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Wie ich den Kampf gegen meinen eigenen Körper überwand

Body & Soul

Wie ich den Kampf gegen meinen eigenen Körper überwand

Über Jahre behandelte die Autorin Melodie Michelberger ihren Körper wie einen Gegner. Bis sie erkannte: Der wahre Feind ist ein anderer.

Dass die Geschichte meines Körpers eine des Versagens, der Scham und des Hasses ist, dessen war ich mir viele Jahre sicher. Ich war überzeugt, dass dieser Körper – mein Körper, der einzige, den ich jemals besitzen werde – mir Hindernisse in den Weg stellt und nie das tut, was ich von ihm will.

Mein Körper und ich waren uns fremd, ich konnte seine Form und Grenzen beschreiben, gut sogar, verstand aber nicht, wie er funktioniert. Oder besser, warum er nicht so funktionierte, wie ich wollte. Wie ich meinte zu wollen. Oder wollen zu müssen. Ich machte ihn zu einem Gegner, den ich bezwingen muss. Dass ich gegen ihn nicht gewinnen konnte, lag nicht etwa daran, dass es nichts zu gewinnen gab, sondern allein an meiner Unfähigkeit. Weder war mein Wille stark genug, noch arbeitete ich hart genug an mir. Während alle anderen Frauen deutlich besser darin waren, ihren Körper zu optimieren, gelang mir einfach gar nichts.

Aus dieser Überzeugung heraus beschäftigte ich mich über dreissig Jahre lang ständig intensiv mit dem Aussehen meines Körpers. Ich vermass ihn, wog ihn, begutachtete und beurteilte ihn, als wäre er ein Produkt, das ständiger Verbesserung bedarf. Als wäre er ein ungezügeltes Ding, das ständig im Auge behalten werden muss. Nicht ein lebendiger, sich ständig erneuernder Körper, der meiner Seele ein Zuhause gibt.

 

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«Beim Sex zog ich den Bauch ein, damit er auf keinen Fall unschön aussieht»

Jahre lebte ich, als gehörte mein Körper gar nicht zu mir. Als würde er mir im Weg rumstehen und mich von einem besseren, glücklicheren und erfolgreicheren Leben abhalten. Wie viele Dinge verschob ich auf die Zeit, wenn mein Körper endlich «schlank» und in meinen Augen damit automatisch richtig und wertvoll war. Bis dahin wollte ich Kleider nicht tragen, sagte Dates ab, ging nicht mit an den Badesee, bestellte im Restaurant nur ein Getränk und hielt lieber meinen Mund, als Kritik zu äussern. Alles aus Sorge, man würde mich nicht ernst nehmen, sich über mich, die «Dicke», lustig machen. Also sass ich voll bekleidet an Rios Copacabana, weil ich meinen Körper nicht für einen Bikini- Body hielt. Oder konzentrierte mich beim Sex darauf, den Bauch einzuziehen, damit dieser auf keinen Fall unschön aussieht.

Kampf gegen den eigenen Körper

Ich musste vierzig Jahre alt werden, um festzustellen, dass ich mit meinem Körper in einer Zweckgemeinschaft lebte, in der ich so tat, als seien wir nicht in einem Team. Erst dann begann ich, das zu hinterfragen. Wollte ich wirklich die nächsten vierzig Jahre in einem Kampf gegen meinen Körper verbringen?

Wie tief diese gefährliche Überzeugung, dass mein Körper etwas gegen mich hat, sass und immer noch sitzt, stellte ich erschrocken fest, als ich Fotos und meine Tagebücher sichtete, um zu beschreiben, was für ein dickes Kind ich war. Aus zerfledderten Heften und eingedrückten Kartonschachteln zog ich Bilder und Zettel, ich wusste genau, nach welchen Momenten ich suchte, hatte sie exakt vor Augen. Schliesslich dienten sie mir früher als Mahnmale meiner Unzulänglichkeit, als Warnung: So wollte ich auf keinen Fall je wieder aussehen! Oft wollte ich sie lieber zerreissen, so unangenehm waren sie mir, aber ich bewahrte sie aus Sentimentalität – zum Glück – auf.

Abbildungen meiner dicken Identität

Jetzt war ich auf der Suche nach Beweisen dafür, dass meine Erinnerung stimmte. Ich wusste doch, dass ich dick war. Ich hätte auf den Namen meiner ersten Katze geschworen: Mein Körper war schon immer unförmig, masslos und unangemessen.

