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Disability Pride Month: Bin ich behindert genug?

Zeitgeist

Disability Pride Month: Bin ich behindert genug?

In der Schweiz leben 15 000 Personen mit Cerebralparese. Unsere Autorin Sonya Jamil ist eine von ihnen und ihr fehlt eigentlich nichts – ausser eine Community.

Behindert, behinderter, am behindertsten – eine vermeintliche Rangliste, bei der es meiner Meinung nach keine:n Gewinner:in gibt – egal, wer auf dem ersten Platz landet. Behindert sein ist kein Wettbewerb, und doch frage ich mich: Bin ich behindert genug, um mich darüber beschweren zu dürfen? Schliesslich meistere ich doch mein Leben zu 99 Prozent selbstständig, aber dieses eine verflixte Prozent hinkt in der Aussendung der Signale zwischen Kopf und Fuss einfach hinterher.

«Super drunk»

Ich falle mit meiner Behinderung zwischen Stuhl und Bank. Und das meine ich im übertragenen und eigentlichen Wortsinn: Letztens bin ich in einem Festzelt in hohem Bogen von einer kaputten Bank gefallen, wobei «weggespickt» der treffendere Ausdruck wäre. Der genervte Organisator der Veranstaltung dachte daraufhin, ich würde aufgrund des Vorfalls hinken, und liess sich partout nicht vom Gegenteil überzeugen. Oder als ich bei einer Party vorsichtig, aber stocknüchtern eine Wendeltreppe runterstieg und mich daraufhin ein Brite mit den Worten «Oh my god, you’re super drunk, I can’t believe you made it», breitgrinsend abklatschte.

Ganz zu schweigen davon, als letzten Winter ein Senior auf mich zukam, um mir mitzuteilen, wie schlecht ich laufe. Das sei aber überhaupt kein Problem, denn er hätte auch Probleme mit dem Laufen. Da hätten wir etwas gemeinsam. Meine Empathie für die Gebrechen wildfremder Menschen hält sich in solchen Situationen in Grenzen. Dennoch: Wie schön zu wissen, dass ich mit Ende 20 die gleiche Lebensqualität habe wie ein Rentner.

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«Behindert sein ist kein Wettbewerb»

Solche Vorfälle empfinde ich als verletzend. Dennoch traue ich mich oftmals nicht, dieser Trauer, Wut und Ohnmacht Raum zu geben. Zu gross ist das schlechte Gewissen: Zum Beispiel wenn ich sehe, wie sich ein:e Rollstuhlfahrer:in mithilfe einer Rampe mühselig in den Bus manövriert und der SBB im Voraus mitteilen muss, wann die nächste Zugreise ansteht, damit die Barrierefreiheit garantiert ist. Oder wenn er oder sie darum kämpfen muss, selbständig wohnen zu dürfen.

Ich hingegen renne oder besser gesagt tripple in letzter Sekunde auf das Tram – heim, in mein eigenes, kleines Studio. Dass auch meine Selbstständigkeit hart erarbeitet ist und der Kampf irgendwo bei einem Rollator anfängt und dann bei zwei Operationen und einer Kindheit in einer Sonderschule Halt macht, sich aber mit einem Bachelor und einem Traumjob definitiv ausgezahlt hat, rechne ich mir zu wenig an. Das liegt vermutlich daran, dass ich meine Erfolge mit den scheinbar mühelosen Standards nicht eingeschränkter Twenty-Somethings vergleiche.

 

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«Ich wünsche mir eine Community, die drei Stunden mit mir durch eine Demonstration hinkt.»

Die Sonnenseiten der Inklusion

Wenn Menschen mit stärkeren Beeinträchtigungen ihren Unmut bezüglich der mangelnden Gleichstellung zu nicht behinderten Menschen laut machen, sehe ich ohne Zweifel die Dringlichkeit – nur nicht immer für mich. Ich durfte auch die Sonnenseiten der Inklusion erleben: die Möglichkeit, als behinderte Person eine Regelklasse zu besuchen, eine spannende Ausbildung zu absolvieren, ein Studium erfolgreich abzuschliessen, in vielseitigen Arbeitsfeldern gefördert und geschätzt zu werden und dabei vom engsten Umfeld nichts als Unterstützung zu erfahren. Ich sehne mich einzig nach einem Austausch mit Gleichgesinnten.

Ein Gespräch unter Gleichgesinnten

Ich wünsche mir eine Community, die drei Stunden mit mir durch eine Demonstration hinkt. Auch wenn die Chance sehr gross ist, währenddessen dramatisch über einen Kieselstein zu stolpern, da wir alle ein miserables Gleichgewicht haben. Ich will gemeinsam (die einfachste!) Kletterwand hoch, mich in Acro-Yoga versuchen oder Bergpfade entlanglaufen.

