Werbung
Wie ist es eigentlich, mit über 80 Lehrerin zu werden?

Wie ist es eigentlich, mit über 80 Lehrerin zu werden?

Seitdem ihr Mann im Pflegeheim ist, arbeitet Felicitas Moro Crespo ehrenamtlich als Spanischlehrerin für Erwachsene. Uns hat sie erzählt, worauf sie dabei wert legt – und was ihr besonders Freude macht.

«Ich wollte schon als Mädchen Lehrerin werden. Ich war neugierig und interessierte mich für Geschichte und Geografie. Aber diesen Wunsch zu verwirklichen, war unmöglich: Ich bin 1943 in einem Bergdorf in Nordspanien geboren, in der Zeit nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs, zu Beginn des Franco-Regimes.

Mit 14 verliess ich die Schule ohne Abschluss. Wir lebten abgeschottet vom Rest der Welt; erst in den 1960er-Jahren begann sich das Land ein wenig zu öffnen. Es hiess damals: In Europa kannst du Geld verdienen. Frankreich, Deutschland und die Schweiz suchten nach Arbeitskräften, die ihre Länder aufbauten.

Ich war zwanzig Jahre alt, eine Freundin von mir war schon in der Schweiz, und ich reiste ihr nach. Beim Lebensmittelkonzern Hero in Lenzburg bekam ich einen Zweijahresvertrag. Ich besuchte einen Sprachkurs. In der Hero-Kantine lernte ich meinen zukünftigen Mann kennen. Er war Lastwagenfahrer und ass jeden Abend dort. Nach Ablauf der zwei Jahre blieb ich und arbeitete als Schneiderin.

Wir heirateten, bekamen zwei Kinder und zogen in eine Wohnung über dem Coop in Lenzburg. Die Bedingung für die Miete der Wohnung war, dass ich bei Coop arbeitete, also tat ich das: erst Regale einräumen, später Verkauf. Ich mochte die Arbeit, den Kontakt zu den Leuten. Abends ging ich zur Schule und holte den Abschluss nach, nicht, weil ich eine spezielle Absicht damit verfolgte, einfach aus Interesse. Bis zur Pension blieb ich bei Coop, 35 Jahre.

Werbung

"Meine Kinder sagten mir am Telefon: Mama, du brauchst etwas zu tun"

Vor zwei Jahren sind mein Mann und ich zurück nach Spanien gezogen, in den Süden. Ihm geht es gesundheitlich nicht gut. Seit einigen Monaten ist er im Pflegeheim. Meine Kinder sagten mir am Telefon: Mama, du brauchst etwas zu tun, damit du nicht allein zu Hause sitzt und depressiv wirst. Ein paar Wochen später erfuhr ich, dass die Schule bei uns im Dorf eine ehrenamtliche Spanischlehrerin für Erwachsene suchte.

Das hat folgenden Grund: Wir leben in der Region Murcia, einem grossen Früchte- und Gemüseanbaugebiet, das nach ganz Europa exportiert. Darum kommen Arbeitsmigrant:innen aus Marokko zu uns, häufig Familien. Die Männer arbeiten auf den Feldern, die Frauen passen auf die Kinder auf. Die Idee war, dass jemand die Frauen in Spanisch unterrichtet, während die Kinder in der Schule sind. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie ein Sprachkurs funktioniert. Also meldete ich mich.

In meiner Klasse sind 16 Frauen, die meisten zwischen zwanzig und dreissig. Viele können nicht lesen oder schreiben, und ich spreche kein Arabisch. Darum arbeite ich mit Dingen zum Anfassen, zeige Fotos von meiner Familie, deute auf Personen, sage: Das ist der Grossvater, die Mutter, die Tante. Wir lachen viel.

Mir ist wichtig, dass meine Schülerinnen verstehen, was die Leute auf der Strasse reden, oder dass sie dem Arzt sagen können: Hier tut es weh. Wir haben kein offizielles Lehrmittel, aber eines Tages habe ich mein altes Deutschbuch aus den 1960er-Jahren wiedergefunden. Wenn ich meinen Unterricht vorbereite, blättere ich darin und kombiniere die Lektionen mit eigenen Ideen. Als im Sommer das Schuljahr zu Ende ging, fragten sie mich ständig, ob ich im Herbst wieder unterrichte. Das zu hören, war sehr schön für mich.» – Felicitas Moro Crespo (82) lebt in der Gemeinde San Javier in Murcia, Spanien

Abonniere
Benachrichtigung über
guest
0 Comments
Älteste
Neuste Meistgewählt
Inline Feedbacks
View all comments