Ich fand gelbstichige Fotos von 1979, auf denen ich im rosa Strickkleidchen glücklich ein gut gefülltes Osterkörbchen in der Hand halte. Fotos meiner Thailandreise 1999, stolz strahle ich im kurzen Taucheranzug und mit nassen Haaren in die Kamera. Und das Bild meines grössten sportlichen Erfolges als Achtjährige, als ich in meinem Lieblingsbadeanzug mit Minnie-Maus-Druck vom Fünfmeterbrett sprang. Ich ordnete die Fotos nach Lebensabschnitten und besonderen Momenten, machte einen Stapel für meine erste eigene Wohnung in Hamburg und meine Einschulung, für mein erstes Musikfestival und meine Abschlussfeier. Strategisch wollte ich nach Abbildungen meiner dicken Identität suchen. Ich erinnerte mich an ein bestimmtes Foto, auf dem ich ein knielanges, schmales Seidenkleid mit Leoprint trage. Ich wusste genau, dass ich mich darin dick fand.

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«Keines der Fotos zeigte, wie dick ich mich in all der Zeit gefühlt hatte»

Deswegen zog ich das hübsche Kleid lediglich ein einziges Mal für dieses Foto an. Als ich es endlich in den Händen hielt, ist darauf eine strahlende 23-Jährige zu sehen, das Kleid passt ihr perfekt, sie sieht toll aus. Vielleicht erinnerte ich mich falsch? Vielleicht war es doch ein anderer Moment? Schliesslich sind gut zwanzig Jahre vergangen, seit ich diese Fotos im Januar 2000 mit dem Selbstauslöser meiner Kamera gemacht habe. Ich suchte angestrengt weiter, irritiert von der Feststellung, dass ich gar nicht so dick aussah, wie ich mich fühlte. Fieberhaft überlegte ich: Wo sind die Fotos von der dicken Melanie? Nach und nach holte ich alle Fotos aus der Kiste, bis jeder freie Fleck auf dem Boden meines Wohnzimmers mit meiner Vergangenheit bedeckt war und ich mich nur noch auf Zehenspitzen bewegen konnte. Da lag meine Lebensgeschichte in vielen, vielen Bildern. Kein einziges dieser Fotos zeigte, wie dick ich mich in all der Zeit gefühlt hatte. Das konnte doch nicht möglich sein? Auf keinem sah ich eine Erklärung dafür, warum ich all diese Jahre obsessiv in die Verkleinerung meiner Figur investiert hatte.

Falsche Wahrnehmung, gestörtes Selbstbild

War mein Dicksein – der Grund, warum ich über so viele Jahre so hart zu mir war – am Ende eingebildet? Wie absurd! Vollkommen absurd. Zwischen meiner damaligen Wahrnehmung und dem, was ich heute sehen kann, klafft eine grosse Lücke. Warum litt ich all die Jahre unter der fixen Vorstellung, dass mein Körper ein einziger, riesengrosser Fehler war? Warum war ich so überzeugt davon, dass mein eingebildet dicker Körper der Grund für meine Unzufriedenheit war und sich alles wie von Zauberhand auf lösen würde, wenn ich endlich «schlank» sein würde?

Überschwemmt von Diätpropaganda

Vor mir lag der Beweis: Ich habe mich nur «dick gefühlt». So «dick gefühlt », dass ich abwechselnd magersüchtig, sport- und diätabhängig und auf jeden Fall immer unerbittlich zu mir selber war. Aber warum war mein Selbstbild so gestört? Diese Frage kann ich mittlerweile leicht beantworten: Ich lebe in einer Diätkultur, einer Gesellschaft, die von Diätpropaganda (zuweilen unbemerkt) überschwemmt wird. Vielleicht müssen einige Leserinnen ob dieser bahnbrechenden Erkenntnis ein bisschen schmunzeln, aber ich war ehrlich überrascht, dass mein Selbstbild derart verzerrt war. Und das, obwohl ich mich seit einigen Jahren mit diesem Problem auseinandersetzte und wusste, dass mich sein Einfluss krank machte.

