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Konflikte in der Nachbarschaft:

Konflikte in der Nachbarschaft: "Seit der Pandemie häufen sich Beschwerden über Kinderlärm"

Wenn es zu Konflikten in der Nachbarschaft kommt, werden Siedlungscoaches eingesetzt. Wir haben mit Katharina Barandun und Nora Howald gesprochen, die Pionierinnen in diesem Beruf sind.

annabelle: Katharina Barandun, Nora Howald, wann werden Sie als Siedlungscoaches gerufen?
Katharina Barandun: Bei Konflikten in bestehenden Liegenschaften oder dann, wenn eine neue Überbauung auf dem Reissbrett entsteht. Also lange bevor die Leute einziehen.

Nora Howald: Als wir vor Jahren als Coaches angefangen haben, kamen wir in Siedlungen, wo das Zusammenleben auseinandergefallen war, wo Vandalismus, Littering und Gewalt herrschten. Heute unterstützen wir zunehmend die Eigentümerschaft von neuen Siedlungen dabei, Formen des Zusammenlebens proaktiv zu planen. Denn oft werden soziale Konzepte nicht zu Ende gedacht, was später zu Konflikten und Kosten führen kann.

Was heisst das genau?
Barandun: In einer kinderreichen Siedlung wurde zum Beispiel ein schöner Spielplatz gebaut und dessen Boden mit Sand bedeckt. Das war gut gemeint – nur haben die Kinder den Sand in Säcke gefüllt und diese in den Lift und die Wohnungen geschleppt. Die Folgen: Das Treppenhaus wurde verschmutzt, der grobkörnige Sand verursachte Schäden im Lift.

Howald: Ähnliches erfahren wir beim Thema Garten. Heute liegt Urban Gardening im Trend, die gärtnerische Nutzung von Balkonen oder Flächen auf dem Dach. Viele Verwaltungen stellen in einer Neubausiedlung Hochbeete hin, um sie als Mehrwert vermarkten zu können. Doch dann gibt es unter den Mietenden niemanden, der gärtnern will. Der Hauswart muss diese Hochbeete wieder entfernen, was sehr viel Geld kostet. Um dem vorzubeugen, arbeiten wir mit sogenannten Möglichkeitsräumen. Das heisst, wir raten der Eigentümerschaft, nicht schon alles zu verplanen, sondern gewisse Räume offen zu lassen und zu sagen: Dort könnte man Urban Gardening machen, sollte es Leute geben, die das wollen. Oder die Spielplätze werden erst gebaut, wenn wir sehen, wer einzieht.

Was verursacht die häufigsten Konflikte in der Nachbarschaft?
Barandun: Die Waschküche, Musik, Grillieren auf dem Balkon, die ganze Palette. Seit der Pandemie häufen sich Anfragen bezüglich Kinderlärm. Man ist mehr zuhause im Homeoffice und hört die Kinder draussen herumtoben. Zudem gibt es in modernen verdichteten Überbauungen fast unweigerlich mehr Lärm und mehr Reibungsfläche, gleichzeitig haben Kinder weniger Freiräume zur Verfügung.

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"Alle wollen sich in ihrer Wohnung regenerieren, ausruhen, sich selber sein können"

Wie gehen Sie bei einem Konflikt vor?
Barandun: Dafür gibt es einen klaren Ablauf: Wenn jemand anruft und sich wegen Angelegenheiten beklagt, die gegen die Hausordnung oder Lärmschutzverordnung verstossen, muss die Verwaltung die Person, die Lärm verursacht, schriftlich auffordern, dass über Mittag oder ab 22 Uhr Ruhe herrscht. Werden wir von der Verwaltung zu einer Mediation hinzugezogen, recherchieren wir erst vor Ort: Was ist genau geschehen? Wer stört sich woran? Denn wir erleben häufig, dass die Ausgangslage völlig anders war, als wir gedacht haben.

