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Warum ich es bereue, mir die Kinderfrage nicht früher gestellt zu haben

Warum ich es bereue, mir die Kinderfrage nicht früher gestellt zu haben

Autorin Melanie Biedermann wünscht sich, sie hätte sich früher mit der Kinderfrage auseinandergesetzt. Jetzt ist sie Ende 30 – und hat vielleicht keine Wahl mehr.

Neulich sass ich im Kino und war aufgewühlt wie lange nicht. Der Grund war folgende Filmszene: Ein Paar, das sich erst vor Kurzem kennengelernt hat, ist auf einem Date. "Weil die Uhr nun mal tickt", erwähnt er seinen Kinderwunsch und fragt sie nach ihrer Haltung zu eigenen Kindern. "Wozu die Eile?", zischt sie zurück. "Ich bin 34, keine fucking 55, also entspann dich verdammt nochmal, was diesen Biologische-Uhr-Bullshit angeht." Ihr Fazit: "Ich mach dir sicher keine Versprechungen – fick dich, dass du überhaupt fragst!" Wenig später wirft sie ihn aus der Wohnung.

Als ich die Szene sah, spürte ich, wie die Wut in mir aufkam: Was zum Teufel hatte der arme Kerl denn verbrochen? Und unabhängig davon: Warum reagiert sie so energisch? Und so haltlos? Ich wäre am liebsten aus meinem Kinosessel gesprungen, um sie zu schütteln: "Wie arrogant bist du eigentlich? Glaubst du wirklich, du kannst Kinder kriegen, wann immer du willst?"

Versteht mich nicht falsch: Mir ist die Tragweite der Kinderfrage durchaus bewusst; sie ist ein emotionales Minenfeld. Ich muss mich nur in meinem persönlichen Umfeld umsehen: Ich kenne Personen, die jahrelang erfolglos versuchten, Kinder zu kriegen. Andere, die gerne würden, denen aber ein:e Partner:in, das Geld oder manchmal schlicht das Selbstvertrauen fehlt. Gleichzeitig höre ich von Eltern, die konstant am Limit sind.

Die Frage, wann und ob wir überhaupt Kinder kriegen wollen, ist heute mehr denn je ein Politikum. Frauen sind noch immer strukturell benachteiligt; Mütter umso mehr. Gleichgeschlechtlichen Paaren und Singles stellen sich bei der Familiengründung nach wie vor enorme Hürden. All das birgt Konfliktpotenzial.

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"Ich will, dass wir uns nicht scheuen, einander Fragen zu stellen"

Ich kann deswegen gut nachvollziehen, wenn die Selbstreflexion zum Thema Nachwuchs einen überfordert. Aber ist es wirklich ein Unding, wenn mich jemand nach meinem Kinderwunsch fragt? Insbesondere eine Person, mit der ich Sex habe, also jemand, mit dem ich bereits eine intime Beziehung eingegangen bin? Sollte ich nicht zumindest dieser Person gegenüber meinen Standpunkt erklären können?

Ich denke: unbedingt! Genau darum geht es mir: Ich will, dass wir uns nicht scheuen, einander Fragen zu stellen – und zwar rechtzeitig. Ich wünschte, ich hätte das selbst viel früher getan. Denn ich verstand erst nach vielen offenen Gesprächen mit meinem Partner, wie ich zu eigenen Kindern stehe. Und wie ich gerade am eigenen Leib erfahren muss, tickt die vielbeschworene biologische Uhr eben doch oft viel schneller als einem lieb ist.

Als ich meinen heutigen Partner kennenlernte, war ich 35 und spürte keinen konkreten Kinderwunsch. Ich hatte mich nie zu den Menschen gezählt, die unbedingt Eltern werden wollen. Gleichzeitig war ich mir nie wirklich sicher, ob ich ohne Kinder alt werden will. Über Letzteres sprach ich aber nur selten und wenn, dann oberflächlich. Lediglich eine Sache war für mich klar: "Kinder? Sicher nicht ohne Partner!"

Nun hatte ich einen. Und als der mir nach einigen Monaten sagte, dass er gerne Vater werden würde, wurde das Thema für mich zum ersten Mal mehr als hypothetisch. Ich stand vor einer ganz konkreten Wahl: Will ich mit diesem Mann Kinder kriegen? Oder will ich keine Kinder, definitiv nicht?

Er machte mir nie Druck, aber von da an diskutierten wir oft und über alle möglichen Fragen, die sich mit einem Baby stellen: Wie wir die Betreuungsarbeit aufteilen würden. Ob wir – zwei Freelancer:innen in der Kreativbranche – uns ein Kind überhaupt leisten könnten. Über Versagensängste. Angst vor sozialer Isolation. Wir sprachen darüber, was das alles mit unserer Psyche anstellen könnte, genauso wie über meine konkreten Sorgen zu den physischen und psychischen Folgen von Schwangerschaft und Geburt. Am Ende entschlossen wir uns dazu, es zumindest zu versuchen.

