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Zu Besuch in Westsumatra: Dem grössten Matriarchat der Welt

Leben

Zu Besuch in Westsumatra: Dem grössten Matriarchat der Welt

  • Text: Fritz Schaap; Fotos: Patrick Tombola

Sie sind Muslime, aber das Sagen haben die Frauen. Zu Besuch in Westsumatra, im Königreich der Minangkabau, dem grössten noch existierenden Matriarchat der Welt.

Drei Söhne hat die Königin. Für jede islamische Frau ein Geschenk Gottes. Wawancara aber sagt: «Ich bin eine arme Frau», während sie sich in das goldene Samtsofa zurücklehnt, das vor zwei goldenen Königsschirmen steht – Insignien alter Macht. Keine Ironie in ihren Zügen. Bitterer Ernst. Ihr Sohn, der in der Mitte des Raums am grossen Empfangstisch sitzt, schaut nur kurz von seinem Smartphone auf, lächelt und widmet sich wieder seinem Spiel. Bei den Minangkabau haben die Frauen das Sagen. Sie sind die Familienoberhäupter und die Erben. Drei Söhne: nicht was sich eine Mutter hier wünscht.

Die Königin sitzt in ihrem provisorisch zum Empfangsraum umfunktionierten Sekretariat. Immerhin auch noch vierzig Quadratmeter gross. Draussen der Rohbau des alten prachtvollen Clanhauses, mit dem Dach, das sich zu beiden Seiten wie die Hörner der Wasserbüffel nach oben zieht. Wawancara ist die 33. Nachfahrin des ersten Königs, Adityawarman. Er gründete das Königreich der Minangkabau im zehnten Jahrhundert. «Aber leider bin ich nicht mehr offiziell die Königin», sagt sie. Eine Frau mit der Aura einer in Würde gealterten Grande Dame und dem Augenaufschlag einer grossen Schauspielerin.

75 kleine Könige

Der letzte König wurde 1833 von den Holländern abgesetzt und ins Gefängnis geworfen. Seither gibt es offiziell keine Könige mehr, aber die Königsfamilie stellt weiter einen Repräsentanten. «Unser Geschlecht hat immer noch Macht», sagt Wawancara und rückt das grüne Kleid zurecht, nachdem sie die Beine übereinandergeschlagen hat. Nicht mehr offiziell politisch, aber die Kultur spielt bei den Minangkabau eine grosse Rolle. «Da sind wir bei den Menschen immer noch die höchste Autorität.» 75 kleine Könige gibt es im Reich der Minangkabau, ihre Familie ist ihr Oberhaupt. Die Kultur der Minangkabau, sie ist nicht einzigartig.

In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder und gibt es weiterhin Martriarchate, so bei den Khasi in Ostindien oder bei den nordamerikanischen Irokesenvölkern.Aber die Minangkabau bilden die grösste noch existierende matrilineare Gesellschaft. Ungefähr drei Millionen Menschen zählen sie. Und sie leben in einem islamischen Land. In Indonesien. Nicht eben bekannt für liberale religiöse Gesetze. Die Minangkabau betrachten sich selbst als gläubige Muslime. Der Islam: patriarchalisch. Einen Widerspruch sieht Wawancara darin nicht. «Nein, wieso?», fragt sie zurück, während im Hintergrund der Ruf zum Mittagsgebet von den Minaretten der kleinen Stadt Pagaruyung ertönt.

Aber anders als im klassischen Islam ist das Eigentum bei den Minangkabau in den Händen der Frauen. Land wird immer von der Mutter an die Tochter vererbt. Nach der Heirat zieht der Mann ins Haus der Familie der Frau. Die Frau ist auch für die Finanzen zuständig, und in der Königsfamilie kommt der Thronerbe immer aus der Linie der Frau. «Nicht der Sohn oder die Tochter meines Bruders wird König werden, sondern mein Sohn», sagt Wawancara. Ihr Erbe aber wird nicht an ihn gehen, sondern an eine der Töchter ihrer Schwestern. Das Matriarchat, es hatte immer Bestand im Land der Minangkabau – unter Besetzungen, Kolonialherrschaft und unter dem Islam, der omnipräsent ist in Form von Moscheen, Kopftüchern und den 99 Namen Allahs, die auf Plastikschildern oft die verschlungenen Strassen durch die grünen Hügel und Berge Westsumatras säumen.

Die Königin ist aufgestanden und geht durch das alte Clanhaus, das nunmehr zum vierten Mal wieder aufgebaut wird, ein Feuer hat es vor ein paar Monaten fast vollständig zerstört. Kunstvolle Arabesken, fein gearbeitete Holzschnörkel, verdecken zum Grossteil schon den Beton. «Traditionell war hier alles aus Holz, aber manche Sachen muss man eben auch der Moderne anpassen», sagt sie lächelnd. Den Islam, in dem die Frauen viel weniger Rechte besitzen als die Männer, sei es in Scheidungs- oder Erbschaftsfragen, haben die Minangkabau offenbar ganz nebenbei schon vor Hunderten von Jahren modernisiert.

