im Dorf gelebt, bis sie im Tal unten gezielt ermordet wurden.

Es geschah an einem Mittwochmorgen, ich erinnere mich noch genau: Ich stand früh auf, um zur Arbeit zu gehen. Einer meiner Söhne kam zu mir und erzählte von den Schüssen. Wir umarmten uns und fingen an zu weinen. Ich spürte eine solche Leere in meinem Herzen. Es war schrecklich. Doch solche Situationen gehören zu meinem Alltag, zu unserem Alltag.

Für uns Indigene gibt es hier keine Sicherheit, wir sind ständig mit Gewalt konfrontiert. Durch den Cauca verläuft seit Jahren eine Hauptschmuggelroute für Drogen, unser angestammtes Land ist umkämpft. Vor den Wahlen ist es jeweils besonders schlimm. Die bewaffneten Gruppen bekämpfen sich gegenseitig, indem sie Bomben und Minen legen. Doch es trifft hauptsächlich uns.

Erst kürzlich hat eine Explosion das Dach meines Hauses zerstört. Die Bombe ging mitten auf der Strasse hoch, da, wo die Kinder auf ihrem Weg zur Schule vorbeifahren. Auf einem Feld gleich gegenüber vom Haus und auch beim Friedhof haben wir kürzlich zwei Minen gefunden. Die haben wir selbst ausgegraben.

Was wir in solchen Momenten tun? Die Polizei können wir nicht rufen, dadurch würde sich die Situation nur verschlimmern. Wir würden noch stärker zwischen die Fronten geraten.

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«Als indigenes Volk müssen wir standhaft bleiben»

Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist, selbst zu den bewaffneten Gruppierungen wie der FARC oder der ELN zu gehen und sie zu bitten, die Minen wieder zu entfernen. Manchmal hilft es. Meistens nicht.

Viele von uns erhalten Todesdrohungen, weil wir ihnen im Weg sind. Wollen die bewaffneten Gruppierungen jemanden von uns töten, bitten wir sie, zuerst das Gespräch mit der Familie und der Gemeinschaft zu suchen. Sie hatten auch schon eingewilligt, keine Menschen mehr umzubringen. Aber sie hielten sich nicht daran.

Dabei ist doch klar: Man löst Probleme niemals, indem man Menschen tötet. Niemals. Doch die meisten bewaffneten Gruppierungen verstehen das nicht – und dazu zähle ich auch die Polizei. Auch sie bringen hier Menschen um und sagen nachher, die Person sei in einem Kampf gefallen. Dabei hatte es gar nie einen Kampf gegeben.

Wenn es keine Sicherheit gibt, muss man sich selbst schützen. Wir tun das nicht mit Gewalt, sondern mit unserem Verstand, unseren Worten und unseren Stöcken. Wir tragen die Stöcke immer bei uns, nicht zum Schlagen, sondern als spirituellen Schutz.

Jeder der Holzstöcke ist handgemacht. Das hat auch eine symbolische Bedeutung: Als indigenes Volk müssen wir standhaft bleiben. Wir sind ständig auf Whatsapp miteinander in Kontakt und organisieren uns auch politisch. So versuchen wir, für unsere Rechte und unser Leben einzustehen.

 

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«Viele Junge schliessen sich den bewaffneten Gruppierungen an, teilweise sind sie noch nicht einmal 15 Jahre alt»

Argenis, die Frau, die im Tal unten getötet wurde, war nicht nur eine Lehrerin, sondern auch eine unserer Anführerinnen. Sie war sehr akribisch und hatte keine Angst, die Dinge beim Namen zu nennen. Viele Junge schliessen sich den bewaffneten Gruppierungen an, teilweise sind sie noch nicht einmal 15 Jahre alt.

Für Kinder gibt es hier nichts zu tun, oft werden sie von den Eltern geschlagen oder allein zuhause gelassen.Bei meinen Kindern ist es anders. Ich habe darauf geachtet, eine sehr enge Bindung zu ihnen zu haben. Ich habe sie zur Schule begleitet, viel mit ihnen gesprochen.

So konnte ich sie davor bewahren, diesen Weg einzuschlagen – obwohl auch wir Probleme in der Familie hatten. Ihr Vater hat uns verlassen. Es gibt viele alleinerziehende Mütter hier, viele Paare geben auf und trennen sich. Doch nicht Argenis und ihr Ehemann. Sie blieben zusammen. Bis zu ihrem Tod.

Estelia (52), Kolumbien

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