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Autorin Sandra Konrad: «Viele können ihren Eltern keine Grenzen setzen»

Familie

Autorin Sandra Konrad: «Viele können ihren Eltern keine Grenzen setzen»

  • Text: Marah Rikli
  • Bild: Kirsten Nijhof, Collage: annabelle

Woran erkennen wir, dass wir mit unseren Eltern zu verstrickt sind? Wie gelingt die Ablösung – und warum ist sie so wichtig? Psychotherapeutin Sandra Konrad hat darüber ein Bestseller-Buch geschrieben.

annabelle: Vor ein paar Wochen war ich mit meinem Vater in den Ferien. Wir haben ein gutes Verhältnis. Als er mich jedoch väterlich ermahnte, mein Handy wegzulegen und mich auf die Landschaft zu konzentrieren, konterte ich in einer Tonlage, wie früher als Teenager. Ist das ein typisches unabgelöstes Verhalten gegenüber den Eltern?
Sandra Konrad: Was Sie schildern, ist der totale Klassiker. Viele Menschen rutschen unbewusst und automatisch in die Rolle des Kindes, wenn sie mit ihren Eltern zusammen sind. Es gibt viele emotionale Verstrickungen und Dynamiken zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern.  

Wie sehen die zum Beispiel aus?
Viele Menschen können ihren Eltern keine Grenzen setzen oder haben das Gefühl, sie müssten ständig deren Erwartungen erfüllen. Wenn die Eltern enttäuscht sind, ja, dann kommen oft Schuldgefühle auf. Oder sie glauben, selbst dürfe es ihnen nicht besser gehen als ihren Eltern, und fühlen sich deshalb schuldig. Auch sehr typisch ist, dass man sich die Eltern anders wünscht, als sie sind, und immer noch die Hoffnung hat, sie würden sich irgendwann ändern. Wenn Sie Sätze wie «Ich möchte, dass meine Eltern alles gut finden, was ich mache» oder «In der Gegenwart meiner Eltern fühle ich mich wie ein kleines Kind» mit Ja beantworten, kann das auf solche Verstrickungen hindeuten. 

Wie lösen wir uns aus diesen Stricken?
Wir sollten der Realität ins Auge sehen und radikal akzeptieren, was ist und wie unsere Eltern sind. Was sie uns geben können und konnten und was nicht. Wir können unsere Eltern nicht ändern, wir können aber unser eigenes Verhalten und unsere Mechanismen ändern. Wenn wir erwachsen sind, haben wir die Freiheit, unser Leben und damit unser Glück selbst zu gestalten. Dies ist unser Recht – und unter Umständen sogar unsere Verpflichtung uns selbst, unseren Partnerschaften und eigenen Kindern gegenüber. Je mehr wir in einer wartenden Haltung bleiben und damit in einer Rolle des Kindes, desto weniger können wir unser Leben aktiv verändern.

Das klingt einleuchtend. Doch für viele Menschen ist das ein sehr schmerzhafter und schwieriger Prozess.
Sicher, ja. Wir müssen uns dabei von Sehnsüchten und tiefsitzenden Wünschen verabschieden – das tut weh und ist keine Transformation von heute auf morgen. Wenn es uns aber gelingt, werden wir emotional unabhängiger von den Eltern sein. Und wir gewinnen viel dabei: Unser Leben wird dadurch leichter und glücklicher.  

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«Wir müssen uns von Sehnsüchten und tiefsitzenden Wünschen verabschieden»

Was braucht es dafür?
Wenn wir mal schauen, wie unsere Eltern aufgewachsen sind, was für Mangel und Verletzungen sie in ihrer Kindheit erfahren haben, entsteht oft ein milderer, erwachsenerer Blick auf sie. Im besten Fall stellen wir irgendwann fest, dass unsere Eltern die besten Eltern waren, die sie sein konnten. Ausserdem können wir uns jetzt als Erwachsene selbst ein guter Vater oder eine gute Mutter sein. Dazu gehört, dass wir Verantwortung für unsere Bedürfnisse und unsere Grenzen übernehmen. Je besser wir selbst für uns sorgen, desto eher kann auch eine angenehme Beziehung auf Augenhöhe zu den Eltern entstehen.

