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Kuscheln mit Fremden

Leben

Kuscheln mit Fremden

  • Redaktion: Viviane Stadelmann; Foto: iStock

Mit wildfremden Menschen kuscheln und Zärtlichkeiten austauschen – auf solch eine Idee wäre unsere Autorin nie gekommen. Dennoch hat sie sich für einen Kuschelabend mit Fremden angemeldet und dabei ganz viel Nähe erlebt – am Ende vor allem auch zu sich selber.

Immer mehr Menschen setzen sich zu mir ins Zugabteil, stehen sich in den Gängen auf die Füsse. Während es enger wird, verspüre ich sogar das erste Mal den Wunsch, freiwillig meine Wohnung zu putzen. Oder den Wäschehaufen zu bekämpfen. Eigentlich wären mir alle unangenehmen Hausarbeiten lieber, als das, was gleich kommt: nämlich drei Stunden mit Fremden zu kuscheln.

Grundsätzlich bin ich für alles offen und mit einer seltsamen Faszination für eigenartige Erlebnisse ausgestattet. Also sagte ich – wie so häufig – vorschnell und impulsiv für den Kuschelabend zu. Die Tage verstreichen, und durch nicht gerade bestärkende Kommentare von Freunden, kommen Zweifel auf. Ich ertappe mich, wie ich Mitmenschen an der Tramhaltestelle und an der Supermarktkasse mustere. Wird die Frau vor mir, mit dem XL-Pack Zwieback und dem Wodka, schon bald in meinen Armen liegen? Werde ich den alten Herrn mit der abgegriffenen Lederjacke dort drüben innig umarmen?

Bei der Vorbereitung für den Kuschelabend fühle ich mich wie vor einem ersten Date: Ich bin frisch geduscht, die Zähne sind geputzt und die Kleider sorgfältig ausgewählt. In der «Kuschelknigge» zum Kurs steht, man solle in bequemen Kleidern «ohne Reissverschlüsse, Knöpfe, Gürtel oder Schmuck» kommen. Ausserdem seien «starke Strukturen wie Rillen, harte Nähte, eingewobene Noppen nicht so angenehm». Gar nicht so einfach, etwas Passendes zu finden. Und gleichzeitig frage ich mich: Wie nahe wird man sich kommen, wenn sogar eine Naht zum Störfaktor wird? Den rosa Pulli verwerfe ich zugunsten eines roten – ich will lieber tough, nicht mädchenhaft wirken. Nur wenige Minuten brauche ich vom Bahnhof zum Kursraum. Verstohlene Blicke werden ausgetauscht, die ersten Ankömmlinge gemustert, ein erstes Durchschnaufen. Die gemeinsame Aufregung im Raum lässt die persönliche etwas verfliegen. Und es beruhigt mich, dass ich weder die Frau vom Supermarkt noch den Typen mit Lederjacke sehe.

35 Franken kosten drei Stunden kuscheln – soviel wie eine Lektion Yoga. Als ich der Leiterin des heutigen Abends und ihrer Helferin meine Hand zur Begrüssung hinstrecke, werde ich stattdessen umarmt. Ein Kuschelabend ist schliesslich kein Businessmeeting. Entgegen meiner Natur fühle ich mich seltsam schüchtern. Um gegen dieses Gefühl anzukämpfen, umarme ich danach beinahe jeden Neuankömmling, bis ich mir blöd vorkomme und ich merke, dass es einigen befremdlich anmutet. Mit so einem Andrang habe ich nicht gerechnet. Meine Anspannung fällt von mir ab: Meine 34 Kuschelkollegen sind viel normaler als in meiner Vorstellung. Die jüngste Teilnehmerin ist wohl etwa Ende zwanzig, der älteste vielleicht 65. Es gibt viele Frauen, alle wirken gepflegt und freundlich.