Die Frau ist Eigentümerin, der Mann Manager

Wawancara steht im hohen Hauptraum des Clanhauses. «Hier auf dieser Seite sitzen die Männer und dort drüben die Frauen bei den Treffen. Zu gleichen Teilen.» Und wenn man sich bei Fragen nicht einig ist, dann wiegt das Wort der Frau schwerer als das ihres Mannes. «In Clanfragen wie in der Familie.» Es gibt verschiedene Mythen, wo das Matrilineare herkommt. «Eine ist», erklärt Wawancara, «dass man nie genau wissen kann, wer der Vater eines Kindes ist, bei der Mutter aber ist es sicher. So war es sinnvoller, die Blutlinie der Frau als die wichtigere zu nehmen.»

Anthropologen vermuten, die matrilinearen Strukturen, die Strukturen weiblicher Herrschaft, seien entstanden, weil die Männer – um Handel zu treiben – monatelang unterwegs waren, während die Frauen zuhause blieben und sich um den Hof kümmerten. «Man kann das mit einer Firma vergleichen, die Frau ist die Eigentümerin, der Mann der Manager», sagt Wawancara dann noch und schaut von den alten Reisspeichern hinüber zum alten Königspalast, der nun ein Museum ist, in dem Schulklassen die Tradition ihres Volkes lernen. Im Rest von Indonesien, da sieht man das freilich anders. Und im gesamten arabisch- islamischen Raum, wo der Mann das unumstrittene Oberhaupt der Familie ist, religiös manifestiert, wären solche Worte in den Ohren der meisten Gläubigen Gotteslästerung.

Wawancara blickt verschmitzt. Überlegt kurz. «Man muss einen Unterschied machen zwischen islamischen und arabischen Kulturen. Der Islam macht die Frau nicht schlecht.» Pause, kokettes Lächeln, das sich der Tragweite des nächsten Satzes bewusst ist. «Es ist die arabische Tradition, nicht der Islam, der die Frauen unterdrückt.» Eine alte Frau wird am nächsten Tag in einem kleinen Dorf unweit von Pagaruyung noch etwas anderes sagen. Über neunzig ist sie, sitzt auf der Treppe eines alten, vom feuchtheissen Klima verwitterten Holzhauses, im Garten üppiges Grün. «Man hört ja immer viel von häuslicher Gewalt in der Welt. Das haben wir hier nicht.» Wo die Frau der Hausherr ist, da ist auch der Respekt anders verteilt.

Um das stolze Erbe ihres Volkes zu bewahren, hat Wawancara die Bundokanduang-Gruppe gegründet. 29 Männer und Frauen, die durch das Land reisen, um in Schulen, Clanhäusern, auf Plätzen und in Rathäusern die matrilineare Tradition auch bei den Jungen am Leben zu erhalten. Dass diese Bemühungen nötig sind, kann man am nächsten Tag beobachten. In Air Batumbuk, zwei Autostunden von Pagaruyung entfernt, heiraten Zulmi Rizayani und Gones Patmel. Es ist der Beginn einer viertätigen Festlichkeit. Am Morgen versammeln sich die Angehörigen des Bräutigams, die Grossfamilie, die Clanvorsteher im Haus der zukünftigen Frau und ihrer Familie.

Die Mütter entscheiden

Es ist die sogenannte Batando-Zeremonie. Ein Zelt und eine Bühne stehen im Vorgarten. Die Eltern der Frau haben das alles gemietet. Die Musikanlage wird gerade eingepegelt. Kreischender indonesischer Pop, in dem es entweder um gebrochene Herzen oder die grosse Liebe geht, dröhnt über die Reisfelder. «Glückwünsche» steht über der Tür. In Indonesisch und in Arabisch. Den beiden Polen des Spannungsfelds, in dem sich die Minangkabau bewegen. Zwischen denen sie sich einpendeln mussten in den letzten Jahrhunderten, vor allem nachdem ihr eigenes Königreich Teil eines grossen Indonesien geworden war

Das Haus ist festlich geschmückt. An den Wänden hängen pinkfarbene Tücher mit goldenen Ornamenten, im Wohnraum steht ein goldener Thron, auf dem das Brautpaar später die Glückwünsche des Dorfs entgegennehmen wird. Der Raum ist zu gleichen Teilen gefüllt mit Männern und Frauen. Die Männer sitzen auf der rechten Seite, die Frauen auf der linken. Schalen mit Essen werden serviert. Reis. Huhn. Rindfleisch. Hineingetragen werden die Speisen von Männern, ausschliesslich. «So ist es Tradition.» Sagt der Onkel des Bräutigams, der neben dem Thron im Schneidersitz hockt und, ebenfalls Tradition, das Essen mit blossen Händen zu sich nimmt. Genauso wie es Tradition ist, dass Männer den Frauen den Antrag machen und die Mütter dann entscheiden, ob der Bewerber auch gut genug ist.

