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Das Vollgastheater: Martin Zimmermann und Dimitri de Perrot mit «Hans was Heiri»

Das Vollgastheater: Martin Zimmermann und Dimitri de Perrot mit «Hans was Heiri»

  • Text: Julia HoferFotos: Sébastien Agnetti

Wenn auf der Bühne alles in Schieflage gerät und dem Publikum vor Begeisterung der Atem stockt, dann sind Zimmermann & de Perrot am Werk. annabelle war dabei, als die beiden Zürcher Theatermacher mit «Hans was Heiri» das legendäre Théâtre de la Ville in Paris eroberten.

Ich habe noch nie verstanden, warum man hier die Gastronomie neu erfinden will», stöhnt Zimi über seine Stammbeiz, das Zürcher «Les Halles». Er stellt sich in die Warteschlange, um das Essen am Tresen zu bestellen, dann holt er – das Besteck in der Hand – an der Bar ganz hinten im Raum ein Mineralwasser, so will es das etwas umständliche Konzept. Es duftet nach Biomarkt, alten Sofas und Moules et frites. Dimi seufzt, er habe «uh Hunger». Martin Zimmermann, den alle Zimi nennen, und Dimitri de Perrot, den alle Dimi nennen, wirken etwas abgekämpft, sie kommen gerade von einer Monster-Skype-Sitzung mit ihrem Pariser Tourmanager. Es gibt viel zu organisieren. Erst vor einigen Tagen hat ihr neues Theaterstück im Théâtre Vidy-Lausanne Premiere gefeiert. Einmal mehr haben die beiden ein Stück auf die Bühne gebracht, das ebenso fulminant wie poetisch ist und einen zugleich staunen lässt und glücklich macht. «Hans was Heiri» ist ein temporeiches, gescheites Stück, das die Gähnattacken, die man so oft mit Theater assoziiert, Lügen straft. Inhaltlich geht es diesmal um die Sehnsucht nach Individualität – und die Erkenntnis, dass das Besondere manchmal ganz schön anstrengend sein kann. Und am Schluss der Hans trotzdem häufig was Heiri ist. 

ANNABELLE: Martin Zimmermann, Dimitri de Perrot, ich muss gestehen, ich kann eigentlich nichts mit Theater anfangen.
MARTIN ZIMMERMANN: Das geht mir auch oft so.
DIMITRI DE PERROT: In der Schweiz geht den meisten bereits der Laden runter, wenn man nur das Wort Theater in den Mund nimmt. Man geht ins Kino oder an ein Konzert, aber nicht ins Theater.
ZIMMERMANN: Es kommen aber auch nur wenige gute Produktionen in die Schweiz. Hier spielt man lieber «Warten auf Godot» in der hundertsten Fassung.

Eure Stücke sind anders, sie berühren mich. Hat das auch damit zu tun, dass ihr euch getraut, unterhaltsam zu sein?
ZIMMERMANN: Ich habe eine Zirkusschule besucht und bin mehr Clown als Schauspieler. Und Dimi kommt als DJ von der Musik her. Zirkus und Musik sind beides sehr populäre Gattungen. Das erleichtert den Zugang zu unseren Stücken natürlich schon.
DE PERROT: Auch das Artistische spielt bei uns eine Rolle, wir arbeiten oft mit Zirkusartisten und Tänzern zusammen. Aber das Kunststück muss über die Technik hinausgehen. Ein Salto ist nur dann gut, wenn er etwas darstellen kann, eine Emotion, eine Verrücktheit oder wie kompliziert jemand denkt.
ZIMMERMANN: Manche können auf der Bühne stehen, und es passiert nichts. Andere haben ein ganz spezielles Charisma, so wie der grosse Balletttänzer Mikhail Baryshnikov: Er ist nicht nur höher als alle anderen gesprungen – er ist geflogen!

Kennen gelernt haben sich Zimmermann und de Perrot in Zürich

Zimi war 19 und machte eine Lehre als Dekorateur, Dimi war 14 und legte an den stadtbekannten Partys auf, die Zimis Kollegen veranstalteten. An einer dieser Partys kam Zimi zu ihm hinters DJ-Pult, begeistert, dass sein Freund, der auch in einer Band spielte, gerade seine «eigene» Scheibe aufgelegt hatte, und brüllte ihm den Satz ins Ohr, der ihre Zusammenarbeit begründen sollte: «Chumm, mir mached emal öppis zäme!» Dimi ist noch Jahre später gerührt, wenn er sich daran erinnert, richtig «baff» sei er gewesen, dass sich im coolen Zürich einer getraut habe, so was zu sagen, einfach so, aus dem Herzen.

