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«Es hilft, offen mit der Krankheit umzugehen»: Wie es ist, mit Depressionen zu leben

Gesundheit

«Es hilft, offen mit der Krankheit umzugehen»: Wie es ist, mit Depressionen zu leben

Unsere Autorin hat seit zwei Jahren Depressionen. Wie es sich anfühlt, damit zu leben – und was ihr hilft, um das Gefühl des Dauer-Scheiterns zu umgehen.

Inhaltshinweis: Psychische Erkrankungen, Suizidgedanken

 

«Papa, ich will sterben», will ich sagen. Oder: «Mama, ich halte mich selbst nicht aus.» Stattdessen lüge ich ständig. Es gehe mir gut, alles sei in Ordnung. Doch das ist es nicht. Ich habe Depressionen und gehe unter.

Zum Peak meiner Depression lebe ich in Kalifornien. An einem Tag im Sommer liege ich bei 27 Grad am Strand, löffle eine Acai Bowl, schlürfe Mangosaft. Dann fange ich an zu heulen und kann nicht aufhören. Mein Leben will mir einfach nicht gefallen. Es fühlt sich unmöglich an, ich zu sein. Während die kalifornischen Beach-Babes vor mir surfen, ertrinke ich in mir. Ich bin erschöpft, kann nicht atmen, alles ist trüb und in mir flammt Panik auf.

Warum kann ich mich nicht mehr anstrengen?

Über Monate bin ich überzeugt, jeden zu enttäuschen. Meine Familie, mich, die Arbeit, selbst meinen Hund. Warum kann ich mich nicht mehr anstrengen? Ich schlafe entweder zu viel oder zu wenig. Bis elf Uhr liege ich morgens im Bett. Mindestens. Jeden Tag. Dann nagt der Selbsthass so sehr an mir, dass ich aufstehe. Der einzige Grund, das Bett hinter mir zu lassen, hat struppiges Fell, wedelt unaufhörlich mit dem Schwanz und muss Pipi.

Alles strengt mich an. Zähne putzen? Fühlt sich an wie ein vierstündiges Bootcamp mit Drill-Instructor. Duschen? Wenn, dann tue ich das im Sitzen. Ernsthaft. Ich weine ständig, dabei bin ich nicht traurig. Meine Gefühle haben ihren eigenen Willen. Ich fühle mich in mein Scheitern getränkt, bin überzeugt, jede:r kann es sehen und riechen.

Die Einzimmerwohnung wird zur Festung

Am Tiefpunkt bestelle ich an 20 Tagen im Monat Take-out. Dabei schmeckt mir nichts. An den restlichen zehn Tagen esse ich nichts. Die Hungertage sehe ich als Selbstbestrafung für meine Faulheit, nicht selbst zu kochen. Ich schlafe, arbeite, esse, schlafe. Meine Einzimmerwohnung ist eine Festung ohne Fenster und Türen.

Ich treffe niemanden, will niemanden sehen, will nirgendwo hin. Überall herrscht Gute-Laune-Zwang. Ich antworte nicht auf Nachrichten, ignoriere Anrufe. Ich vereinsame absichtlich und fühle mich, als würde ich meine Freund:innen und Familie damit verraten. Ich bin überzeugt, dass mich keiner wirklich kennt und ich niemanden kenne. Ich könnte unbemerkt aufhören zu existieren.

Isolation, Schuldgefühle, Schlafstörungen

Eine Freundin taucht trotzdem immer wieder unangekündigt an meiner Haustür auf. Wie eine Fruchtfliege, die von verrottendem Obst angezogen wird. Nur plagt sie ihre faulende Freundin. Es ist unmöglich, sie loszuwerden. Wir machen gemeinsam den stinkenden, sich stapelnden Abwasch und reden. Sie rät mir, zur Therapie zu gehen. Immer wieder.

Meine Beschreibungen bis hierhin lesen sich wie eine Symptom-Checkliste. Isolation? Check. Suizidgedanken? Check. Schuldgefühle? Check. Schwarzsehen? Check. Appetitlosigkeit? Check. Schlafstörungen? Check. Mangelndes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen? Check.

Für mich war das lange nicht erkennbar. Es hat mich Monate gekostet, einen Termin bei einer Psychologin zu machen. Ich hatte keine Kraft und keine Nerven, eine zu suchen. Ausserdem war ich mir sicher, dass es so schlimm nicht sei. Meine ersten Worte zu ihr: «Ich glaube nicht, dass ich hier sein sollte. Den Platz hat jemand anderes verdient.» Dennoch bleibe ich monatelang in Therapie, nehme Antidepressiva, lasse die Fruchtfliegen-Freundin öfter vorbeikommen.