Wenn wir uns also mit unseren Eltern innerlich versöhnen, sind wir abgelöst?
Das ist ein Teil des Weges. Die Elternablösung ist kein einzelner Schritt, sondern ein lebenslanger Prozess. Manche Strecken davon sind einfacher, andere harziger. Wachstumsschmerzen gehören dabei ebenso dazu wie neu gewonnene Freiheit und das Gefühl, mehr Atem zu haben.  

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«Ablösung bedeutet, nicht die zu sein, die unsere Eltern sich wünschen»

Wie sieht dieser Prozess aus?
Er beginnt mit der Geburt und der körperlichen Abnabelung von der Mutter. Und geht täglich weiter. Das Kind wird mobil, kommt in elternfreie Räume wie die Schule, durchlebt die Pubertät. Es zieht aus, wird finanziell unabhängig und gründet irgendwann vielleicht selbst eine Familie. In diesen Entwicklungsschritten findet mehr und mehr eine emotionale Ablösung von den Eltern statt. Dazu gehört auch, dass wir uns von unpassenden elterlichen Erwartungen befreien.  

Woran erkennt man eine gesunde Ablösung?
Wenn wir weder in Hass noch in starker, selbstverleugnender Loyalität mit den Eltern verbunden sind. Sich so weit befreit zu haben, dass wir wählen können, was wir verzeihen, was wir ablehnen und was wir loslassen möchten. Ablösung bedeutet, nicht die zu sein, die unsere Eltern sich wünschen, sondern die zu werden, die wir sein möchten.

Viele Streitereien in Partnerschaften drehen sich ebenfalls um die Eltern oder die Schwiegereltern.
Was Sie mit Ihrem Vater erlebten, als Sie sich wieder wie ein Teenager fühlten, passiert uns auch in Partnerschaften. Sagen wir, eine Partnerin schreibt ihrem Partner eine Whatsapp «Schatz, wann kommst du heim?». Und er rastet dann aus – wie ein Teenager, weil er sich wie damals von den Eltern kontrolliert fühlt.

Was hilft hier?
Für diesen Mann ist es enorm wichtig, zu erkennen, auf wen er gerade wütend ist. Unter Umständen ist er mit einer sehr strengen, übergriffigen Mutter gross geworden. In der Paartherapie frage ich in solchen Fällen: «Wie alt fühlten Sie sich, als Sie so ausgerastet sind?» Vermutlich würde er antworten: in etwa zwölf Jahre alt.

«Das ist das Schöne am Erwachsensein. Wir sind unsere eigenen Herrinnen»

Sie sprechen in Ihrem Buch auch viel von Glaubenssätzen. Was ist damit gemeint?
Wir haben alle Glaubenssätze in uns verinnerlicht. Ein guter Glaubenssatz ist «Ich bin liebenswert». Oder: «Ich bin sicher und die Welt ist ein sicherer Ort.» Negative Glaubenssätze sind zum Beispiel: «Ich muss perfekt sein. Wenn ich nicht perfekt bin, bin ich nichts wert.»

Warum sollten wir unsere inneren Glaubenssätze kennen?
Wenn wir solche inneren Glaubenssätze erkennen, können wir sie bearbeiten und verlernen. Wie ein Radioprogramm, das unsere Eltern in uns installiert haben und wir nun verändern. Der Glaubenssatz «Ich muss immer perfekt sein» kann zu «Ich bin gut genug, ich bin liebenswert, auch wenn ich Fehler mache» werden. Das ist das Schöne am Erwachsensein. Wir sind unsere eigenen Herrinnen. Wir entscheiden, wie wir uns positionieren und wie wir mit uns selbst umgehen.  

 

«Nicht ohne meine Eltern: Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert – auch die zu unseren Eltern» (ca. 38 Fr.)

 
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