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Betreuung im Alter

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Betreuung im Alter

  • Text: Barbara LoopIllustration: Lisa Rock

Stunden auf der hohen Kante – Ich helfe, damit mir später geholfen wird: Auf diesem Prinzip gründet ein St. Galler Pilotprojekt.

Gottfried Lindner (74) hat alle Hände voll zu tun: An zwei halben Tagen pro Woche macht er für Seniorinnen und Senioren die Steuererklärung. Damit ist Lindner einer von 1800 Mitwirkenden von Pro Senectute im Kanton St. Gallen, die im Rahmen des Programms Sozialzeit-Engagement im letzten Jahr rund 240 000 Arbeitsstunden geleistet haben. Für seine Dienste wird Lindner mit einem kleinen Entgelt entschädigt.

Würde er diesen Einsatz aber auch leisten, wenn er nicht mit Geld, sondern mit Stunden und Minuten bezahlt würde? Diese Frage zielt auf das Projekt «Zeitvorsorge» ab, mit dem die Stadt St. Gallen eine Pionierrolle bei der Betreuung von Seniorinnen und Senioren übernehmen will. Die Idee ist einfach: Wer Freiwilligenarbeit leistet, erhält die Arbeitszeit auf ein Zeitkonto gutgeschrieben und hat später Anspruch auf Gegenleistungen im selben Zeitumfang. Das «Zeitvorsorge»-Projekt soll vor allem Menschen ansprechen, die frisch pensioniert sind und viel Zeit haben, die es zu füllen gilt. Die Aussicht, dass man sich mit dem gesparten Zeitguthaben im hohen Alter eine Betreuung leisten kann, wie sie heute fast unbezahlbar ist, soll auch Rentner anlocken, die sonst keine Freiwilligenarbeit leisten würden.

Ein Zeitguthaben kann man sich etwa als Computer- oder Sprachlehrerin, als Haushaltshilfe oder Jasspartner erwirtschaften. «Ältere Menschen schätzen es, wenn sie auch mit Gleichaltrigen in Kontakt kommen», sagt Thomas Diener, Geschäftsleiter von Pro Senectute Kanton St. Gallen, der das Projekt begrüsst. Jeder Lösungsansatz, der dazu beitragen kann, Hilfe- und Betreuungsleistungen zu optimieren, sei willkommen. Fraglich bleibe nur, ob die Umsetzung auch funktioniert. Denn wer kann schon garantieren, dass in zwanzig Jahren Freiwillige für die Zeitvorsorge arbeiten wollen? Notfalls möchte die Stadt den Leistungsbezug mit eigenen Mitteln finanzieren. «Aber ich bin überzeugt, dass das Projekt zu einem Selbstläufer wird, sobald es sich etabliert hat», sagt Katja Meierhans vom Amt für Gesellschaftsfragen der Stadt St. Gallen. «Bester Beweis hierfür ist, dass sich bereits rund 300 Interessenten gemeldet haben.»

Stimmen Stadtrat und Stadtparlament der «Zeitvorsorge» zu, kann das Projekt im Frühling des nächsten Jahres starten. Für den Rentner Gottfried Lindner kommt das aber zu spät. «Damit fang ich jetzt nicht auch noch an», sagt er. «Vielleicht könnte ich mir aber die Arbeitszeit gutschreiben lassen, die ich als freiwilliger Fahrer fürs Rote Kreuz geleistet habe?»

Leiste in der Zeit, so hast du in der Not

Keine Gesellschaft ist so alt wie die japanische: Von den 127 Millionen Einwohnern sind rund 20 Prozent über 65-jährig. In der Schweiz sind es knapp 17 Prozent. Die japanische Regierung hat schon 1995 mit dem Zeitsparmodell «Fureai Kippu» auf diese Herausforderung reagiert: Für eine geleistete Stunde Hausarbeit erhalten die Freiwilligen ein Ticket, das sie für sich selbst oder jemand anders einsetzen können. So kann zum Beispiel eine Tochter für ihre weit entfernt lebende Mutter Zeitgutschriften erarbeiten. Diese Zeitgutschriften können aber auch gekauft werden: Das Guthaben von einer Stunde kostet zwischen fünf und acht Franken.