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«Es sind die kleinsten Dinge, die mir helfen, wieder ein bisschen atmen zu können»

Schritt für Schritt versuche ich, wieder existieren zu wollen. Was mache ich gerne? In der ersten Therapiestunde fällt mir darauf keine Antwort ein. In der dritten erinnere ich mich, dass ich gerne lese, Yoga und guten Kaffee mag. Es sind die kleinsten Dinge, die mir helfen, wieder ein bisschen atmen zu können.

Damals war ich gerade 25, es war 2021. Ich bin nicht allein mit meiner Depression: Es war das Jahr, in dem in der Schweiz die Zahl der Patientinnen in psychiatrischen Institutionen in die Höhe schoss. Zahlen des Bundes beziffern einen beispiellosen Anstieg der Hospitalisierungen wegen psychischer Probleme bei jungen Frauen.

Weltweit sind rund 322 Millionen Menschen betroffen

Bei 10- bis 24-jährigen Patientinnen stieg die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um 26 Prozent. Bei gleichaltrigen Männern beläuft sich der Anstieg auf rund sechs Prozent. Die aktuellen Zahlen zeigen, dass 60 Prozent der 19 532 10- bis 24-Jährigen, die 2021 in der Schweiz in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurden, Frauen sind. Weder kann ich sagen, warum Frauen statistisch betroffener sind, noch weiss ich, wieso ich Depressionen habe.

Was ich weiss, ist, dass die Zahlen steigen: Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass weltweit rund 322 Millionen Menschen betroffen sind. Trotzdem gehören depressive Störungen zu den unterschätztesten Erkrankungen. Dabei ist eine Depression im medizinischen Sinn wie jede andere Krankheit behandlungsbedürftig – und sie kann jede:n treffen.

Die Ursachen sind nicht ausreichend erforscht. Es gibt nicht den einen Grund, warum man erkrankt. Man geht von einem Zusammenspiel verschiedener Ursachen aus. Ich habe Monate verschwendet, nach Gründen zu suchen, warum ausgerechnet ich betroffen bin. Monate, in denen ich grübelte, brütete und leise kämpfte, statt zur Therapie zu gehen.

Mini-Check-ins helfen im Alltag

Zwei Jahre später sind meine Depressionen immer noch da, aber sie sind aushaltbarer. Ich bin netter zu mir, sehe mich selbst nur noch selten als fauliges Stück Obst. Ich horche ständig nach und überlege, was ich brauche. Würde es mir helfen, heute eine Stunde länger zu schlafen? Oder wäre ein Spaziergang besser? Habe ich in letzter Zeit irgendetwas Nahrhaftes zu mir genommen? So niedergeschrieben klingen diese Mini-Check-ins mit mir selbst lächerlich. Aber es ist ein feingliedriges Konstrukt. Ein paar Brokkoliröschen zu essen und eine Runde spazieren zu gehen, heilen keine Depression – aber mir hilft die Daueranalyse meines Verhaltens.

Ich erinnere mich ständig daran, dass ein mieser Start in den Morgen keinen schlechten Tag – und keine katastrophale Woche – bedeuten muss. Zur Peak-Zeit war ich überzeugt, dass ich selbst schuld bin, wenn ich depressiv im Bett liegen bleibe. Würde ich zu einer Freundin so hart sein, wenn sie an meiner Stelle wäre? Sicher nicht. Diese Frage hilft mir, mich nicht zu hassen, wenn ich mir morgens die Decke über den Kopf ziehe. Will ich morgens noch der Welt entfliehen, kann ich mittlerweile abends munter mit Freund:innen Espresso-Martinis schlürfen.

Anstrengend, aber meistens okay

Es hilft mir, offen mit der Krankheit umzugehen. Meinen Liebsten zu sagen, wenn es mir nicht gut geht, fühlt sich trotzdem an wie Dauer-Scheitern. Aber durch den Austausch kann ich mich und meine Gefühle aus anderen Perspektiven sehen. Meine Familie und Freund:innen haben sich als begabte Zuhörer:innen entpuppt. Sie verstehen mich, kennen mich und zeigen mir, dass ich nicht so allein bin, wie ich dachte.

Mit Depressionen zu leben, ist regelmässig scheisse und oft anstrengend, aber mittlerweile meistens okay. Ich habe gelernt, dass ich jeden Tag jederzeit neu anfangen kann. Mein wackeliges Hilfskonstrukt der Mini-Check-ins wird zu gesunden Routinen führen. In den letzten zwei Jahren sind mir noch mehr Dinge eingefallen, die ich gerne mache. Mein Hund muss immer noch ständig Pipi, kommt aber meistens vor 11 Uhr raus. Heute ertrinke ich nur noch selten in mir. Und kann sagen: «Papa, ich will nicht sterben und Mama, ich halte mich aus.»

Hast du Suizidgedanken, willst du mit jemandem reden oder kennst du Betroffene, die Hilfe benötigen? Hier findest du Hilfe:

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