
Kolumne "Sandwich": Claudia Senn und Michèle Roten schreiben übers Älterwerden
Eingeklemmt zwischen Jugend und Alter: Darüber schreiben Claudia Senn und Michèle Roten in "Sandwich", der neuen Kolumne auf der letzten Seite der Printausgabe von annabelle. Wir sprachen mit ihnen über neue Freiheiten – und die Lust, Falten und Menopause richtig doof zu finden.
- Von: Helene Aecherli
- Bild: Joël Hunn
annabelle: Claudia Senn, Michèle Roten, schaffen wir gleich Fakten: Wie alt seid ihr?
Claudia Senn: Ich werde diesen Sommer 60.
Michèle Roten: Ich im Frühling 46.
Claudia: 46 – das ist ja noch jung.
Michèle: Total.
Claudia: Ich bin jung im Geiste.
Michèle: Wir sind beide totale Spring Chicken, Jungspunde.
Claudia, du warst viele Jahre Redaktorin bei annabelle, heute bist du hauptsächlich beim Magazin «Zeitlupe» tätig. Michèle, du arbeitest als Produzentin und Autorin für annabelle, bist Mitinhaberin dreier Secondhand-Läden und warst einst «Miss Universum»-Kolumnistin im Magazin des «Tages-Anzeigers». Nun bespielt ihr abwechslungsweise «Sandwich», die neue annabelle-Kolumne übers Älterwerden. Was hat euch dazu bewogen?
Michèle: Ich wollte endlich den Schritt vollziehen von Miss Universum zur … Miss Midlife-Crisis (lacht). Aber echt, ich freue mich, noch einmal in eine Kolumne einzutauchen, ehrlich zu sein, auch mal unpopuläre Sachen sagen zu können. Ich will einen Einblick geben, wie es ist als nicht mehr ganz so junge Frau in dieser Welt.
Claudia: Ich habe immer wieder über den Umgang mit meinen Schicksalsschlägen geschrieben und gemerkt, dass ich andere Menschen damit ermutigen kann. Das soll jetzt aber nicht missionarisch klingen. Ich möchte, dass die Kolumne Spass macht und älteren Frauen eine Stimme gibt. Ausserdem soll sie radikal persönlich sein. Ich lebe nach dem Prinzip: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert.
Claudia, du scheinst recht unbeschwert mit der herannahenden Sechzig umzugehen.
Claudia: Mein Trick ist, dass ich schon seit geraumer Zeit allen erzähle, ich sei sechzig. Wenn es dann tatsächlich so weit ist, habe ich mich längst daran gewöhnt. Aber klar, mit sechzig beginnt das Alter. Das lässt sich nicht wegreden.
Michèle: Aber sechzig gilt doch längst das neue Fünfzig, oder?
Claudia: Trotzdem kannst du mit sechzig nicht mehr verdrängen, dass du mehr Zeit hinter dir hast als vor dir. Im Moment beschäftigt mich das aber nicht sehr, denn in meinem Leben steht gerade kein Stein mehr auf dem anderen. Da ist mein sechzigster Geburtstag bloss ein Detail am Rande.
Bleiben wir kurz bei den Zahlen: Michèle, was bedeutet die 46 für dich?
Michèle: Nicht viel. Mit Zahlen per se hatte ich nie ein Problem. Ich muss inzwischen auch länger darüber nachdenken, wie alt ich gerade bin. Womit ich eher Probleme habe, sind die Veränderungen, die dich das Altern spüren lassen.
Du empfindest den Alterungsprozess als eine Art persönliche Kränkung?
Michèle: Irgendwie schon. Ich stecke in der Phase, in der ich mich gegen das Älterwerden wehre. An einem Tag ist alles wie immer, am nächsten erschrecke ich beim Blick in den Spiegel oder die Gelenke tun weh. Ich möchte diese Phase am liebsten hinter mir haben, wäre gerne schon siebzig. Ich glaube, im Alt-Sein werde ich brillieren, Älter-Werden hingegen find ich schwierig.
Claudia: Solche Gefühle hatte ich in deinem Alter auch. Ich weiss noch, wie ich zum ersten Mal heftige Rückenschmerzen bekam. Da dachte ich: Shit, ab jetzt geht es mit dem Körper nur noch bergab. Schönheit, Figur, Gesundheit – alles geht flöten. Ein einziges grosses Abschiednehmen von allem, was einst toll an mir war.