Vor der Tür steht der breite neue Geländewagen des Onkels, aus dem am Morgen der Bräutigam ausgestiegen ist. Das Schwarz glänzt quecksilbern vor den Reisfeldern, auf die träge Wasser fliesst. Der Bräutigam kommt aus einer wohlhabenden Familie: Regierungsbeamte, lokale Grössen. Die Familie der Braut: Reisbauern. Lässt nun der Bräutigam seinen ganzen Wohlstand zurück? Der Onkel, schwarzer Anzug über grünem Hemd, erklärt: «Die Tradition verlangt, dass unser Besitz in unserer Familie bleibt.» Aber nach langem Streit mit der islamischen Orthodoxie habe man einen Kompromiss gefunden. «Das Land der Familie, das Clanhaus, die grossen alten Besitztümer, die werden noch immer an die Frau vererbt.»

Doch mittlerweile werde zwischen hohem und niederem Erbe unterschieden. Neuerwerbungen, neue Häuser, kleinerer weltlicher Besitz und Geld gehen auf den Sohn über und bleiben generell in der Blutlinie des Bräutigams. Während er redet, präparieren die Clanvorsteher der beiden Familien, ältere Männer im traditionellen Gewand, die Caranos. Alte Metallschalen, in die Betelnüsse, Früchte und Zigaretten gelegt und die ausgetauscht werden, bevor sich die Gesellschaft zur nächsten Moschee begibt, um nun auch islamisch zu heiraten. Und auf dem Weg dorthin sagt der Bräutigam diesen Satz, den die Königin aus dem Mund der Jugend so fürchtet: «Ach», sagt der 25-Jährige in seinem goldenen und roten samtenen Anzug, «die Traditionen sind uns nicht so wichtig.»

Ein gleichberechtigter Islam

Und auch wenn die Mutter der Braut schon eine Matratze für das junge Paar in eines der kleinen, ein wenig feuchten Zimmer ihres Hauses gelegt hat, so hat der junge Mann andere Pläne. «Ich werde uns ein eigenes Haus kaufen, und da werden wir hinziehen», erklärt er. In sein Haus. Seine Frau hat keine Probleme damit. «So ist es doch überall auf der Welt», sagt sie und lächelt scheu. Man findet wenig von der stolzen Weiblichkeit der Königin in ihr, und die Königin wird traurig schauen am nächsten Tag, wenn sie die Ansichten des jungen Brautpaars hört. Denn viele alte Leute in den Dörfern erzählen ähnliche Geschichten. Von jungen Menschen, die in die Städte abwandern und die Traditionen vergessen.

In der Moschee jedoch zeigt sich wieder, wie sehr die Minangkabau abseits der arabischen Welt einen gleichberechtigten Islam geschaffen haben. Eine junge Muslimin eröffnet vorne stehend die Zeremonie, Frauen und Männer sitzen gemeinsam im Gebetsraum, im Rücken der Gläubigen rennen junge Mädchen umher. Kennt man die arabische Welt, wagt man seinen Augen nicht zu trauen. Vor der Moschee pinkelt ein kleines Mädchen auf die Stufen. Der Imam, der die Hochzeit leitet, sieht das Ganze nach der Zeremonie entspannt. Er sitzt in einem kleinen Imbiss neben der Moschee.

Teigtaschen, grosse Tofubrocken in Bananenblättern vor sich. Aus einem alten Radio dröhnt indonesischer Pop. Wie die Königin sieht auch er keinen Widerspruch zwischen Matriarchat und Islam. Eher erstaunt ihn die Frage. Es seien doch alles gute Muslime hier. Aber die Widersprüche zum Koran, das Erbe, Frauen mit Männern beim Gebet? Er lächelt, ein Mann in den Fünfzigern, milde Gesichtszüge. «Was kann Gott dagegen haben? Die Männer gingen früher raus und jagten, die Frauen blieben im Haus. Warum soll es ihnen dann nicht gehören?» Patriarchat? – Nein, das würde er sich nicht wünschen. «Es funktioniert doch gut. Warum sollten wir das ändern?»

Probleme mit den strenger Gläubigen in Indonesien halten die Minangkabau aus. Selbst einen über 30-jährigen Krieg gewannen sie im 19. Jahrhundert gegen die wahabitisch beeinflussten Padri-Krieger. Deswegen, so der Imam, wird sich auch in Zukunft nichts grundlegend am Matriarchat ändern. Und wenn er mal nicht das Gebet leiten kann, sagt er zum Abschied, dann kann das auch eine Frau tun. Er steht auf und geht zu seiner Moschee. Ein paar junge Frauen stehen davor, lächeln ihn an. Er lächelt zurück – und zwinkert.

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