Es sollten noch einige Jahre verstreichen, bis die beiden mit dem Tänzer Gregor Metzger ein Trio bildeten, doch war bereits ihr erstes Stück «Gopf» so erfolgreich, dass sie damit in halb Europa auftraten. Nach sieben Jahren war aus dem Trio ein Duo geworden, Metzger ging seine eigenen Wege. Zimmermann & de Perrot brachten die Stücke «Gaff Aff», «Öper Öpis», «Chouf Ouchouf» auf die Bühne, jedes ein Feuerwerk. Fragen und Gedanken über den modernen Menschen, der aus der Bahn gerät, über schiefe Ebenen stolpert, im Hamsterrad hechelt, an Grenzen stösst; kurz: sich bemüht und abstrampelt und sich letztlich doch so oft abhandenkommt. Sie räumten fast jede Auszeichnung ab, die die Branche zu vergeben hat. Wo immer sie auftraten, überschlug sich die Presse: «Ein Mix aus Absurditäten, Cartoon-Zitaten und Modern Dance!», staunte der «Guardian», «C’est magique!», jubelte kurz und knapp «Le Monde».

Auch mit dem neuen Stück «Hans was Heiri» ist eine grosse Tournee geplant, London, Madrid, New York, Istanbul, Neapel, Athen, zurzeit verdichtet sich der Spielplan täglich. Zimi bearbeitet seinen Salat und die Chèvre-Brötchen, die mittlerweile auf dem Tisch stehen, sein knochiges Gesicht ist ständig in Bewegung. Dimi macht grosse Augen und Falten auf seiner Denkerstirn, er stopft sein Schnitzel in sich rein, als wäre er kurz vor dem Verhungern. «Aber zuerst gehts ins Théâtre de la Ville nach Paris», sagt er mit kindlicher Begeisterung und viel Fleisch im Mund, das ist der Wahnsinn.»

«Hans was Heiri» in Paris

Wenn das Théâtre de la Ville in Paris die «Kathedrale des Tanzes» ist – und darin ist man sich in der Szene einig –, dann war Gérard Violette, der das Haus 25 Jahre lang geleitet hatte, «le pape». Er hat den zeitgenössischen Tanz massgeblich beeinflusst, indem er so wichtige Tänzerinnen und Choreografinnen wie Pina Bausch, die als erste Tanz und Theater mischte, über Jahre hin aufbaute. Dabei nahm er in Kauf, dass die Hälfte des Publikums den Saal verliess, über Monate hinweg. «Gérard Violette hat das Publikum erzogen», sagt Zimi mit Bewunderung in der Stimme. Der Direktor, der vor zwei Jahren in den Ruhestand trat, sei kein Kulturmanager gewesen, setzt Dimitri in derselben Tonlage ein, sondern ein Künstler, «auf seine Art genauso durchgeknallt wie wir». Vor den beiden haben es nur gerade drei andere Künstler aus der deutschen Schweiz auf die Bühne des legendären Theaters geschafft: Mummenschanz, der Clown Dimitri und die Kompagnie von Christoph Marthaler. Jahrelang haben Zimi und Dimi von diesen Brettern geträumt. In drei Wochen fährt der TGV.

