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«Sex ist für mich nichts Heiliges»

Leben

«Sex ist für mich nichts Heiliges»

  • Text: Claudia Senn, Bild: Pascal Ito / Flammarion

Die französische Schriftstellerin Emma Becker arbeitete zweieinhalb Jahre als Prostituierte und schrieb ein Buch über ihre Erfahrungen. Es ist im besten Sinn delikat.

Man braucht keine Milieukenntnisse, um zu ahnen, dass Emma Becker im Bordell ziemlich erfolgreich gewesen sein muss. Pfirsichhaut, Charme, Jugendfrische. Beckers eigentlicher USP jedoch ist der Akzent, bei dem einem sofort jener legendäre Bier-Werbespot in den Sinn kommt, der einst die erotische Raffinesse der Französinnen feierte («die Bier, die so schön ‘at geprickelt in mein Bauchnabel»). Aus Freiersicht ist Emma Becker ein feuchter Traum.

Sie ist aber auch, und das dürfte den meisten ihrer Kunden entgangen sein, eine Frau, «die Ufer berührt, die nicht für mich gedacht sind». Eine extreme Frau also. Eine unerschrockene Frau. Eine scharfsinnige Intellektuelle, die sich nichts vorschreiben lässt, von niemandem. Eine Frau, die so locker Sex haben will, wie es vermeintlich nur Männer können. Die mit beinah wissenschaftlicher Neugier die Macht des Eros erforscht, samt all seinen Abgründen.

Mit Klischees aufräumen

Zweieinhalb Jahre lang hat Emma Becker als Prostituierte gearbeitet, um danach ihre Erfahrungen in Literatur zu verwandeln. Das Œuvre hätte leicht zur Erotik-Schmonzette verkommen können, doch es ist ein interessantes und streitbares Buch geworden, das viele Klischees gegen den Strich bürstet. Ein gut geschriebenes noch dazu.

In Frankreich, wo es bereits im letzten Sommer erschienen ist, stand es auf der Shortlist für den Prix Renaudot und den Prix de Flore, beides renommierte Auszeichnungen. Emma Becker ist das Kunststück gelungen, einen literarisch ambitionierten Rotlicht-Report zu schreiben, der die voyeuristischen Instinkte seiner Leserinnen und Leser ebenso bedient wie ihr Bedürfnis nach Erkenntnis und Horizonterweiterung. «Eigentlich», sagt Emma Becker, «ist es auch ein Buch darüber, wie ich mich als Frau sehe.»

Wir treffen die 31-Jährige in einem kleinen Café in Berlin-Kreuzberg, das berühmt ist für seine feinen Croissants – ein paar Quadratmeter Frankreich inmitten der deutschen Grossstadt. Becker könnte auch als Erasmus-Studentin durchgehen oder als Schülerin einer der vielen Kunst- und Schauspielakademien. Sie ist ungeschminkt und trägt eine jener verwuschelten Nicht-Frisuren, die an Pariserinnen stets so lässig und entspannt wirken, als kämen sie direkt aus dem Bett. Ihr Deutsch habe sie «im Puff gelernt», sagt sie, und von der Fernsehserie «Stromberg».

Macht über Männer haben

Was war zuerst da, die Idee, als Prostituierte zu arbeiten oder jene, darüber zu schreiben? Becker weiss es nicht mehr. Doch fasziniert habe sie das Thema schon lang. In französischen Romanen wie Guy de Maupassants «La Maison Tellier» oder Emile Zolas «Nana» würden Huren als Heldinnen beschrieben, sagt sie, «fast wie Göttinnen, die eine ganz besondere Art von Macht über die Männer haben».

Von dieser Macht wollte Emma Becker ebenfalls kosten. Neugier und Aufregung waren dabei grösser als ihre Angst. Allerdings sind in Frankreich Freudenhäuser seit 1946 verboten, obwohl die französische Sprache von Ausdrücken wie «putain» und «bordel» nur so wimmelt. 2016 wurde hier das strenge schwedische Modell eingeführt, das Freier bestraft, die Sexarbeiterinnen jedoch straffrei ausgehen lässt. Seither agieren Frankreichs Filles de Joie in einer rechtlichen Grauzone. Zuviel Unsicherheit für eine Newcomer-Hure, befand Becker. Um ihren Plan in die Tat umzusetzen, zog sie 2013 ins liberalere Berlin.