Geübte Wander:innen würden uns zwar leichtfüssig überholen, aber wenn die Anstrengung einmal hinter uns läge, hätten wir das Gefühl, wir könnten Berge versetzen. Und es wäre der beste Beweis, dass unser Körper stärker ist als wir denken und man mit ihm auch Spass haben kann, selbst wenn er uns die meiste Zeit einen Strich durch die Rechnung macht. Nach den sportlichen Strapazen gönnen wir uns eine kleine Verpflegung aus unserem leicht bepackten Rucksack, denn keine:r von uns kann schwer tragen.

Während des Essens erzähle ich meiner Gruppe, dass meine Freund:innen mit mir einen neuen Club in der Stadt besuchen wollen. Wie sind da wohl die Sitzmöglichkeiten? Und wie schaffe ich es, dass mein Körper nicht steif wie ein Brett ist, falls mich ein süsser Typ über die Tanzfläche wirbelt?

Raus mit der Sprache

Ich freue mich: Wieder einmal habe ich es geschafft, das Gespräch unauffällig in meine Lieblingsrichtung zu lenken: Männer und Dating. Als selbsternannter Liebes-Guru weiss ich da so einiges, nur nicht ob und wie ich meinem Tinder-Date sagen soll, dass ich eine Gehbehinderung habe. Meine Bilder auf der Dating-App sagen zwar tausend Worte – für das tausendundeine Wort «behindert» fehlt aber ein Video.

Meine Community könnte mir sagen, ob vor oder während des Dates der geeignete Zeitpunkt ist, mit der Sprache rauszurücken. Auch könnten sie mir einfühlsam raten, es mir nicht so zu Herzen zu nehmen, wenn sich ein Mann lieber eine sportlichere Freundin wünscht, mit der er weniger Kompromisse eingehen muss. Gleichzeitig sind meine neu gewonnenen, gleichgesinnten Freund:innen empört, wenn ich ihnen von jemandem erzähle, der sich meine Behinderung «weniger schlimm» vorgestellt hat.

 

«Bin ich mir selbst behindert genug?»

«Bin ich behindert genug?», frage ich mich. Sofort poppt die Folgefrage «behindert genug für wen?» in meinem Kopf auf. Instinktiv denke ich «für die Gesellschaft», aber auch wenn ich es ermüdend finde, Fremden zu erklären, dass ich nicht verletzt, sondern behindert bin, würden ein Rollstuhl oder andere Hilfsmittel die Aufklärungsarbeit nicht erleichtern.

Viel besser wäre es, den Blick nach innen zu richten und mich zu fragen: «Bin ich mir selbst behindert genug?» Behindert genug, um den Stolz runterzuschlucken und die Hilfe meiner Mitmenschen anzunehmen, wenn ich sie brauche, aber sie auch abzulehnen, falls eine Bordsteinkante leicht zu bewältigen ist.

Behindert genug, um realistische Ansprüche an mich selbst zu stellen und Erfolge zu feiern. Traurig und wütend darüber zu sein, wenn der Körper nicht mitspielt, es aber zu akzeptieren, ohne zu resignieren. Und schlussendlich behindert genug, um zu begreifen, dass ich mir mein Leben mit, aber auch um die Behinderung herum frei gestalten darf.

Der Disability Pride Month entstand in den 90er-Jahren in Amerika. Seither wird  er im Juli gefeiert und macht auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufmerksam.

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Lisa M.

Bei jedem Satz einfach nur: JA! Ich habe eine leicht ausgeprägte Hemiparese und einen Hydrocephalus mit Shuntversorgung und ich fühle jedes deiner geschriebenen Worte. Ich würde mich so sehr über Austausch in einer derartigen Communiy freuen.

Sonya

Danke für deinen Kommentar, liebe Lisa! Schön, dass wir uns nun austauschen können. ❤ Liebe Grüsse Sonya

Anna-Katharina W.

Danke für diesen wunderbaren Artikel! Auch mir sprichst du mit jedem einzelnen Wort aus der Seele – habe ebenfalls eine spastische Hemiparese links und auch mein Wunsch nach einer community ist groß, einfach weil mir der Austausch mit anderen Betroffen fehlt …

Deswegen nochmal von ganzem Herzen DANKE ❤️

Sonya

Vielen lieben Dank für deine netten Worte und den Support!

Lotte

Selten einen Artikel gelesen, der mir so aus der Seele spricht. Danke!

Lula

Wunderbar, sonya! Ein augöffnender Artikel. Als Mutter eines kleinen Jungen mit Gehbehinderung (Dysmelie beider Unterschenkel) stelle ich mir ebendiese Fragen für ihn, für seine Zukunft. Und ich wünschte mir sie wären eines Tages nicht mehr relevant, weil Inklusion tatsächlich gelebt würde und jeder, egal wie „behindert“, einen gleichwertigen Platz in der Gesellschaft erhält.