Diätkultur ist viel mehr als «Beach Body»-Mahnungen auf Zeitschriftencovern, Slim-Fast-Werbung an jeder Bushaltestelle oder die Tatsache, dass 99 Prozent der Models bei den Fashion Weeks besorgniserregend dünn sind. Diätkultur beschreibt eine Gesellschaft, auf der ein unsichtbares Netz aus Definitionen und Glaubenssätzen liegt, das den Wert eines Menschen anhand seines Äusseren definiert. Schlank und dick sind so nicht etwa gleichwertige Varianten, sondern zwei eindeutige Gegensätze. Schlankheit ist dabei das Ideal, das ultimative Statussymbol, nach dem wir alle streben (sollten). Wer als schlank gelesen wird, gilt als schön, gesund und diszipliniert und muss das gar nicht mehr anders unter Beweis stellen, bekommt also eine Poleposition zugewiesen. Damit das funktioniert, muss das Dicksein immer das Gegenteil davon sein: Wer als dick gelesen wird, gilt als hässlich, ungesund und faul. Körperfett ist der sichtliche Beweis für Willensschwäche.

Dicksein wird als illegitim angesehen

Und das ist ein Tabu. Nicht schlank sein wollen existiert in der Diet Culture als legitime Idee nicht. Sich diesem Wertesystem zu entziehen, erscheint uns absurd, gar anmassend. Wer, bitte, will nicht dünn sein?! So wird eine Gewichtsabnahme in der Regel mit Anerkennung, Bewunderung und Wertschätzung belohnt, die Gewichtszunahme umgekehrt diskreditiert. Zu sagen, ich will gar nicht abnehmen, ist ein Affront für all jene, die die Diet Culture nicht hinterfragen oder gar nicht erst sehen, dass sie existiert. Dünnsein ist gut, und Dicksein ist schlecht – Punkt. So hören sie statt «Ich will nicht dünn sein», ganz im Sinne der Gegensätzlichkeit: Ich will gar nicht schön oder gesund oder erfolgreich sein.

«Wer als schlank gelesen wird, gilt als schön, gesund und diszipliniert»

Ich stelle mir Diätkultur als überdimensionales Puzzle mit Tausenden Teilen vor. Die Teile sind so vielfältig und passen scheinbar so gut zusammen, dass sie erst mal gar nicht als zusammengeschustertes Puzzle auffallen. Hinter allem steckt die elementare Botschaft, dass Dünnsein gut und Dicksein schlecht ist. Mir selbst fiel es jahrelang nicht auf, dass die Teile gar nicht zusammenpassten. Dass ich ihre Ecken und Kanten knicken und sie zuweilen mit der Schere stutzen musste, um sie passend zu machen.

Abnehmen wird zur Lebensaufgabe

Die letzten drei Jahre habe ich in die Dekonstruktion dieses Puzzles investiert. Das ist natürlich sehr kurz im Vergleich zu den vielen Jahren, in denen ich den Versprechungen und Leitsätzen der Diet Culture arglos glaubte. So ist es ernüchternd, aber verständlich, dass meine Körperwahrnehmung bis heute von diesen krankmachenden Überzeugungen und Unwahrheiten beeinflusst ist. Es ist nicht einfach, diese Einflüsse aus meiner Selbstbetrachtung herauszulösen und mich nicht mit solchen Augen zu betrachten. In der Diätkultur sind wir uns alle einig: Dicksein ist das, was wir nicht sein wollen. Und wenn Einzelne schon dick sein müssen, dann sollten sie sich wenigstens zusammenreissen und ultrahart daran arbeiten, nicht dick zu bleiben. Die konstante Auseinandersetzung mit dem Abnehmen wird zur Lebensaufgabe.

«Dicksein ist ein Konstrukt. Was am einen dick ist, ist am anderen richtig»

Besonders erschwert wird das, weil «schlank» zwar als Ideal gilt, aber keiner weiss, was das eigentlich heisst. Wann ist eine Person denn «schlank»? Egal wie wenig ich wog oder wie eng das Massband sass, ich fühlte mich immer dick. Mehr noch, diese Unbestimmtheit ist notwendig. In der Diätkultur ist es superwichtig, dass wir nie fertig damit sind, uns «verbessern» zu wollen. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die meisten Bauchweghosen und formende Unterwäsche, die Körper in Richtung Ideal quetschen sollen, in den Konfektionsgrössen 36 und 38 verkauft werden. Es reicht eben nicht aus, wie schmal ein Körper bereits ist. Weniger geht immer.