Claudia Senn"Man sollte im Alter schön sein, nicht in der Jugend, wenn man dumm und ahnungslos ist"
Wie bist du damit umgegangen?
Claudia: Ich akzeptierte, dass mein Leben endlich ist. Dann suchte ich mir einen gut aussehenden Physiotherapeuten und meldete mich im Gym an. Ab einem gewissen Alter braucht es gewisse Wartungsarbeiten, wenn man in Schuss bleiben will. Ich würde sogar sagen, dass ich mich noch nie so stark gefühlt habe wie jetzt – mental und physisch. Ich bin sehr stolz auf meine neuen Muskeln. Bis jetzt habe ich körperlich auch gar nicht so abgebaut wie befürchtet.
Michèle: Ich befinde mich an einem anderen Punkt. Ich habe das Gefühl, zwischen den Welten zu stehen. Nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt zu sein. Weder Fisch noch Vogel. Ich erschrecke zum Beispiel immer noch, wenn Jugendliche «grüezi» zu mir sagen.
Für Frauen soll es schwieriger sein, älter zu werden, als für Männer. Zumal viele Frauen ab einem gewissen Alter den Eindruck haben, zu verblassen, weniger sichtbar zu sein. Wie erlebt ihr das?
Michèle: Nun, im popkulturellen Narrativ unserer Gesellschaft ist es für Männer schon einfacher; es ist sexy, graue Schläfen zu bekommen, während Frauen ihre grauen Haare wegfärben. Aber mal ehrlich, Männer empfinden das Älterwerden doch auch als Krise. Es ist ja kein Zufall, dass das stereotype Bild eines Menschen in der Midlife-Crisis einen Mann zeigt, der sich einen Sportwagen kauft.
Claudia: Ich denke, ob man gesehen wird, ist in erster Linie eine Frage der Ausstrahlung, nicht des Alters. Wenn du selber glaubst, dass du super bist, glauben das die anderen auch. Und falls ich mich doch mal etwas fade fühle, trage ich meine silbernen Veja-Sneakers. Die sind wie Discokugeln an den Füssen. Meine Erfahrung ist: Das, was du aussendest, bekommst du auch zurück. Erst im höheren Alter habe ich entdeckt, was für eine Kraft es hat, jemanden offen anzulächeln.
Ein Beispiel, bitte.
Claudia: Ich mache manchmal wildfremden Leuten auf der Strasse ein Kompliment. Für ihren schönen Schal oder ihre tolle Frisur. Dann geht die Sonne auf. Es ist ein Geben und Nehmen. «Nicht mehr gesehen werden» klingt für mich so, als ob du passiv darauf wartest, dass dich die anderen endlich sehen. Ich sorge lieber aktiv dafür.
Michèle: Aber früher hast du völlig verkrugelt dasitzen können und wurdest trotzdem gesehen. Heute musst du mehr tun: Du musst Leute anlächeln, lustige Schuhe anziehen, Komplimente machen, um wahrgenommen zu werden. Das stresst mich. Ich muss eh schon viel zu viel, jetzt muss ich auch noch das. Nur, damit jemand merkt: Die existiert und ist vielleicht noch easy. Ich habe meinen Ex-Mann kennengelernt, an einem Abend, an dem ich gar nicht rauswollte. Ich hatte mir vorher sogar einen Pickel ausgedrückt. Aber ich war halt 24. Wenn ich heute so rausgehen würde …
Claudia: Vermutlich hat er dich aber ausgesucht, weil er dich wollte, nicht, weil du 24 warst.
Michèle: Ich befürchte eben, viele meiner «Eroberungen» hatten einfach damit zu tun, dass ich jung war. Nicht, weil ich besonders lässig oder smart war. Ich glaube, solange du jung bist, weisst du gar nicht, was Jungsein auslöst. Wie schön du bist, was für eine Anziehungskraft du hast, wie viel dir vergeben wird, wie viel grösser deine Errungenschaften wirken, weil du jung bist. Mir wird das erst jetzt langsam bewusst.
Claudia: Wenn ich alte Fotos von mir anschaue, denke ich: Wahnsinn, was für eine Schönheit ich einmal war. Und ich habe es nicht einmal bemerkt! Die totale Verschwendung. Man sollte im Alter schön sein, nicht in der Jugend, wenn man dumm und ahnungslos ist.