Howald: Unabhängig davon, ob es sich um Konflikte in Siedlungen oder unter einzelnen Parteien in einem Haus handelt, organisieren wir meistens einen runden Tisch. Unser Ansatz ist es, partizipativ zu arbeiten – die Leute aktiv miteinzubeziehen – und die Anonymität zu durchbrechen. Es geht darum, die Konflikte zu bearbeiten und dabei auch das Zusammenleben zu fördern. Ein Beispiel: Wenn ich die Person kenne, die Lärm macht, rufe ich womöglich nicht bei der Verwaltung an, sondern wende mich direkt an sie und sage: «Ich leide an Migräne und bin sehr lärmempfindlich. Wäre es okay, wenn ich mich bei einem Anfall melde, und ihr dann den Fernseher leiser stellt?»

Um diese Dynamik herzustellen, braucht es von den Coaches wohl aber viel Fingerspitzengefühl.
Barandun: Und Klarheit. Die Leute müssen schnell begreifen, dass sich etwas ändern lässt. Ohne Schuldzuweisung, sondern dadurch, dass sie einander zuhören. Sie müssen einsehen: Ich fühle mich beeinträchtigt, aber ich kann mithelfen, dass sich das verringert. Denn Tatsache ist: Wohnen ist für alle etwas Zentrales. Alle wollen sich in ihrer Wohnung regenerieren, ausruhen, sich selber sein können.

Dank des Siedlungscoachings lernen verfeindete Nachbar:innen also, aufeinander zuzugehen?
Barandun: Ja – oder einander einfach sein zu lassen. Auch das kann eine Lösung sein. Dann etwa, wenn man durch etwas getriggert wird, das man nicht beeinflussen kann. So kann ich zum Beispiel niemanden verbieten, nachts auf die Toilette zu gehen, selbst wenn ich in meiner Altbauwohnung jeden Schritt dieser Person höre. Ich kann ihr aber vorschlagen, dass sie Finken anzieht. Und ich schlafe dann halt mit Ohrenstöpseln. Das ist für uns ein praxisnahes Aushandeln.

Sie arbeiten bei Neubausiedlungen auch präventiv. Was verstehen Sie darunter?
Howald: Wir lernen erst die Zielgruppe und das Umfeld kennen, denn Ziel ist, eine aktive Nachbarschaft aufzubauen. Eine gute Methode, um Leute zusammenzuführen, ist die Organisation eines Siedlungsfests. Das ist eine ehrenamtliche Aufgabe, und wir motivieren alle, dabei mitzuhelfen. Die Identifikation mit ihrer Siedlung, dem Aussenraum, der Waschküche, dem Treppenhaus funktioniert nur, wenn sie von den Bewohnenden selbst erarbeitet wird.

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"Die Schweiz ist in vielerlei Hinsicht besonders anspruchsvoll"

Welche sind Ihre grössten Herausforderungen?
Barandun: Die Individualisierung, das verloren gegangene Wir-Gefühl. Wir müssen den Menschen wieder ins Bewusstsein rufen, dass sie aktiv etwas dazu beitragen können, dass es allen besser geht, wenn ihr Umfeld ruhig und sauber ist.

Howald: Viele wollen Probleme jedoch delegieren und rufen deshalb lieber die Verwaltung an. Aber wenn man sich nicht involviert, hat es keinen nachhaltigen Effekt.

Sie haben in unterschiedlichen Ländern als Siedlungscoaches gearbeitet. Welches Fazit können Sie ziehen?
Barandun: Dass letztlich alle Menschen in Frieden wohnen wollen. Und dass die Schweiz in vielerlei Hinsicht besonders anspruchsvoll ist: Ich kenne zum Beispiel kein komplexeres Entsorgungssystem als unseres – und nirgends auf der Welt sind die Ruhezeiten so strikt wie hier.

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Udo

Früher war die Mittagsruhe heilig. Dann danach durften wir toben. Und weil es überall Kinder gab, jedesmal in einem anderer Straße. Wer spielt schon im eigenen Garten. Heute dürfen die Kinder zwar miteinander spielen, Aber nur wenn Sie mit dem Hochsicherheits-LastenErad gebracht werden oder einen SUW.
Radfahrende Kinder sieht mal selten. Wir waren den kompletten Sommer im 8km entfernten Freibad. Mit dem Rad. Allein