Kein Konsens, auch wenn wir häufig so tun

Wie absurd dieses Konstrukt ist, erkennen wir daran, dass das, was «dick» und was «dünn» ist, sich am laufenden Band ändert. Wir tun so, als wären das absolute Markierungen und jedem klar, wo die Grenze ist, dabei ist das völlig unklar. «Dicksein ist ein Konstrukt », sagt die Autorin und Fettaktivistin SchwarzRund, «was am einen dick ist, ist am anderen richtig.» Die Idee, was Schlanksein sein soll und wie es bewertet wird, veränderte sich im Lauf der Zeit mehrmals und abhängig von Ort und Kontext. Bis heute gibt es dazu keinen Konsens, auch wenn wir häufig so tun. Die allbekannten Rubensfrauen können nicht ohne Weiteres als Beweis dafür herhalten, dass «früher» dicke Figuren in Mode waren, aber sie zeigen, wie sehr sich die Idee davon, was schön ist, ändern kann.

In ihrer #BlackFatBellyLove- Ringvorlesung forderte die Fettaktivistin und Politologin Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum uns auf, «schöne Frau» zu googeln und die Bilder kritisch anzuschauen: alle Frauen sind weiss, sehr schlank, jung und makellos. Diese starke Limitierung unseres Schönheitsideals ist von Rassismus und Kolonialismus geprägt und sie schliesst alle Körper, die nicht weiss, nicht jung, nicht «schlank» und nicht «makellos» sind, aus. Aber warum muss das so sein?

Historische Hintergründe von Fettphobie und Schlankheitsfetisch

Sabrina Strings studiert die historischen Hintergründe von Fettphobie und Schlankheitsfetisch in ihrem hervorragenden Buch «Fearing the Black Body – The Racial Origins of Fat Phobia » von 2019. Sie deckt auf, dass zwei Entwicklungen zu unserer heutigen Ablehnung von Dicksein führten: der transatlantische Sklavenhandel sowie der erstarkende Protestantismus. Auch davor gibt es natürlich Hinweise auf die Ablehnung von Fettheit, aber erst mit diesem Unterbau konnte daraus eine allumfassende, diskriminierende Kultur, eine Diätkultur werden. Rassistische Theorien wurden – oft von Europäern – erfunden, um den für sie profitablen Sklavenhandel zu rechtfertigen. Schwarze Menschen werden darin zu minderwertigen Menschen erklärt, weswegen ihre Ausbeutung unproblematisch sei. Auf vielen Seiten wurde diese gewaltvolle Idee anhand pseudowissenschaftlicher Methoden detailliert argumentiert. Ein Aspekt davon war, Fettsein mit «gierigen», «wilden» «Afrikanerinnen und Afrikanern » zu verbinden. Auf der anderen Seite schlägt der Protestantismus zunehmend vor, dass übermässiges Essen sündhaft ist.

Sie weigern sich, sich zu schämen. Sie weigern sich, sich zu verstecken. Und vor allem haben sie genug davon, angestarrt, ausgelacht und auf Social Media Objekte des Spottes und des Hasses zu sein. Für ihr Projekt «I Am Fat» hat die preisgekrönte dänische Dokumentarfotografin Marie Hald (33) junge skandinavische Frauen porträtiert, die darauf bestehen, sie selbst zu sein – und das, was sie nunmal sind: dick.

Europäische Eliten und weisse Amerikaner beginnen, Fettphobie zu nutzen, um sich moralisch überlegen zu fühlen und sich von den vermeintlich zügellosen und deswegen fetten «Anderen» abzusetzen. Gerade in den USA verbanden sich diese Ideen im frühen 19. Jahrhundert, und daraus erwuchs – ganz kurz gesagt – unsere heutige Diätkultur. Im frühen 20. Jahrhundert kommt dann, so Strings, die Überbewertung des «schlanken Ideals» hinzu, das gerade für weisse Frauen relevant wird. Diese holen sich ihre Abnehmtipps gern aus dem viktorianischen England, um damit ihre religiöse Erleuchtung und rassistische Aufwertung zu demonstrieren. Erst jetzt beginnt die Medizin, sich gegen Fettheit zu engagieren. Die kalifornische Ärztin Lulu Hunt Peters veröffentlichte 1918 den ersten Diät-Bestseller «Diet and Health: With Key to the Calories» und schrieb das Buch, als wäre es selbstverständlich, dass alle Frauen Gewicht verlieren wollen. Denn wer dick ist, ist unmoralisch, hat keine Selbstkontrolle, ist gar unpatriotisch, und das ist inakzeptabel, so Hunt Peters. Als potentes Mittel schlägt sie als Erste das Zählen von Kalorien vor.

