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Eine Liebeserklärung an die Verwandtschaft

LGBTQIA+

Eine Liebeserklärung an die Verwandtschaft

Ob Wahl oder biologisch – eine weihnachtliche Liebeserklärung an die Menschen, zu denen wir irgendwie gehören.

Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens sass ich jeweils am 25. Dezember an einem langen Tisch in einer Stube mit niedriger Decke. Meine Cousins, Cousinen, Tanten, Onkel, Eltern, Schwestern, meine Grossmutter und ich. Im Laufe des Abends wurde es heiss und stickig. Spätestens beim Hauptgang (Rahmschnitzel, Butternudeln, Erbsen, Rüebli), für den meine Grossmutter den Tag in der Küche verbracht hatte, riss jemand das kleine Fenster auf, sodass kalte Winterluft hereinströmte.

Nach dem Dessert (Viennetta-Glace, Schlagrahm aus der Dose) sangen wir Weihnachtslieder und Schlager. Als Kind war «Marmor, Stein und Eisen bricht» mein Lieblingslied. Meine Grossmutter organisierte die Feste, bis sie fast neunzig Jahre alt war. Auf der Rückfahrt im Auto waren wir ziemlich am Ende. Eigentlich war alles zu viel: der Geräuschpegel, das Essen, die niedrige Decke, die vielen Leute, die man ein-, zweimal im Jahr sah, um dann mehrere Stunden dicht nebeneinander in einem Raum mit minimaler Frischluftzufuhr zu sitzen. Es war unendlich gemütlich und unendlich eng.

Mit niemandem so unnachgiebig wie mit Angehörigen

Um Weihnachten herum verbringen viele von uns Zeit mit ihren Verwandten. Entsprechend oft regen wir uns über sie auf – über die veralteten Rituale, über diesen einen Onkel und am meisten wohl über uns selbst, weil wir nie so sensibel sind wie an Weihnachten und mit niemandem so unnachgiebig wie mit unseren Angehörigen.

Aber eine lebende Verwandtschaft zu haben, mit der wir einigermassen klarkommen – die uns nicht ablehnt, von der wir nicht unheilbar verwundet wurden –, ist ein grosses Glück. Irgendwann habe ich deshalb angefangen, die Verwandtschaften meines Lebens mit mehr Zärtlichkeit zu betrachten.

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«Die biologische Familie ist nicht die einzige, die wir haben können»

«Verwandtschaft», das klingt weniger dogmatisch, weniger beladen mit bürgerlichen Glücksversprechen als «Familie». Das Wort Verwandtschaft impliziert Weitläufigkeit und Unübersichtlichkeit. Verwandtschaft ist unerschöpflich. Die meisten Leute kennen gar nicht all ihre Verwandten. Deswegen muss man sie auch nicht alle innig lieben. Man kann sie einmal die Woche sehen oder einmal im Jahr. Verwandtschaftliche Beziehungen sind vielfältig, das Gemeinsame ist, dass sie uns über lange Zeit begleiten, manchmal unser ganzes Leben. Verwandte, das sind die Leute, zu denen man – wohl oder übel – irgendwie gehört.

Noch einmal tanzen vor Weihnachten

Am Wochenende vor Weihnachten, bevor ich in die S-Bahn steige und zu meinen Eltern aufs Land fahre, gehe ich noch einmal tanzen. An die sogenannte Weihnachts-Offstream, eine Zürcher Party für Schwule, Bisexuelle, Lesben und trans Menschen, eine Party mit langjähriger Tradition. In der Weihnachtszeit gibt es viele queere Partys. Nicht alle von uns haben die Möglichkeit, die Festtage mit ihren biologischen Familien zu feiern – bei manchen ist das Verhältnis schmerzhaft, kompliziert oder abgebrochen.

Ausserdem kehren an Weihnachten viele von uns in die Dörfer zurück, in denen wir unsere Kindheit verbracht haben. Das spült potenziell schwierige Erinnerungen hoch, unabhängig davon, wie wir zu unseren Eltern stehen. Queere Menschen wissen, dass eine biologische Familie, die dich liebt, keine Selbstverständlichkeit ist – und dass sie nicht die einzige Familie ist, die wir haben können.