Natürlich weiss sie, dass kaum jemand ihre Entscheidung, als Prostituierte zu arbeiten, nachvollziehen kann – noch dazu freiwillig. «Was heisst denn schon freiwillig», entgegnet sie beinahe trotzig, «ich musste Geld verdienen.» Ihre Bücher – sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Romane veröffentlicht – brachten nicht genug ein. Zwei Tage pro Woche Sexarbeiterin zu sein und den Rest der Woche Zeit zum Schreiben zu haben, erschien ihr wie ein guter Deal. «Besser jedenfalls als für einen Hungerlohn zu kellnern oder mich an der Kasse eines Discounters krumm zu machen.»

Ihren Körper zu vermieten schreckte sie nicht. «Sex ist für mich nichts Heiliges», sagt Becker, «auch wenn uns die Männer weismachen möchten, dass das für Frauen so sein muss. Sie wollen, dass Penetration für uns etwas Riesengrosses ist. Denn was bleibt von ihrer Herrschaft noch übrig, wenn sie erst mal mitbekommen, dass wir Orgasmen faken und dabei problemlos an die kaputte Geschirrspülmaschine denken können?»

Wärmende Schwesterlichkeit

Nach einer unerfreulichen Stippvisite in einem ebenso glamourösen wie emotional unterkühlten Luxus-Puff landet sie schliesslich im «La Maison». Becker nennt sich hier Justine, wie die Heldin aus de Sades gleichnamigem Sadomaso-Roman. In ihrem Buch beschreibt sie das Bordell als eine Art Insel der Frauen voller Plastikpfingstrosen, pflaumenfarbener Organdyschleier und wärmender Schwesterlichkeit.

Nirgendwo habe sie so zärtliche und lustige Gespräche über Sex geführt wie mit ihren Kolleginnen im «La Maison», sagt Becker. Auch einige ältere Damen habe es dort gegeben, die mit Mitte sechzig immer noch ihrem Beruf nachgingen. «Erst dachte ich, wer will die denn, die sind doch alt? Aber sie hatten ihre Stammfreier, die seit Jahrzehnten zu ihnen kamen.» Becker fand das tröstlich.

Die Sympathie und Überschwänglichkeit, mit der sie ihren Arbeitsplatz schildert, hat ihr den Vorwurf eingebracht, die Prostitution zu romantisieren. So idyllisch kann – ja, darf – es doch im Puff nicht sein! Doch, sagt Becker, im «La Maison» sei es so gewesen. «Ich war überrascht und zu Tränen gerührt, dass Frauen dort nicht als Huren behandelt wurden, sondern als Menschen und als selbstständige Künstlerinnen, die respektiert und geschätzt wurden.»

Sexarbeit muss nicht dreckig sein

Als sie später erzählt, wie das «La Maison» von den Behörden dichtgemacht wurde, weil die Stadt die Bordelle vom Zentrum an die Peripherie verlagern wollte, stehen ihr die Tränen in den Augen. Sie empfinde so viel Dankbarkeit gegenüber der Chefin, sagt Becker, «weil sie mir gezeigt hat, dass Sexarbeit nicht dreckig sein muss.» Die Wärme und das Wohlwollen untereinander, «all diese Frauen, die nackig rumliefen und nett zu einander waren – das hat etwas in mir geheilt». Seit ihrer Bordellerfahrung empfinde sie mehr Vertrauen zu Frauen.

In öffentlichen Diskussionen spreche man über das Thema meist, als ob es nur Schwarz und Weiss gäbe, sagt Emma Becker: Auf der einen Seite die geknechteten Zwangsprostituierten, auf der anderen die Luxus-Escort-Girls, die anschaffen, um sich Louis-Vuitton-Taschen zu leisten oder ein neues Jäckchen für ihren Chihuahua. Beides sei Teil der Realität, doch zwischen diesen Polen gebe es auch eine grosse Mittelklasse. «Dieser Beruf kann sehr schmutzig und voller Gewalt sein», sagt Becker, «aber er ist es eben nicht immer.»