Michèle Roten"Man muss sich schon enorm anstrengen, um zu sagen: Das ist die schönste Zeit des Lebens"
Wie oft habt ihr euch überlegt: «War es das jetzt?» Dieses Bilanzziehen gehört ja zu den herausforderndsten Prozessen des Älterwerdens.
Claudia: Mit Mitte vierzig überkam mich ein Gefühl der Ernüchterung, weil mir bewusst wurde, dass ich nicht mehr alle Möglichkeiten habe, die ich hatte, als ich jung war.
Michèle: Die Türen gehen zu.
Claudia: Durch bestimmte Entscheidungen, die du getroffen hast, sind andere Wege versperrt. Manche Träume musst du einfach begraben. Der beste Sex meines Lebens liegt vermutlich hinter mir. Und ein Haus am Meer werde ich auch nicht mehr kaufen.
Michèle: Es ist doch einfach so, dass in dieser Phase kaum mehr etwas am Blühen ist. Es ist eher alles am Welken. Das betrifft nicht nur das Körperliche, sondern auch die Menschen im Umfeld: Die Eltern werden alt und sterben. Freund:innen und Bekannte werden krank. Ehen gehen auseinander. Und es gibt kaum mehr jemand, der schwanger ist. Kinder bedeuten ja immer ein Aufblühen des Lebens. Jetzt werden die Kinder erwachsen, ziehen aus, was mit viel Verlust und Abschied verbunden ist. Ich finde, da muss man sich schon enorm anstrengen, um zu sagen: Das ist die schönste Zeit des Lebens.
Womit haderst du ganz besonders?
Michèle: Ich bin zum Beispiel schon sehr lange Single. Und bin es auch gern. Aber ich frage mich manchmal: War es das? Sind das die Männer gewesen, die ich in meinem Leben geliebt habe? Vielleicht kommt da keiner mehr. Wenn dem so ist, wie wird das für mich sein in den nächsten vierzig Jahren, die ich womöglich noch hier bin?
Claudia, du hast vorher gesagt, in deinem Leben stehe gerade kein Stein mehr auf dem anderen.
Claudia: Mein Liebster, mit dem ich dreissig Jahre zusammen war, ist gerade gestorben. Das schüttelt mich innerlich komplett durch. Nichts ist mehr, wie es war. Um die Miete weiterhin bezahlen zu können, habe ich jetzt einen Untermieter. Das Magazin, für das ich arbeite, ist verkauft und umstrukturiert worden. Es verändert sich also gerade wirklich alles. Die einzige Konstante sind meine Freundschaften.
Claudia Senn"Soll ich mein welkes Fleisch etwa auf diesem grauenhaften Online-Dating-Markt feilbieten?"
Alle diese Veränderungen haben aber kaum etwas mit deinem Alter zu tun.
Claudia: Na ja, doch, mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, Witwe zu werden. Ich bin in meinem Freundeskreis auch nicht die Erste. Irgendwann werde ich mir überlegen müssen: Bin ich glücklich allein, oder möchte ich wieder einen Partner? Und wenn ja, wie finde ich den? Soll ich mein welkes Fleisch etwa auf diesem grauenhaften Online-Dating-Markt feilbieten? Wenn ich nur schon daran denke … Jesses Gott!
Bei dir ist alles offen.
Claudia: Total. Im Prinzip bin ich wieder in derselben Situation wie damals, mit 25 – einfach unter anderen Vorzeichen.
Michèle: Ich wollte gerade fragen: Fühlt man sich nicht jünger, gerade wenn sich so viel verändert? Und kommt man sich alt vor, wenn alles bloss noch Routine ist? Als mein Sohn auf die Welt kam, habe ich mich auch deshalb so jung gefühlt, weil alles so neu war.
Claudia: In eine Situation wie die, in der ich jetzt drinstecke, kannst du in jedem Alter kommen. Du weisst nie, was dir passiert, wie die Welt sich verändert. Ich befinde mich in einem Erneuerungsprozess. Der grosse Unterschied zu früher ist aber: Ich bin viel schlauer. Falls ich jemals wieder daten sollte, erkenne ich die Problemkandidaten schon von weitem. Um all die Bad Boys, mit denen ich mir die Jugend versaut habe, würde ich heute einen Bogen machen.