Rassistische und religiöse Ideen

Sabrina Strings fasst es so zusammen: Fettphobie und die Angst vor der imaginierten «fetten schwarzen Frau» basieren auf rassistischen und religiösen Ideen und sind nicht nur entstanden, um schwarze Frauen zu degradieren, sondern auch, um weisse Frauen zu disziplinieren. Ihr Buch geht in die Tiefe dieser spannenden Geschichte, die so anders ist, als ich sie mir vorgestellt hatte.

Wenn du meinem Teenager-Ich die Frage gestellt hättest, was es denn unter Schlanksein versteht, hätte es mit Sicherheit jede Menge Ausschnitte aus Zeitschriften geholt und dir Bilder von Meg Ryan («Schlaflos in Seattle»), Winona Ryder («Reality Bites») und Chloë Sevigny («Kids») gezeigt. In meinem Tagebuch von 1992 klebt ein Foto, das Kate Moss mit knochigem Brustkorb, weissem Tanktop, Zigarette und verruchtem Blick zeigt. Darüber schrieb ich mit einem fuchsiafarbenen Glitzerfilzstift «Kate» und ein Herzchen. Zu diesem Zeitpunkt war sie 17, ich 15 Jahre alt. Wir waren beide Teenager. Ich magersüchtig in meinem Dorf, sie auf dem Weg zum gefeierten Size-Zero-Topmodel. Der Taillenumfang von Size Zero entspricht übrigens dem durchschnittlichen Umfang eines 8-jährigen Mädchens.

Ideale können sich innerhalb von Jahrzehnten ändern

Meine Idee von Dünnsein ist von den Neunzigerjahren geprägt, in denen schmale Hüften, kleine Brüste und flache Bäuche im Vordergrund standen. Gross geworden bin ich mit dem Ideal der 80er, geprägt von Jane Fondas Aerobic Body und dem «gesunden» Look von Supermodels wie Cindy Crawford. Als deren Tochter Kaia Gerber 2017 das erste Mal auf den Laufsteg trat, war ihr Körper viel schmaler als der ihrer berühmten Mutter damals. Dass dieses Ideal sich schon innerhalb von Jahrzehnten ändern kann, ist deprimierend. Wer soll da mitkommen? Wer sich in den 90ern Richtung «Heroin Chic» hungerte, wäre jetzt, da runde Pos auf einmal «angesagt» sind, richtig schlecht dran.

Es gibt einen grossen Motivator, uns immer wieder glauben zu lassen, dass die Arbeit an unserem Körper nie beendet ist, weil es immer etwas zu verbessern gibt: Geld. Die Diätindustrie macht in Europa geschätzt hundert Milliarden Euro Umsatz pro Jahr. Den macht sie, weil wir überzeugt sind, dass wir fehlerhaft sind. Das Schönheitsideal soll dabei möglichst unerreichbar sein, denn das konstante Empfinden von vermeintlichen Makeln ergibt einen konstanten Bedarf nach helfenden Produkten. Wir brauchen den Detox- Shake, die Fit-Watch, die Kalorienzähl- App, die Kettlebells, den Proteinriegel und den Waist-Trainer.

Wenn die Diät vorbei ist, kommt das Gewicht zurück

Wenn die Diät vorbei ist, kommt das Gewicht zurück, denn wenn du deinem Körper einige Zeit Nahrung vorenthalten hast, wird er sie danach wieder einfordern und einlagern. Von den Gefühlen der Schuld und Scham darüber, dass du es nicht hinbekommen hast, profitiert wieder die Diätindustrie, weil sie dir einen neuen, total überzeugenden Vorschlag machen kann. All jene, die dich immer wieder überzeugen wollen, dass dein Körper nicht richtig ist, verdienen mit deinem niedrigen Selbstbewusstsein Geld. Richtig viel Geld. Wir denken, wir sind unglücklich, weil wir nicht gut aussehen. Aber in Wahrheit ist gar nicht gewollt, dass wir rundum glücklich sind. Sonst würden wir ja nicht mehr so viel Geld für Dinge ausgeben, die uns angeblich glücklich machen.