Im ersten Teil des Abends geht es darum, sich locker zu machen. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde verteilen wir uns im Raum und tanzen. Erst mal mit geschlossenen Augen bisschen mitwippen. Ein Discoklassiker wird aufgelegt. Dann heisst es, mit offenen Augen durch den Raum zu tanzen. Ab und zu Blickkontakt suchen. Sich an erste Berührungen wagen, mal jemanden mit der Hand streifen, den Ellenbogen einhaken. Lucianna Braendle führt uns mit sanften Anweisungen durch das Getanze und Gehample. Und das ist durchaus komisch. Aber es erfüllt seinen Zweck: Viel peinlicher kann es nämlich für die meisten wohl nicht werden. Und das löst nicht nur die Anspannung, es erzeugt auch ein Gemeinschaftsgefühl. Wir sind uns schon drei Songs näher als fremd.

Die Musik wird wieder langsamer. Ganz nah sollen wir aneinander vorübergehen, die Energie des anderen spüren. Nach einer Weile tummeln wir uns wie Pinguine in der Mitte. Lehnen etwas aneinander an, berühren uns am Rücken, an den Armen, aber ohne die Hände zu benutzen oder tatsächlich eine Berührung zu initiieren. An jedem Konzert hat man zu den Besuchern im Gedränge mehr Körperkontakt – und trotzdem fühlt sich diese Nähe bewusst und intimer an. Lucianna Braendle fordert uns immer wieder auf, uns selber zu spüren und unseren Innenraum wahrzunehmen und abzustecken. Berührungen, die sich weniger gut anfühlen, sollen wir lösen und uns den Raum suchen, den wir brauchen.

Für den zweiten Teil legt sich jeweils eine Person mit verbundenen Augen auf die Matte. Daneben setzen sich eine oder zwei weitere. Nun darf der oder die «Königin» wünschen, wie sie berührt werden möchten. Geschlechtsregionen und erregende Berührungen sind ausgeschlossen – auch das gehört zum «Kuschelknigge». Wir sollen die Berührungen mit voller Aufmerksamkeit der anderen Person schenken. Ich empfinde den Umgang miteinander als sehr behutsam und respektvoll. Zwischendurch aber schweife ich kurz ab mit meinen Gedanken: Was macht diese Person eigentlich im realen Leben? Ist er vielleicht ein Rechtsradikaler? Oder sie, deren Rücken ich streichle, von boshafter Natur? Der ganze Abend lief bisher ohne Konversationen ab. Meine Gefühle sind ambivalent: Einerseits ist es irritierend, absolut nichts über eine Person zu wissen und sie so zu berühren, andererseits ist es irgendwie egal, denn es fühlt sich tatsächlich natürlich an.

Zum Abschluss wartet der Kuschelhaufen. Wir legen uns hin, Hardcore-Kuschler in der Mitte, andere suchen sich ihren Platz am Rand. Ich habe mir aussen ein Plätzchen gesucht, berühre jemanden leicht an der Wade, an der Schulter und habe seit zehn Minuten eine Hand auf dem Gesicht. Nichts davon ist mir unangenehm. Darüber muss ich selber schmunzeln. Ich bin versöhnt mit dem Abend und stolz darauf, mich überwunden zu haben. Ich schliesse die Augen und werde müde, fast döse ich ein. In dem Moment möchte sich jemand in eine kleine Lücke nah bei mir kuscheln. Die Berührung ist zu plötzlich, reisst mich aus meiner Trance und kommt mir zu nahe. Wie Lucianna Braendle sagt: Achte auf deinen eigenen Raum. Also löse ich mich davon und stehe auf.

Ich selber habe das Privileg, Zärtlichkeiten von meinem Freund zu erhalten, wann ich es möchte. Hat man das aus verschiedenen Gründen aber nicht, muss so ein Kuschelabend ein Geschenk sein, um dennoch menschliche Nähe zu spüren. Ich fühle mich nach dem Selbstversuch vor allem entspannt und ermutigt. Ich habe meine Hemmungen abgeschüttelt und im richtigen Moment auf mich selber gehört. Ob ich die Nähe fremder Menschen zur Stosszeit immer noch einengend fände? Auf dem Rückweg sitze ich allein in einem Viererabteil. Und bin auch ganz froh drum.