Alle wollen alt werden, doch niemand will es sein. Existiert in Bezug auf das Älterwerden so etwas wie Zweckoptimismus?
Michèle: Ja, zumindest in meiner erweiterten Bubble. Da ist es so, dass man das Alter geil finden und feiern muss. Jedes Fältchen, heisst es, habe seine Geschichte, und endlich wisse man, wer man ist und so.
Claudia: Ehrlich? Die Falten werden gefeiert?
Michèle: Zumindest tut man so. Wenn man sagt, dass man Mühe hat damit, dann wird man etwas mitleidig angeschaut, à la «was bist du nur für ein oberflächlicher Mensch». Mir ist wichtig, dass es auch Platz hat, zu sagen: Ich finds nicht so geil. Das ist doch legitim. Die längste Zeit ist der Körper halt so, wie er ist. Und dann plötzlich sieht alles kacke aus, funktioniert nicht mehr so gut oder tut weh – und das soll man auch noch toll finden? Es ist ein Ablösungsprozess, ich finde, eine gewisse Trauerarbeit muss drinliegen.
Claudia: Wer mir besonders auf den Geist geht, sind die Klimakteriums-Verklärerinnen. Die Wechseljahre sind schwierig, sie sind mühsam, sie bringen dich total durcheinander wie eine zweite Pubertät. Manchmal fühlt sich alles furchtbar an. Das möchte ich auch aussprechen dürfen.
Guter Punkt. Es ist zwar wunderbar, dass die Menopause enttabuisiert wird, doch gleichzeitig wird sie oft als eine Befreiung der Frau zelebriert.
Claudia: Das ist eine erneute Tabuisierung, einfach mit blumigeren Worten. Was da für Mythen kursieren! Frauen laufen angeblich zu sexueller Hochform auf, dank der Wirkung des körpereigenen Testosterons. Danke vielmals, darauf warte ich immer noch.
Michèle, du hast eingangs gesagt, du wärst am liebsten schon siebzig. Was für eine Frau möchtest du dann sein?
Michèle: Eine wie die amerikanische Schriftstellerin Fran Lebowitz. Eine grossartige Frau, ein Leuchtturm.
Claudia: Genau. Sie hat die richtige Scheissdrauf-Attitüde. Ein echtes Vorbild.

Die erste Folge der neuen Kolumne «Sandwich» von Michèle Roten gibts in der neuen Ausgabe der annabelle. Jetzt am Kiosk – oder hier abonnieren.
wunderbar – ich freue mich sehr auf die kolumnen! 😍
“Durch bestimmte Entscheidungen, die du getroffen hast, sind andere Wege versperrt. Manche Träume musst du einfach begraben. Der beste Sex meines Lebens liegt vermutlich hinter mir. Und ein Haus am Meer werde ich auch nicht mehr kaufen.”
liebe claudia – doch unbedingt an die träume glauben- warum nicht? ich bin 60, habe eine erwachsene neue beziehung mit schönem sex, bin gerade dabei, mir ein haus in italien zu kaufen und grad gestern noch einen alten fiat panda dazu und hab die perfekte scheiss-egal-haltung… ihr seid gern eingeladen dann in das haus – es wird wird immer besser yeah… liebe grüsse
merci!
genau, wer sagt uns denn was schön ist?
graue haare & falten gelten in europa (meist bei frauen) nicht attraktiv, in japan gilt alter, weisheit & reife als erstrebenswert-
warum fragen wir ständig bei google und nicht unsere klugen grossmütter?
ja immer wünschen & lieben dürfen egal wann, wen und wie!
wie die wechseljahre sich bei den wal weibchen zeigen , empfinde ich als tolle vorbildsgeschichte…
beim elefanten ist die faltige haut auch schön weil normal.
nicht das leben ändern, sondern das ändern leben…
herzlichst von einer fast 50 jährigen schönheit (die sich mit jünger nur halb so schön fand…)
Ich finde die Diskussion reichlich überbewertet. Ich bin 64 und stelle fest, dass sich immer mehr jüngere Männer für mich interessieren. Warum, weiss ich nicht und kann es auch nicht nachvollziehen, geniesse es aber sehr.Vielleicht, weil man eine gewisse Reife ausstrahlt, die jüngeren Frauen fehlt