Feministischer Gegenwind

Frankreichs Prostitutionsgegnerinnen fühlten sich von solchen Sätzen provoziert. Eine Hure, die selbstbewusst das Recht einfordert, ihren Körper zu verkaufen, und sich nicht als Opfer von Armut und Ausbeutung begreift – das passt nicht ins Schema. Auch hierzulande wird der eine oder andere Shitstorm wohl nicht ausbleiben. Becker scheint sich fast schon darauf zu freuen. Trotz ihrer Zierlichkeit wirkt sie wie eine Kämpferin, die bei Gegenwind erst richtig zu Hochform aufläuft. Besonders nervt sie, wenn Feministinnen behaupten, die Prostituierten müssten «gerettet» werden, notfalls auch gegen ihren Willen.

«Damit wollen sie uns entmündigen und uns unsere Stimme nehmen. Ein zutiefst patriarchalisches Verhalten, obwohl sie das Patriarchat ja angeblich abschaffen wollen.» Manche unterstellen ihr auch Missbrauch in der Kindheit, «damit sie mich in eine Schublade stecken können». Das sei Verleumdung, echauffiert sich Becker, und zudem antifeministisch, «denn es bedeutet ja: Wenn du in der Kindheit einmal Opfer warst, wirst du immer Opfer bleiben und kannst keine Entscheidungen über deine eigene Sexualität treffen».

Versteht sie sich als Feministin? «Aber natürlich», sagt Becker so entschieden, als grenze allein schon die Frage an einen Affront. Heutzutage habe sie allerdings das Gefühl, es gebe nur einen einzig richtigen Feminismus, «und wenn du da nicht reinpasst, bist du eine Feindin. Für mich gibt es aber auch einen Huren-Feminismus, genauso wie einen Feminismus für Frauen, die Kopftuch oder Hijab tragen. Der Feminismus ist für alle da».

Mehr Sport als Sex

Dass Becker ihre Erfahrungen idealisiert, kann man ihr nicht vorwerfen. Sie schildert auch ausführlich die hässlichen Seiten ihres Berufs: Freier, die sie schlagen, zum Drogenkonsum zwingen, nicht die Frau in ihr sehen, sondern bloss ein Geschlechtsorgan. Sexuelle Analphabeten. Idioten. Liebeskranke Stalker. Die Verachtung und der Abscheu am Ende eines harten Tages, wenn jede weitere Penetration eine zu viel ist. «In solchen Momenten dachte ich manchmal: Mein Gott, Männer sind wie Hunde. Gibt es denn nichts Wichtigeres, als seinen Schwanz in eine Frau zu stecken?»

Ihre Arbeit erinnert sie an die eines Kindermädchens, «das immer mit den Kindern der anderen spielen, ihre diversen Bedürfnisse befriedigen, den eigenen Überdruss unterdrücken muss». Von Zeit zu Zeit schlägt eine Welle der Verzweiflung über ihr zusammen, obwohl sie sich einredet, das alles ja nur für ihr Buch zu tun. «Ich absolvierte dann bloss noch meine Stellungen und gab die passenden Geräusche von mir», erzählt sie. «Das war kein Sex mehr. Das war Sport.»

Was hat ihr die Zeit im Bordell über Männer beigebracht? Nicht sehr viel, sagt Emma Becker. «Ich wusste schon vorher, dass sie oft einsam sind und sich manchmal bedroht fühlen. Dass die meisten eigentlich zum Reden und Kuscheln kommen, wenn sie den Sex erst mal hinter sich gebracht haben.» Girlfriend Experience – das sei die mit Abstand meist gebuchte Dienstleistung. Viele suchten im Bordell eine Freundin oder eine Mutter, die sie tröstet und in den Arm nimmt.