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"Die Zuversicht hielt nicht lange: In der elften Schwangerschaftswoche erlitt ich eine Fehlgeburt"

Meine Ärztin erklärte mir direkt, dass ich mit über 35 zur Gruppe der Risikoschwangeren gehören würde – sollte ich überhaupt schwanger werden und das Kind zur Welt bringen. Denn mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit einer Fehlgeburt ebenso wie das Risiko möglicher Chromosomenschäden beim Kind: Bei einer 40-jährigen Frau liegt die Fehlgeburtenrate bei rund 30 Prozent. Innerhalb kurzer Zeit steigt sie danach sogar auf über 50 Prozent. Gleichzeitig nimmt die Wahrscheinlichkeit einer spontanen Schwangerschaft "bereits ab Anfang 30 langsam ab, ab Mitte 30 dann deutlich", wie es beispielsweise das Kinderwunschzentrum Ostschweiz (YUNA) auf seiner Homepage zusammenfasst.

Gleichzeitig sinkt die Wahrscheinlichkeit einer spontanen Schwangerschaft stetig mit zunehmendem Alter. Dass diese häufig auftreten, ist überhaupt ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Leonhard Schäffer, Chefarzt Geburtshilfe am Kantonsspital Baden, erklärt in diesem Bericht: "Während bei Frauen, die Anfang 20 sind und ungeschützten Geschlechtsverkehr haben, etwa 80 Prozent innerhalb eines Jahres schwanger werden, ist dies nur noch bei zehn Prozent der 40-Jährigen der Fall."

Meine Ärztin empfahl mir damals allerdings, mit dem ungeschützten Sex noch zu warten. Ich war wegen Zwischenblutungen und starken Mensschmerzen in Behandlung. Nach mehreren Überweisungen stellte sich heraus, dass meine Gebärmutter von Polypen übersät war. Das ist erstmal nichts Ungewöhnliches: Gebärmutterpolypen, genauso wie Myome und andere gynäkologische Erkrankungen, treten bei Frauen ab 30 vermehrt auf. Solche Diagnosen stehen einer Schwangerschaft nicht per se im Weg, aber bei Polypen wird vorab zu einer Behandlung geraten, um auszuschliessen, dass sich aus den meist gutartigen Zellen Krebs entwickelt.

Bei Endometriose wiederum sind die Möglichkeiten eingeschränkt. Die Erkrankung kann dazu führen, "dass eine Spontanschwangerschaft schwierig oder gar unmöglich wird", wie auf der Informationsseite des Universitätsspital Zürich nachzulesen ist. In der Schweiz seien rund sechs bis zehn Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter betroffen – meine Symptome hätten auch darauf hinweisen können.

Bis zur Diagnose vergingen letztlich neun Monate, auf die Operation wartete ich wegen personeller Engpässe im Spital weitere sechs. Kurz vor meinem 38. Geburtstag konnte unser Versuch schliesslich starten. Meine Ärztin verabschiedete mich mit den Worten: "Wenn Sie nach sechs Monaten nicht schwanger sind, melden Sie sich." Bei Frauen über 35 werden dann direkt Fruchtbarkeitstests empfohlen – so war es auch bei mir und meinem Partner. Wir konnten kurz aufatmen: Unsere jeweiligen Werte lagen im gesunden Bereich. Weitere sechs Monate später war es dann so weit: Ich war tatsächlich schwanger!

Die Zuversicht hielt allerdings nicht lange: In der elften Schwangerschaftswoche erlitt ich eine Fehlgeburt. Ich war gerade 39 geworden. Mein Partner war inzwischen 42. Ich spürte, wie sich der Boden unter meinen Füssen auftat: Wir hatten nicht nur den Verlust eines ungeborenen Kindes zu verdauen. Die Chancen, noch eines zur Welt zu bringen, rinnen uns durch die Finger.

"Wer als Frau Mitte 30 glaubt, noch viel Zeit zu haben, irrt"

Exakte Zahlen zu ungewollt Kinderlosen in der Schweiz gibt es nicht, aber der Tenor pendelt zwischen 15 und 20 Prozent – Tendenz steigend. Die Gründe dafür sind bekannt: Gemäss Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist weltweit jede:r sechste Erwachsene von Unfruchtbarkeit betroffen. Gleichzeitig werden Erstgebärende immer älter. 2023 machten Frauen über 35 rund ein Drittel aller registrierten Lebendgeburten in der Schweiz aus. Seit den 90er-Jahren nimmt ihr Anteil kontinuierlich und in grossen Schritten zu.

