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Wenn man per Autostopp um die Welt reist

Reisen

Wenn man per Autostopp um die Welt reist

Ein Journalist aus Winterthur hat in Kanada das Trampen für sich entdeckt – und sich vorgenommen, einmal per Autostopp die Welt zu bereisen.

«Einige sagen, Autostöpplen sei Schmarotzen. Das finde ich nicht. Bezahlen tut man ja – mit seiner Gesellschaft. Sowieso: Wenn man mit jemanden mitfährt, nimmt man ihm nichts weg. Er wäre die Route sowieso gefahren.

Das Trampen für mich entdeckt habe ich in Kanada. Ich war 19, reiselustig und knapp bei Kasse. Weil es damals so hervorragend geklappt hatte, fasste ich einen Entschluss: Irgendwann reise ich per Autostopp um die Welt. Vorher wollte ich aber eine Zeit lang als Wirtschaftsjournalist arbeiten, um in der Branche Fuss zu fassen und Geld zu sparen. Acht Jahre später – am 1. Juni 2015 – setzte ich meinen Plan in die Tat um. Während meine damalige Freundin, die heute meine Ehefrau ist, und meine Mitbewohner zur Arbeit fuhren, ging ich an den Winterthurer Strassenrand. Dort streckte ich den Daumen in die Luft. Und wartete. Grosse Ungewissheit machte sich in mir breit. Nach zehn Minuten erlöste mich Fabian, mein erster Fahrer. 1008 weitere Fahrer folgten. In 811 Tagen legte ich rund 78 000 Kilometer zurück, fuhr durch 52 Länder, unter anderem durch Österreich, Bulgarien, Usbekistan, China, Thailand, Japan, Kanada, Kolumbien, Brasilien, Spanien. Die Ozeane überquerte ich mit dem Frachtschiff, ansonsten war ich im Auto unterwegs. An viele meiner Chauffeure kann ich mich nicht mehr genau erinnern, einige jedoch werde ich nie vergessen. Etwa den Schweizer Förster, der bei einem Unfall einen Arm verloren hatte – und trotzdem positiv durchs Leben geht. Oder den brasilianischen Lastwagenfahrer, der zwei Familien hat, die nichts voneinander wissen. Ebenso denkwürdig sind die 900 Kilometer, die ich mit einem Trump-Anhänger unterwegs war. Wegen Begegnungen wie diesen sehe ich die Welt heute nicht mehr schwarz-weiss: Auch ein Trump-Wähler kann das Herz am rechten Fleck haben. Genauso können Männer, die betrügen, auch gute Seiten haben.

Einmal traf ich eine junge Frau, die stöpplete; für Frauen ist diese Art der Fortbewegung im Allgemeinen wohl etwas gefährlicher. Brenzlige Situationen gab es bei mir zum Glück nie. Auch mir wurde grosses Vertrauen entgegengebracht. Ein Bulgare, in dessen Auto ich gerade erst eingestiegen war und mit dem ich mich kaum verständigen konnte, liess mich allein im Auto zurück – obwohl der Autoschlüssel noch steckte. Vielleicht lag das auch an meinem einigermassen gepflegten Äusseren. Viele meiner Fahrer sagten mir, sie hätten zuvor noch nie einen Tramper mitgenommen: «But you look clean.» In den USA und Kanada traf ich auf Hippies, die zum Teil seit Tagen auf eine Mitfahrgelegenheit warteten. Ich stand im Schnitt nur etwa zehn Minuten am Strassenrand. Rastas und Hanfhosen verlängern wohl die Wartezeit. In vielen Ländern war ich der Einzige, der stöpplete. Dementsprechend wenig wussten die Einheimischen über das Reisen per Anhalter. Im Iran übergab mich einer meiner Fahrer der Polizei. Nicht weil ich etwas verbrochen hatte, sondern weil er mir so die Weiterfahrt organisieren wollte. Die Polizisten bestanden darauf, mir den Bus nach Teheran zu zahlen. Obwohl das gegen mein Reiseprinzip verstiess, willigte ich ein. Es wäre unhöflich gewesen, ihre Hilfe auszuschlagen. Die Hilfsbereitschaft war auch in anderer Hinsicht oft überwältigend. Im Iran und in der Türkei hätte ich jede Nacht bei meinen Fahrern übernachten und essen können.

Die Gastfreundschaft, die ich auf meiner Reise erfahren habe, lässt sich kaum in Worte fassen. Zurück in der Schweiz möchte ich etwas davon an die Welt zurückgeben. Manchmal bin ich dabei wohl ein wenig übereifrig. Ich habe auch schon Leuten eine Mitfahrgelegenheit angeboten, die gar nicht am Trampen waren. Das führte dann zu irritierten und ängstlichen Blicken. Gut meinte ich es auch am Bahnhof Winterthur, als ich eine in Tränen aufgelöste Frau fragte, was los sei und ob sie einen Platz zum Übernachten brauche. Ich vermutete eine grosse Lebenskrise. Doch etwas ganz anderes war für ihre Tränen verantwortlich: Ihr Zug von Köln war zwei Stunden verspätet angekommen.»

Thomas Schlittler (30), Journalist, Winterthur