Manchmal fühlte sich Becker auch wie eine Therapeutin. Interessant ist, was sie über die ästhetischen Vorlieben ihrer Freier sagt: Wenn Männer mit Freunden ins Bordell kämen, suchten sie sich stets eine schöne Frau mit grossen Brüsten aus, um mit ihr vor den Kumpels anzugeben. Kämen sie allein, nähmen sie auch mal eine runde, gemütliche mit einem dicken Po, «das fand ich schön». Die Dünnen würden bei den Freiern eher Mitleid erwecken als Begehren.

Unterscheiden zwischen Spielen und Fühlen

Becker macht sich nicht lustig über die Bedürftigkeit ihrer Freier, «ich will sie auch nicht als Opfer darstellen, aber ich habe gelernt, ein bisschen mehr Geduld mit ihnen zu haben». Teilweise habe sie sich bei ihrer Arbeit sehr stark, feminin und selbstbewusst gefühlt, also tatsächlich mächtig – genau wie sie es sich erhofft hatte. Doch sei es auch anstrengend, den Mann auf keinen Fall spüren zu lassen, «dass er ein Portemonnaie auf zwei Beinen ist». Die allergrösste Herausforderung bestand für sie darin zu unterscheiden, wann sie eine Umarmung nur spielte und wann sie sie wirklich fühlte.

«Du hast Sex mit einem Kunden, und das ist bloss ein Job. Dann gehst du nachhause zu deinem Freund, der auch Sex mit dir haben will, und das ist dann kein Job, das ist Liebe.» Nicht immer fiel ihr diese Unterscheidung leicht. Wahrscheinlich gehe es auch Pornodarstellern so, vermutet Becker: Sie müssten irgendwann einen Trick finden, um gleichzeitig ohne Herz und Seele vor der Kamera agieren zu können und dem Sex mit dem geliebten Partner zuhause all seine magische Kraft zurückzugeben. Emma Becker hat diesen Trick nicht gefunden. Das war der Grund dafür, dass sie mit 27 Jahren beschloss, doch lieber wieder zu kellnern. «Ich wollte nicht, dass Sex für mich zum Job wird.»

Den Männern nichts schulden

Ihr Freund wusste über ihre Arbeit im Bordell Bescheid. Anders als manche Kolleginnen im «La Maison» wollte sich Becker vor ihrem Partner nicht verstecken. «Ich habe ihm auch gesagt, dass ich nie mehr für einen Mann etwas aufgeben werde, das ich gern tue», sagt sie. Ihr Freund kam zu ihr ins «La Maison» und schaute sich alles genau an. Er sei wirklich interessiert gewesen, sagt Becker – was aber nicht bedeute, dass es immer einfach gewesen sei. Viele Streitereien entzündeten sich an ihrem Beruf. Einmal betrog er sie und meinte, sie schlafe ja auch jeden Tag mit anderen Männern. «Wie erklärst du dann, dass diese zehn Schwänze pro Tag bloss beruflich sind?», entgegnet Emma Becker mit ihrer unverwechselbaren Mischung aus Derbheit und Lakonie. Vor drei Monaten hat sich das Paar getrennt. Den dreijährigen Sohn, der nach Beckers Zeit als Prostituierte zur Welt gekommen ist, betreuen beide weiterhin gemeinsam.

In ihrem neuen Status als Single-Frau profitiert Becker von einer weiteren Erkenntnis aus ihren Jahren im Bordell: dass Sex sich auch im normalen Alltag wie eine Dienstleistung anfühlen kann. Zum Beispiel, wenn ein Liebhaber ihr nachts um drei «in den Nacken atmet», um sie aufzuwecken und Sex einzufordern. Wenn er womöglich noch sagt: Ich beeile mich auch, es wird nicht lang dauern. «Geht’s noch?», sagt Emma Becker voller Empörung. Solche Typen lässt sie jetzt nicht mehr in ihr Bett. Sollen sie doch ins Puff gehen und jemanden dafür bezahlen, dass ihre Ansprüche erfüllt werden. «Wir Frauen schulden den Männern gar nichts.»

Emma Becker: La Maison. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Rowohlt-Verlag, Hamburg 2020, 384 Seiten, ca. 32 Fr.