Ihr könnt es euch vorstellen: Es macht keinen Spass, solche Zahlen zu lesen, wenn man sich erst spät mit seinem Kinderwunsch auseinandersetzt. Die Zahlen zeigen aber auch, dass sich trotz aller medizinischen Fortschritte an den biologischen Fakten bis heute nichts geändert hat: Unsere Fruchtbarkeit hat ein Ablaufdatum.

Wer als Frau Mitte 30 glaubt, noch viel Zeit zu haben, irrt. Aber darüber spricht heute kaum jemand. Wie konnte das passieren?

Die öffentliche Diskussion rund ums Kinderkriegen hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt – und daran ist erstmal vieles positiv: In einem Land wie der Schweiz können wir inzwischen arbeiten und Kinder kriegen. Genauso können wir uns dazu entscheiden, keine Kinder zu bekommen. Wir haben das Recht auf Abtreibung. Niemand runzelt mehr die Stirn, wenn die Familienplanung nach hinten verlegt wird. All das sehe ich als wichtige und richtige Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt. Aber ich fürchte, wir haben als Gesellschaft einen guten – und mit gut meine ich: einen ehrlichen und faktischen – Umgang mit dem Thema verlernt.

Aktuelle Diskussionen zum Kinderwunsch drehen sich meist um mangelnde politische Unterstützung für Familien und Alleinerziehende, die Erschöpfung der Eltern – insbesondere der Mütter –, oder um Reproduktionsmedizin. Und natürlich müssen wir über die politischen Schieflagen sprechen. Es stimmt auch, dass Reproduktionsmedizin in Fällen von Unfruchtbarkeit – altersbedingt oder anderweitig – helfen kann. Zudem wird der Wunsch nach eigenen Kindern damit für Singles und gleichgeschlechtliche Paare greifbarer.

 

"Ich kenne einige Frauen in meinem Umfeld, die ihre Chance auf eigene Kinder verpasst haben und es bereuen"

Tatsache ist aber auch, dass selbst die geläufigsten Methoden wie die Hormonbehandlung mit einer intrauterinen Insemination (IUI) oder In-Vitro-Fertilisation (IVF) bis heute keine Garantie liefern, dass es mit einem späten Kinderwunsch klappt. Die Erfolgsquote aller begonnenen IVF-Zyklen liegt gemäss BfS bei lediglich 18 Prozent (2022). Dazu sind diese Behandlungen sehr teuer: Ein IVF-Zyklus kostet mitunter bis zu 10’000 Franken, die die obligatorischen Krankenkassen in der Schweiz in der Regel nicht zahlen.

Inzwischen kenne ich einige Frauen in meinem Umfeld, die ihre Chance auf eigene Kinder verpasst haben und es bereuen. Es sind allesamt Frauen, die im Grunde ein erfülltes Leben führen; gut laufende Karrieren und ein starkes soziales Netzwerk haben, meinungsstark und selbstbewusst sind, denen es an nichts mangelt, die es einfach bereuen, sich nicht rechtzeitig ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt zu haben.

War ihr Kinderwunsch vielleicht einfach nicht stark genug? Denkbar ist es. Auch ich fragte mich jahrelang, ob ich vielleicht einfach nicht zum Kinderkriegen berufen bin. Eine Tragödie wäre das nicht; für manche ist diese Erkenntnis ein Befreiungsschlag und ein Leben ohne eigene Kinder die absolut richtige Wahl. Aber wenn ich ehrlicher mit mir selbst gewesen wäre, hätte ich es längst besser wissen können. Ich erinnere mich nämlich auch an seltene, offene Gespräche, wie einst mit einem guten Freund: Wir waren Anfang und Mitte 30 und gestanden uns, dass wir, sollte die Gelegenheit dazu kommen, beide nicht zu spät Eltern werden wollen.

Mein Kinderwunsch war also durchaus da, ich gestand ihn mir einfach nie zu. Aber was ist unsere Selbstbestimmung noch wert, wenn wir unsere eigenen Wünsche überhören?

Also will ich den Versuch, Mutter zu werden, noch nicht ganz aufgeben. Nicht etwa, weil ich all meine Bedenken und Sorgen über Bord geworfen hätte – keineswegs. Aber das Leben lässt sich sowieso nur bedingt planen. Auch das ist ein Fakt, den wir gern vergessen. Ich will es weiterhin versuchen, weil ich dank der vielen offenen Gespräche, die ich in den vergangenen Jahren geführt habe, heute weiss: Ich will meine Wünsche ernst nehmen und meine Chancen nicht verspielen. Ich würde es bereuen.

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