Eine weitere Verwandtschaft dazugewonnen

Nicht umsonst fragen wir, wenn wir mutmassen, ob eine Person vielleicht gay ist: «Gehört die zur Familie?» Mit der queeren Community habe ich eine weitere Verwandtschaft dazugewonnen. Unser Zusammenhalt kommt aber nicht nur von geteilten Diskriminierungserfahrungen. Sondern daher, dass wir ein Stück weit miteinander aufwachsen, eben wie Verwandte. Viele andere Queers kenne ich ungefähr seit meinem Coming-out, und das ist vergleichbar mit der Pubertät: Du entdeckst dich selbst im Spiegel der anderen.

Vielleicht musst du dich in einem feindseligen Umfeld behaupten. Vielleicht hast du zum ersten Mal die Art von Liebeskummer, die deine ganze Existenz infrage zu stellen scheint. Du lernst, dass du deine Freund:innen brauchst, um den Schmerz zu überstehen. Aber nicht nur die engsten: Du brauchst auch die Hilfe von denen, die dir auf der Toilette ein Taschentuch reichen oder dich zum Tanzen mitnehmen. In der Community wissen wir besonders gut, wie kompliziert und schön Liebe und Begehren sind. Wir kennen unsere Verletzlichkeit, deswegen sind wir auf die eine oder andere Art füreinander da.

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«In einem Club zu sein bedeutet für viele Freiheit – für mich das Gegenteil: Geborgenheit»

Die Szene Zürichs ist zu klein, um einander wirklich aus dem Weg zu gehen. Deswegen begegnet man sich immer wieder, auf Partys, in einer Bar, vielleicht auf Demos. Manchmal ist es fast ein bisschen wie damals bei meiner Grossmutter im Wohnzimmer: Es ist schön, aber ab und zu muss man rausgehen und tief durchatmen.

Wenn Heteros kulturpessimistisch über Hyperindividualismus und Vereinzelung klagen, über den Verlust von Gemeinschaft, denke ich häufig: Immerhin dieses Problem habe ich nicht – ich sehe auf den gleichen drei Partys immer ungefähr die gleichen Leute, fast so, wie man sich früher wohl in der Kirche begegnet ist. Nicht alle sind meine besten Freund:innen. Aber alle haben einen Platz in meinem Herzen. Die meisten umarme ich zur Begrüssung, wir tauschen ein paar nette Worte aus, ein Kompliment, einen ritualisierten Flirt.

Die Wärme mitnehmen

Diese Gleichförmigkeit erdet und stabilisiert mich. Ich habe das Gefühl, einen Platz zu haben in der Welt – keinen fixen Platz in einer engen Gemeinschaft, sondern einen Stehplatz in der weiten Strömung meiner queeren Verwandtschaft.

Es ist kurz vor Weihnachten. Ich betrete den Raum durch einen Vorhang aus Lametta, lege meine Jacke auf einen Stapel anderer Jacken. Auf der Tanzfläche halte ich nach meinem besten Freund Ausschau, wir nehmen uns in den Arm, dann erklingen die ersten Takte von «All I Want for Christmas» von Mariah Carey.

Nähe, Geborgenheit, Zuhause-Sein

Wir tanzen und tanzen, dann kommt wieder ein guter Song und wir bleiben immer noch ein bisschen länger, bis die Gläser leer sind. In einem Club zu sein bedeutet für viele Menschen Freiheit. Für mich bedeutet es in diesem Moment das Gegenteil – Nähe, Geborgenheit, Zuhause-Sein.

Heimeligkeit, dieses eigenartige Gefühl, nach dem wir uns gegen Ende des Jahres zu sehnen scheinen, ergibt sich gerade dadurch, dass wir etwas zu nahe beieinander stehen, etwas zu viel Zeit miteinander verbringen.

Kann jemand das Fenster aufmachen? Können wir kurz raus, zusammen eine Zigarette rauchen?

Diese Enge, die eben auch Zugehörigkeit bedeutet, können wir eigentlich gerade gut gebrauchen. Vor allem im Januar dann, diesem Nicht-Monat, wenn die Zeit der Feste vorbei ist und sich Schwermut ausbreitet. Vielleicht können wir ein bisschen Verwandtschaftsabwärme ins neue Jahr hinüberretten: die Kerzen etwas länger brennen lassen, etwas näher zusammenrücken. Bis es draussen wieder heller wird.

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