«Die Diätindustrie macht in Europa geschätzt hundert Milliarden Euro Umsatz pro Jahr»

In den letzten Jahren gingen die Umsätze der Abnehmindustrie zurück, als Konsequenz davon erfinden sich die grössten Player neu: Weight Watchers wird zu WW, die «Brigitte-Diät» heisst jetzt «Brigitte-Balance» (weil sie neben Ernährung und Bewegung auch Meditation beinhaltet) und «FDH» Intervallfasten. Alter Wein in neuen Schläuchen. Alle verdienen damit Geld, dass wir uns schlecht fühlen. Anders schlecht, aber auf jeden Fall schlecht.

Es gibt etliche Beispiele für den Erfindungsreichtum der Branche. Nehmen wir Cellulite, die harmlosen Wellen auf den Fettreserven, die jahrhundertelang in Ruhe gelassen wurden, bis die französische Kosmetikindustrie sie in den 1930ern als Einnahmequelle entdeckte und anfing, «Gegenmittel» zu verkaufen. Magazine waren schnell dabei, diesen neuen Makel zu propagieren. 1968 hiess es dann in der US-«Vogue»: «Cellulite, the new word for fat you couldn’t lose before.» Es gibt überhaupt keinen medizinischen oder sonstigen Grund, gegen sogenannte «Orangenhaut» vorzugehen. Ausserdem ist es ziemlich erfolglos, die wenigsten Behandlungen haben den versprochenen Effekt. Aber dennoch: 2015 wurden fast eine Million Tiegel Anti-Cellulite-Crème in Frankreich verkauft. Was wir gemeinhin als schön empfinden, wurde jahrzehntelang in unsere Gehirne gepresst.

Schönsein wird uns schon früh eingetrichtert

Ist es wirklich Zufall, dass wir alle einen schlanken Körper, haarfreie Beine, ein faltenfreies Gesicht und einen fettfreien Körper wollen sollen? Die Diätkultur zeigt sich in vielen Aspekten unseres Lebens. Wie wichtig es ist, schön zu sein, wird kleinen Kindern, besonders Mädchen, früh eingetrichtert. Schneewittchens Stiefmutter befragt ihren Zauberspiegel, wer die Schönste im ganzen Land sei (und will ihre Tochter ermorden, weil «der Spiegel » diese krönt – von wegen female competition …). Justus von den «Drei Fragezeichen» wird in wirklich jedem Band als «Dickerchen» aufgezogen. Barbies und Bratz Dolls wären mit ihren überlangen Beinen und superschmalen Taillen als «echte Menschen» nicht überlebensfähig. Auf der Leinwand begegnet uns die «Dicke» als verzweifelt Schokolade essende Singlefrau («Bridget Jones»), schreiend lustige Ulknudel (Melissa McCarthys Rolle in «Bridesmaids») oder als tragische Figur, die sich ihr Gewicht aus Kummer angefressen hat (Chrissy Metz’ Rolle in «This Is Us»).

«Ist es wirklich Zufall, dass wir alle einen schlanken Körper, haarfreie Beine, ein faltenfreies Gesicht und einen fettfreien Körper wollen sollen?»

Während Köche gern ihren runden Bauch präsentieren, fällt mir keine Fernsehköchin ein, die dasselbe tun würde. Oder eine Werbung, in der ein dicker Körper nicht Zielscheibe des Spottes ist. Wieso gab es so einen Aufschrei, als die belgische Gesundheitsministerin Maggie De Block ihr Amt antrat? Warum bekommen Schauspieler Oscars für radikale Abnahme (oder Zunahme, aber nur wenn das Gewicht bis zum roten Teppich wieder weg ist)? Wieso gibt es nicht ganz selbstverständlich überall Sitzgelegenheiten auf denen auch grosse Körper eingeladen sind, Platz zu nehmen? Wieso werden dicke Menschen in Flugzeugen wie Aussätzige behandelt? Warum können Comedians Witze über dicke Menschen machen, und alle lachen mit? Diätkultur ist allgegenwärtig und berührt alle Bereiche unseres Lebens. Sie in ihrer Gesamtheit zu beschreiben, ist schwierig, weil sie so komplex, diffus und oft widersprüchlich ist. Das macht es so schwer, ihr beizukommen. Aber der Versuch lohnt sich!

Dieser Text stammt aus dem Buch «Body Politics» von Melodie Michelberger (eigentlich Melanie Jaske), das vor Kurzem im Rowohlt-Verlag erschienen ist. Michelberger (45) hat als Redaktorin für «Gala» und «Brigitte» gearbeitet und engagiert sich auf Instagram für die Akzeptanz verschiedener Körper.

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