Endlich. Der grosse Tag ist da. Die imposante haussmannsche Architektur des Théâtre de la Ville ruht wie ein Koloss an bester Lage, direkt an der Seine. Im einen Schaukasten prangt das Plakat der Zürcher, im andern das der grossen Pina Bausch. Drinnen füllt sich der riesige Saal. Auch bekannte Gesichter wie Jean-Paul Gaultier, Jane Birkin, Michel Piccoli und Isabelle Huppert schleichen sich herein. Die 987 sandfarbenen Sitzplätze sind steil angeordnet – «die Zuschauer türmen sich wie eine Mauer vor dir auf, auf der Bühne erdrückt es dich beinah», wird Zimi später sagen. Hinter dem Vorhang verbirgt sich die Bühne, dieses schwarze Monster, das es zu bändigen gilt. Das Theaterpublikum erscheint «habillé sans effort», einer trägt Flipflops und eine Zeichnungsmappe unter dem Arm. Hier hat es niemand nötig, die Angst, das Stück nicht zu verstehen, hinter einem perfekten Styling zu verbergen. Man sieht greise Ehepaare, die sich Stufe um Stufe die Treppe zu den oberen Saaleingängen hinaufstützen, und aufgeregte kleine Mädchen in geringelten Strümpfen. Doch der entspannte Eindruck täuscht: Dieses Publikum ist mindestens so legendär wie das Theater selbst. Dimi sagt, es funktioniere nach dem Motto «Le roi c’est moi» – man verlässt demonstrativ den Saal, wenn das gebotene Stück nicht gefällt. Jeder, der hier auftritt, hat Angst vor dem lauten Tok, das die Klappstühle von sich geben, wenn sie gegen die Rückenlehne knallen, weil jemand aufsteht und rausgeht.

Das Schwatzen des Publikums verdichtet sich zu einem lauten Sirren, über den Köpfen liegt ein Hauch Dunst – erst glaubt man, dies sei der aufgeregten Erwartung des Publikums geschuldet. Doch als sich der Vorhang hebt und das geschwätzige Sirren nicht leiser, sondern lauter wird und die ersten Zuschauer genervt «Pssst!» zischen, wird klar, dass sich die frechen Schweizer einen Scherz erlaubt haben: Dimi hat das Geplauder live aufgenommen, verstärkt und einen Schuss Nebel in den Saal gepustet. Nun schwillt der Sound an, das spektakuläre Bühnenbild – vier Zimmer, die sich wie ein Riesenrad drehen und dauernd in Schieflage geraten – kommt in Fahrt: Menschen gehen über Wände, hängen kopfüber von Decken, werden zu Bildern, fallen aus Bildern. Ein bärtiger Typ schmettert mit nie gehörter, heiserer Inbrunst «I’m calling you, why don’t you hear me?»

Für Zimmermann & de Perrot müssen die Interpreten Charakter haben – innerlich, aber auch rein visuell. «Schönheit bringt uns nichts», sagt Zimi am nächsten Tag in der Brasserie Mistral, gleich beim Theater. «Wir brauchen Leute, die aus der Norm fallen.» Das Interesse am Unperfekten setzt sich in der Choreografie fort: «Hans was Heiri» sei aus einer intensiven Auseinandersetzung mit menschlichen Fehlern und Unzulänglichkeiten entstanden, sagt Dimi. «Denn wenn der Mensch stolpert, ist er am nächsten bei sich selbst.» Heute wolle jeder ein perfektes Bild von sich abgeben. Und vor lauter Wollen sei man nicht mehr in der Lage, das Leben zu leben. Dabei sei das Leben doch «uh viel» – seine Stimme klingt ganz weich –, auch wenn es ganz normal sei. «Wir müssen lernen, uns so gern zu haben, wie wir sind.» Für ihn sei es das Schönste, wenn sich das Publikum im Stück wiedererkenne und über sich selbst lachen könne. Denn: «Wenn man das kann, ist man frei und bei sich.»

Vielleicht bescherte Zimi seinen Nachbarn bereits als Knirps solche versöhnliche Momente: Er sei in einem langweiligen Dorf im Zürcher Oberland aufgewachsen, erzählt er, und habe sich schon früh in die Welt der Manege hineingeträumt und ständig Vorstellungen gegeben. Zirkus deshalb, weil sein Vater jedes Jahr mit ihm den Knie besucht habe, ansonsten sei er kaum mit Kultur in Berührung gekommen. «Ich komme wirklich nicht aus einem …» – in diesem Moment klopft ihm ein Mann in roter Allzweckjacke auf die Schulter. Der Vater, tatsächlich! Zimi umarmt ihn, freut sich, dass er extra nach Paris gereist ist, um die für den Sohn so wichtige Vorstellung zu sehen. Später wird er die Frage, was der Vater von ihren Stücken halte, so beantworten: «Ich glaube, er hat Freude daran, über uns die Welt des Theaters zu entdecken.»

Ein älterer Kellner mit schiefen Zähnen serviert schwungvoll die bestellten OEufs au mayonnaise. Das «Mistral» ist eine Brasserie, wie man sie in Paris an jeder Strassenecke findet: Mobiliar, dessen lautes Rot ins Schäbige sinkt, und mürrische Kellner, die auf jeder Bühne bestehen würden. An der Wand wird für «Hans was Heiri» geworben. Er sei noch nie im Théâtre de la Ville gewesen, meint der Kellner auf das Plakat deutend, obwohl er doch derjenige sei, der die Tänzer und Schauspieler mit Steak et frites versorge. Zimi kann es nicht fassen. Er notiert seinen Namen, um ihn auf die Gästeliste zu setzen.

Und wie schafften es Martin Zimmermann und Dimitri de Perrot, ins Théâtre de la Ville eingeladen zu werden?

Vor Jahren spielten sie «Gaff Aff» fünf Wochen auf einer kleinen Bühne in Paris, sechs Vorstellungen pro Woche. Damals produzierten sie noch alles eigenhändig, sogar die Plakate klebten sie selbst. An einem der letzten Abende mischte sich der Assistent des Direktors des Théatre de la Ville unters Publikum, ein Mann, beinah so legendär wie sein Chef Gérard Violette: Der über Achtzigjährige hatte in seinem Büro stets einen gepackten Rucksack stehen, damit er auf Geheiss des Direktors sofort abreisen konnte, um sich irgendwo auf der Welt ein interessantes Stück anzusehen. «Wir waren hundemüde und hatten sooo Ringe unter den Augen», erinnert sich Dimi. Nach der Aufführung gab sich der Abgesandte, begeistert, zu erkennen. Trotzdem liess Gérard Violette in der Folge nichts von sich hören. Als sich herumsprach, dass Violette bald in den Ruhestand treten werde, unternahmen sie einen letzten Versuch: Sie schrieben ihm eine Postkarte und baten um ein Gespräch, «wir mussten einfach wissen, was er von uns hält».

Und tatsächlich, sie erhielten einen Termin. Leicht verkatert – am Abend zuvor hatten sie im «Mistral» zufällig Christoph Marthaler getroffen, der als Intendant alle ihre Stücke ans Zürcher Schauspielhaus geholt hatte – betraten sie das Büro von Gérard Violette. Die bärtige, imposante Persönlichkeit hielt es nicht für nötig, den Besuch zu grüssen. Doch nach einer Viertelstunde kramte er seine Agenda aus der Schublade, hob die Augen und sagte: «Im April 2012 ist noch was frei. Sollen wir dann euer neues Stück zeigen?»

Minuten später stürmten Zimi und Dimi raus und feierten – das Leben und Violette, der sie gebucht hatte, obwohl selbst er vermutlich nicht so genau wusste, was die beiden Schweizer eigentlich treiben. Aber egal, «man muss nicht wissen, was es ist», sagt Dimi. Und Zimi erinnert an das «beste Interview, das wir je gaben»: Es besteht aus der ernsten Aufforderung eines Fernsehjournalisten, ihre Arbeit zu beschreiben und – als Antwort darauf – einem Lachanfall. Sie hätten einfach keine Antwort mehr gefunden auf die Frage, die man immer wieder an sie richtet. Es spricht für sich und für die beiden Theatermacher, dass dieser Filmausschnitt das Erste ist, was man von Martin Zimmermann und Dimitri de Perrot sieht, wenn man ihre Website besucht.

Das Erste, was man vom Publikum im Théâtre de la Ville hörte, nachdem sich der samtschwere Vorhang gesenkt hatte, war ebenfalls vielversprechend. Es war ein ganz kurzer Moment konzentrierter Stille, ein angehaltener Atem, der sich aufs Mal in tosenden Applaus ergoss. Bravorufe wurden auf die Bühne geschleudert, hart und bestimmt wie Pingpongbälle. Emmanuel Demarcy-Mota, der in die Fussstapfen von Gérard Violette getreten ist, wirkte nach der Vorstellung erleichtert. Es sei nicht selbstverständlich, sagte er, dass einer Kompagnie in seinem Haus ein so herzlicher Empfang beschert werde. Er wird das Stück im nächsten Jahr noch einmal zeigen. Und weitere Stücke koproduzieren. Zimi sagt: «Das bedeutet so viel wie: Wir gehören zum Haus.»

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